Bahnhofsbuchhandlung Frankfurt (Oder). Ein Dreiergrüppchen kommt herein, schlendert um die Tische. Eine der beiden Frauen nimmt ein Buch in die Hand: „Die kenn ick! Wir haben damals zusammen im Halbleiterwerk gearbeitet.“ Ihre Begleiter*innen treten hinzu, betrachten die Fotografien und blättern gemeinsam durch das Buch mit dem Titel „Halbleiterstadt Frankfurt (Oder) 1959–1990“. Als Autorin des Beitrags mit den betreffenden Fotos freue ich mich natürlich über das Interesse der Gruppe. Und darüber, dass ich diese Szene zufällig beobachten konnte. Sie weist für mich auf verschiedene Dimensionen der Erforschung und Vermittlung von Zeit- und Transformationsgeschichte(n) hin, womit ich mich am Standort Frankfurt (Oder) beschäftige.
Wo sich Geschichts- und Sozialwissenschaften (noch) überschneiden
Genau das, was manchen vielleicht als Schwierigkeit oder Nachteil erscheint, sehe ich als besonderen Reiz und großes Potenzial der Beschäftigung mit Transformationsgeschichte(n): die Tatsache, dass es mehrere Erlebnisgenerationen mit stark nachklingenden biografischen Erfahrungen gibt, die häufig im Widerspruch zur öffentlichen Geschichtskultur stehen. Aus diesem Grund sind Sozialismus- und Transformationsgeschichte nicht nur in Deutschland und Polen ein spannungsvolles und gleichermaßen lebendiges Feld.
Christiane Kuller und Jörg Ganzenmüller, Professurinhaber*innen in Erfurt und Jena, sprechen von „der doppelten Herausforderung, auf tradierte Bilder von der SED-Diktatur aufbauen und zugleich den Anschluss an das bestehende zerklüftete Geschichtsbewusstsein finden zu müssen“, um eine Kluft zu vermeiden oder zu überbrücken. Im Grunde sollte dies auch auf Polen zutreffen, wo sich die Wissenschaft allerdings mit einer viel stärkeren Tabuisierung der Erfahrungsebene konfrontiert sieht, im Zusammenhang mit der starken Politisierung des öffentlichen Diskurses. Die Momente, in denen ein Brückenschlag gelingt (so wie in der Bahnhofsbuchhandlung), zählen zu den kleinen großen Erfolgen des Alltags. Dazu bedürfe es in der zeithistorischen Forschung und Vermittlung eines erfahrungsgeschichtlichen Fundaments, also Anschlussmöglichkeiten für den persönlichen Erfahrungsraum. Das bedeutet auch eine Art dialogische Forschung mit Zeitzeug*innen und -genoss*innen zu betreiben: Alltagswissen früh einzubinden und „mit gesellschaftlichen Debatten und erinnerungskulturellen Kontroversen“ zu verknüpfen – ein beidseitiger Transfer. Nein, der Zeitzeuge ist kein Feind, sondern in dieser Sache ein unerlässlicher Kooperationspartner der Historikerin! Dies für Forschung und Vermittlung ernstgenommen, sind Kompetenzen und Methoden der qualitativen Sozialforschung – also eine anthropologische Sensibilität für Kommunikation, zwischenmenschliche Beziehungen und Netzwerkpflege – unerlässlich.
Auf Identitätssuche
Transformationsgeschichte(n) als Erfahrungsgeschichte(n) zu erforschen und sichtbar zu machen, heißt auch Identitäten suchen, anerkennen und reflektieren. Es geht schließlich um vielschichtige gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Die Beschäftigung mit Transformationsgeschichte(n) kann daher zur besonderen Schnittstelle persönlicher oder lokaler Fragen werden, vielleicht mehr als in anderen Epochen und Bereichen. Als ein Beispiel kann die aktuelle Identitätswelle der „Dritten Generation Ost“ und der „Nachwendekinder“ im deutschen Diskurs gelten. Sie stellen als Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Publizist*innen neue Fragen an die jüngste Zeitgeschichte und die eigene Vergangenheit. Beispiel für eine außergewöhnliche ortsspezifische Konstellation aus kollektiven Erfahrungen und geopolitischer Funktion in Veränderung ist die Stadt Frankfurt (Oder). Hier galt es ab 1989/90 zusätzlich, den Umbruch, Verlust und Neubeginn, den die Grenzziehung 1945 bedeutet hatte, aufzuarbeiten und sich fremden (Erinnerungs)Kulturen anzunähern. Die heutige „Doppelstadt“ Frankfurt (Oder)/Słubice sowie die 1991 neugegründete Europa-Universität Viadrina stehen für ein neues Europa mit all seinen Ambivalenzen. Genau mit diesem Profil bewarb man sich als Stadt der Brückenbauer*innen im Standortwettbewerb um das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation und scheiterte als Favorit.
