Getreideähren und Grabeslichter zum Gedenktag an den Holodomor in L’viv 2013.
Am 30.11.2022 kam es im deutschen Bundestag aufgrund eines parteiübergreifenden Resolutionsantrages von CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der SPD zu einer aufsehenerregenden Abstimmungsdebatte, in deren Verlauf sich der deutsche Bundestag schließlich mit großer Mehrheit dafür entschied, den "Holodomor" als einen von Stalin verübten Genozid zu bewerten. Knapp zwei Wochen später beschloss auch das Europäische Parlament, den "Holodomor" als Völkermord zu bewerten. Doch im Unterschied zur politischen Beurteilung sorgt die Bewertung des "Holodomor" innerhalb der Geschichts- und Genozidforschung noch immer für Diskussionen. Diese Debatte ist vor allem auf Publikationen von James Earnest Mace und Robert Conquest zurückzuführen. Conquest ging sogar so weit, den "Holodomor" als eine Art "stalinistischen Holocaust" zu bezeichnen. Jedoch erweist sich dieser Vergleich nach Ansicht vieler Historiker:innen wie etwa Franziska Davies als höchst problematisch, weil dadurch ein Konkurrenzverhältnis zu den Opfern des Holocaust generiert und in Folge der Genozidbegriff als "Kampfbegriff" missbraucht werde.
Hinsichtlich der Ursachen und des Verlaufs ist es innerhalb der Geschichtsforschung mittlerweile unstrittig, dass der "Holodomor" nicht eine bloße Folgeerscheinung der gescheiterten sowjetischen Agrarpolitik, sondern ein vorsätzlicher staatlicher Massenmord war. Ursache hierfür war die Wahnvorstellung Stalins, dass die desolate Lebensmittelversorgungslage in der Ukraine nicht auf die staatliche Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, sondern auf eine gezielte bäuerliche Sabotagekampagne in der Getreidelandwirtschaft im Auftrag einer ukrainisch-nationalistischen Verschwörung zurückzuführen sei. In Folge kam es zu einem regelrechten Kriegszug gegen das Bauerntum, in dessen Verlauf neben den Getreideerzeugnissen auch sämtliche Saat- sowie Lebensmittelvorräte bei den in Ungnade gefallenen Bauern beschlagnahmt wurden und ganze ukrainische Bauerndörfer aufgrund von Hunger völlig ausstarben.
Der "Holodomor" im Spiegel des Völkerrechts
Betrachtet man jedoch die historischen Ereignisse vor dem Hintergrund der UN-Definition eines Völkermords, so ergeben sich einige Probleme, die ich im Folgenden skizzieren will. Grundsätzlich ist darin von Genozid bei Handlungen die Rede, welche "[…] in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören." Robert Kindler zufolge erweist sich allerdings bereits die Tatsache, dass die sowjetischen Machthaber zur gleichen Zeit nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Kasachstan und dem nördlichen Kaukasus eine bäuerliche Sabotagekampagne vermuteten und in Folge mit nahezu identischen Terrormaßnahmen reagierten, als historischer Umstand, welcher sich nur schwer mit der UN-Definition in Einklang bringen lässt. Darüber hinaus gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass in den bisher ausgewerteten Quellen keine direkte Tötungsabsicht Stalins gegenüber der ukrainischen Bevölkerung nachgewiesen konnte, welche gemäß Artikel 2, Absatz 1 der UN-Konvention als konstitutives Kriterium für einen Genozid gilt. Befürworter der Genozidthese verweisen wiederum auf die Tatsache, dass Stalin wiederholt ukrainische Hilfsanfragen und ausländische Hilfsangebote ausschlug und somit durch den gezielten Einsatz von Hunger als Terrorwaffe lebensfeindliche Bedingungen im Sinne von Artikel 2, Absatz 3 schuf. Laut Gerhard Simon sei der Verweis auf Kasachstan im Hinblick auf die Genozidthese unerheblich, da auch während des Holocaust nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, sondern verschiedene ethnische Bevölkerungsgruppen von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Die historische Genozidforschung
