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Welches Geschichtsbuch brauchen Europäer im 21. Jahrhundert? Das Beispiel des Schulbuches „Europa. Unsere Geschichte / Europa. Nasza historia“

Die Schule allgemein und der Geschichtsunterricht insbesondere sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu Instrumenten nationaler Politik geworden, die in den jeweiligen Ländern konstruiert werden und entsprechend zum Einsatz kommen. Die Rahmenbedingungen des Geschichtsunterrichts orientieren sich dabei stets an nationalen Konzepten und Prinzipien. Dadurch entstehen verschiedene Narrative, die einerseits die Multikulturalität Europas zeigen, anderseits aber oft auch falsche oder missverständliche Informationen über die Nachbarstaaten enthalten. Dies steht häufig im Widerspruch zur Idee von der europäischen Integration, die nach größerem Verständnis und spezifischerem Wissen über die Mitglieder der europäischen Gemeinschaft verlangt. Es ergibt sich also die Frage, wie sich das Nationale und das Europäische in einen Dialog bringen lässt, ohne dass das eine oder andere verloren geht?

Eine Antwort auf diese Herausforderung ist die vierbändige Schulbuchreihe Europa. Unsere Geschichte / Europa. Nasza historia für die Sekundarstufe I in Deutschland und die Grundschule in Polen. Das Schulbuch ist dank des Dialogs im Rahmen der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission entstanden. Ihre Tätigkeit hat die Kommission 1972 aufgenommen und ist seither einer der wichtigsten Akteure des gesellschaftlichen Dialogs zwischen beiden Ländern und zudem international ein Markenzeichen bilateraler Kooperation. Die Arbeit der Schulbuchkommission sowie das Schulbuch selbst stoßen nicht nur in Europa auf sehr viel Interesse, sondern etwa auch in Südostasien. Sie ist weltweit die einzige bilaterale Kommission, in der Lehrkräfte aus beiden Ländern aktiv sind.

Das Schulbuchprojekt wurde finanziell von den deutschen und polnischen Regierungen sowie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (SdpZ) unterstützt und von einem deutsch-polnischen Verlagstandem – Eduversum und Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne (WSiP) – vorbereitet. Bis heute lässt sich nicht ganz eindeutig sagen, wer der eigentliche Ideengeber dieses Projekts war; es muss jedoch betont werden, dass dieses Projekt ohne die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Verlagen, Lehrkräften, Politikerinnen und Politikern sowie Beamtinnen und Beamten aus beiden Ländern nicht entstanden wäre. Mit der Gesamtkoordination wurden das Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig (GEI) und bis 2011 das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław betraut. Ab 2012 fungierte das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie (CBH PAN) als koordinierendes Institut auf polnischer Seite. An dieser Gremienstruktur lässt sich erkennen, dass dem Projekt von Anfang an eine hohe bildungs- und wissenschaftspolitische Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen beigemessen wurde. Beide Seiten haben damit ihren Willen bekräftigt, die historischen Erfahrungen des Nachbarlandes in die schulische Vermittlung von Geschichte miteinfließen zu lassen und den Wissenschaftsdialog über historische Themen zu vertiefen. Die Konzeption des Schulbuches wiederum basiert auf Empfehlungen, die im Rahmen der Schulbuchkommission explizit für dieses Projekt erarbeitet wurden. Die eigentliche Arbeit an den vier Bänden des Schulbuches in zwei identischen Sprachversionen dauerte von 2012 bis 2020.

Ziel des Projekts war es, ein bilaterales Schulbuch zur europäischen Geschichte auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes und der fachdidaktischen Methodik zu erarbeiten, wobei die Inhalte durch die vorgegebenen Curricula in beiden Staaten bestimmt waren. Dieses gemeinsame Schulbuch ist daher kein Ort der Konfrontation nationaler Geschichtspolitiken, zumal die Inhalte weit über das gegenwärtige geografische Territorium der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen hinausreichen. Die Texte sind dabei als eine Art Einführung in die Quellen konzipiert, die gleichzeitig einen breiteren historischen Kontext aufmachen als es für deutsche Schulbücher üblich ist, und mehr Quellen bieten als für gewöhnlich in polnischen Schulbüchern aufzufinden sind. Gemeinsam mit dem Text bilden die Quellen eine Einheit – mit dem Ziel, unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen. Daher beruht jeder Band des Schulbuchs auf zwei didaktischen Grundlagen – der Multiperspektivität der Quellen und der Strittigkeit der historischen Darstellung, sprich: die Darstellung verschiedener Interpretationen eines Ereignisses bzw. einer Persönlichkeit aus den jeweiligen Blickwinkeln von Historikerinnen und Historikern aus unterschiedlichen Regionen und Zeiten. Solch eine Auffassung hat nichts mit Versuchen eines „Relativismus“ oder gar eines „historischen Revisionismus“ gemein. Im Gegenteil konnte auf diese Weise vielmehr eine Simplifizierung historischer Zusammenhänge sowie deren Ideologisierung vermieden werden. Die dargebotenen Materialien schaffen damit eine Möglichkeit für die Schülerinnen und Schüler, Grundsätze historischen, kritisch-reflektierenden und nicht dogmatisch vorgeprägten Denkens zu entwickeln. Um die Vielfalt der Geschichte nicht nur in der Makro-, sondern auch der Mikroperspektive aufzuzeigen, enthält jeder Band Module einer exemplarisch dargestellten Regionalgeschichte. 

Den Schülerinnen und Schülern wird somit nahegelegt, Empathie für verschiede Perspektiven zu entwickeln, sich eigene Urteile zu bilden und konstruktiv mit Diversität umzugehen. Auf diese Weise möchte das Schulbuch „Europa. Unsere Geschichte / Europa. Nasza historia“ einen Beitrag zum deutsch-polnischen Dialog und ein stückweit auch zur europäischen Verständigung leisten. Und das tut es, indem es den Blick dafür schärft, wie Geschichte geschrieben und historische Erinnerung konstruiert werden, wobei es zugleich für die Gefahren sensibilisiert, die mit einem Missbrauch von Geschichtserzählungen zusammenhängen, und so eine auf kritischer Reflexion beruhende Orientierung in der Gegenwart fördert.

 

Der Beitrag ist eine gekürzte Version des Artikels:

Marcin Wiatr, Dominik Pick: Transnationale Ansätze. Eine bilaterale Sicht auf das deutsch-polnische Geschichtsbuchprojekt „Europa – Unsere Geschichte / Europa. Nasza historia“, in: Bildung und Erziehung 2 (2022), S. 164-186.

Disciplines

Slavic studies Sociology Translation studies Political science Literary studies Cultural studies Jewish studies History

Topics

German-Polish relations
Redaktion Pol-Int

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