Eine unmögliche Universität*
Auf gewisse Weise ist die Viadrina ein Produkt, ein Prozess der postsozialistischen Transformation. Sie gilt als Sinnbild der deutsch-polnischen Annäherung, der Grenzanerkennung, das an keiner anderen Stelle diese fast avantgardistische Bedeutung transportieren konnte. So waren Lehre und Forschung von Beginn an ortsbezogen und beobachteten, begleiteten die Transformation der Stadt, der Grenzregion und Europas im Kleinen und Großen. Dieser Geist ist bis heute präsent. Anfang der Nullerjahre gründete sich der universitätsnahe Verein Institut für angewandte Geschichte – Gesellschaft und Wissenschaft im Dialog e.V. mit dem Ansatz, geschichtskulturellen, grenzüberschreitenden Transfer zu leisten. Inspiriert von der Lehre Karl Schlögels (Im Raume lesen wir die Zeit) prägten die Mitglieder den Diskurs um das gemeinsame historische Erbe der Grenzregion als „Terra Transoderana“.
Ein paar einstige Studierende oder junge Akademiker*innen aus den 1990er Jahren sind geblieben und bieten der Uni nun als Professor*innen Kontinuität im Umbruch bzw. transportieren eine besondere Sensibilität für „Land und Leute“. So auch das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien unter der Leitung von Prof. Dr. Dagmara Jajeśniak-Quast. Mittlerweile wird sie selbst als Zeitzeugin der Transformation befragt.
Bis heute stehen die Universität bzw. universitäre und universitätsnahe Einzelprojekte in engem Austausch mit regionalen Identitätsdiskursen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen.
Im Folgenden seien einige universitäre Transferprojekte zur neuesten Zeit- bzw. Transformationsgeschichte vorgestellt, an denen die Autorin beteiligt war und die sich durch besondere Kooperationen auszeichnen.
Stadt im Wandel
Das eingangs erwähnte Buch Halbleiterstadt Frankfurt (Oder) 1959–1990 ist bloß das Endprodukt eines längeren Forschungs- und Vermittlungsprozesses zum größten VEB Frankfurts zu DDR-Zeiten. Erstmals wurde die Betriebsgeschichte und Verflechtung mit der Stadt einschlägig ausgestellt – von einem Praxisseminar an der Viadrina. Der Prozess umfasste neben dem Sammeln deutscher und polnischer Arbeitsbiografien und dem Kartieren betriebsbezogener Erinnerungsorte ebenso die erstmalige Erschließung historischer Akten durch das Stadtarchiv Frankfurt (Oder), dem Ausstellungsort und Kooperationspartner des Projekts.
Kunst verbindet
Europa-Universität Viadrina, Große Scharrnstraße 59. Am anderen Ende der Straße, hinter dem zentralen Brunnenplatz und dem Marktplatz befindet sich eine 1987/88 nachverdichtete Fußgängerzone. Das prestigereiche, letzte große Bauprojekt vor der Wende wurde außergewöhnlich reich ausgestattet. Angeleitet vom Lehrstuhl für Denkmalkunde führten Studierende Interviews mit den Künstler*innen und bereiteten Erkenntnisse analog und digital auf – Kunst im Vorbeigehen. Darüber hinaus organisierten sie mit großer Unterstützung des städtischen Kulturbüros und der zuständigen Wohnbaugenossenschaft die Ausstellung Um Kunst eine Platte machen mit kulturellen Begleitveranstaltungen. Wertschätzung der künstlerischen Arbeit in der DDR und eine Sensibilisierung der Stadtgesellschaft und zuständigen Akteur*innen gingen hier Hand in Hand.
Aufarbeitung der Baseballschlägerjahre
Im 30. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution machte Christian Bangel mit dem Hashtag Baseballschlägerjahre die rechte Gewalt der Neunziger- und Nullerjahre in Ostdeutschland sichtbar, und stieß so die Aufarbeitung einer generationellen Erfahrung in Verbindung mit dem erstarkenden Rechtspopulismus an. Zu dem Zeitpunkt hatte der aus Frankfurt (Oder) stammende Journalist gerade ein Viadrina-Seminar unter dem Titel seines gleichnamigen, autofiktionalen Romans Oder Florida mitgeleitet. Die Studierenden führten Recherchen und Interviews zu Einzelaspekten der ostdeutschen Transformation durch (wie z.B. lokale Treuhand, Halbleiterwerk oder Frauenbewegung) und konnten ihre Ergebnisse und Überlegungen journalistisch verarbeiten.
Jüngst untersuchte ein weiteres studentisches Projekt rechte Gewalt und rassistische Angriffe auf internationale Studierende und Viadrina-Mitarbeitende. Mit der Ausstellung Grenzgewalt vermittelten die Studierenden Innenansichten aus der Universität und das Gesamtgefüge von Stadt, Öffentlichkeit und Universität zu dieser Zeit.
Das sind nur einige der vielen Transformationsgeschichte(n) an/mit der Europa-Universität Viadrina, die aber eines widerspiegeln und bekräftigen: den großen Mehrwert zeitgeschichtlicher Transferprojekte. Studierende und Forschende betreiben angewandte Wissenschaft, treten mit öffentlichen, zivilgesellschaftlichen und privaten Kooperationspartner*innen in Kontakt und begegnen nicht zuletzt auf persönlicher Ebene Menschen unterschiedlichster Hintergründe. Sie schaffen Räume der Erinnerung, Aufarbeitung und Identifikation, in denen sich nach der Frage: „Wo stehen wir und wie sind wir hierhergekommen?“ der Blick nach vorn anschließt: „Wie soll es weitergehen?“
* Titel einer Hommage an die Europa-Universität Viadrina anlässlich ihres 30. Geburtstages von Stephan Felsberg, Tim Köhler und Uwe Rada