In Anbetracht dieser stark divergierenden Positionen hat sich Jörg Ganzenmüller intensiv mit der Problematik des "Holodomor" auseinandergesetzt, wobei er sich nicht auf die UN-Definition beschränkt, da diese keine ausreichende Differenzierung zwischen Massenmord und Genozid ermögliche. Nach Ansicht von Ganzenmüller gilt ein Massenmord erst dann als Genozid, wenn neben einen klar belegbaren und hier bereits dargelegten Vernichtungsvorsatz die Genozidopfer ihr Schicksal nicht selbst durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen können und sie darüber hinaus vom Täter einer speziellen Opferkategorie zugeordnet werden, die es zu vernichten gilt. Diese Kriterien dienen laut Ganzenmüller dazu, dem Morden eine Systematik zuzuschreiben, wodurch der Genozid von anderen Formen der Massentötung unterscheidbar bleibt. Überträgt man diese Kriterien auf Stalins Terrorkampagne in der Ukraine, so wird deutlich, dass die Opfer des "Holodomor" ihr persönliches Schicksal nicht beeinflussen konnten. Diese Behauptung lässt sich auch anhand des Vorgehens der Getreiderequirierungskommandos belegen, deren Aufgabe darin bestand, das von den ukrainischen Bauern vermeintlich unterschlagene Getreide aufzuspüren. Dabei konnten diese Kommandos entweder tatsächlich auf verstecktes Getreide stoßen, was die sofortige Verurteilung vor dem Schnellgericht und meistens auch die Verhängung der Todesstrafe nach sich zog, oder sie entschlossen sich trotz erfolgloser Durchsuchung zur Mitnahme sämtlicher Lebensmittelvorräte, was für die betroffenen Bauern de facto einem Todesurteil gleichkam.
Jedoch lässt sich aus dem von der sowjetischen Führung im Rahmen des "Holodomor" genutzten Feindbildes der "Kulaken" bzw. "Volksfeinde" laut Ganzenmüller keine Systematik ableiten. Dies liegt vor allem daran, dass es sich hier um ein künstliches Feindbild handelte, welches jedem Bauern willkürlich angeheftet werden konnte, der als echter oder vermeintlicher Gegner der Zwangskollektivierung galt. Überträgt man diese Argumentation beispielsweise auf das von den Nationalsozialisten angewandte Feindbild der "jüdischen Rasse", das wiederum die Grundlage für die Ermordung der europäischen Juden lieferte, ließe sich ebenfalls einwenden, dass aufgrund dieser künstlich geschaffenen Opferkategorie keine Systematik bei den Massenmorden festzustellen sei. Daher gilt es auch innerhalb der Genozidforschung als strittig, ob ein Massenmord nur dann als Genozid bewertet werden kann, wenn sich dieser gegen eine real existierende Opfergruppe richtet, oder ob dies auch gilt, wenn die Opferkategorie der Fantasie der Täter entstammte.
Laut Ganzenmüller gilt es zudem zu bedenken, dass eine grundsätzliche Akzeptanz von künstlich geschaffenen Feindbildern zu einem nahezu inflationären Gebrauch des Genozidbegriffs führen würde und in Folge der Massenmord nicht mehr vom Völkermord zu unterscheiden wäre. Aus diesem Grund gilt innerhalb der Genozidforschung ein Massenmord nur dann als Genozid, wenn es sich um eine real existierende Opfergruppe handelt. Jedoch gab es laut Ganzenmüller in der Ukraine keine Opfergruppe, welche sich selbst als "Kulaken" oder "Volksfeinde" betrachtete, während es im dritten Reich sehr wohl Menschen jüdischen Glaubens gab, welche sich mit dem Begriff "jüdische Rasse" identifizieren konnten. Diese Tatsache hatte auch zur Folge, dass dem Massenmord des "Holodomor" im Gegensatz zum Holocaust jegliche Vorhersehbarkeit fehlte und somit jeder Bauer Stalins Verfolgungswahn zum Opfer fallen konnte.
Fazit
Somit wird deutlich, dass es sich im Falle des "Holodomor" aus Sicht der historischen Genozidforschung eben nicht um einen gezielten Völkermord, sondern um einen beispiellosen und unsystematischen Massenmord zur Verhinderung einer – vor dem Hintergrund einer von Stalin eingebildeten nationalistischen Verschwörung – bäuerlichen Sabotagekampagne handelte. Zugleich stellt sich zum Ende hin aber auch die Frage nach dem Sinn der Genoziddebatte, zumal diese auch erhebliche Ressourcen innerhalb der Geschichtswissenschaften bündelt, welche ansonsten beispielsweise für die Erforschung der Dynamik des "Holodomor" verwendet werden könnten. Von daher verwundert es kaum, wenn etwa Anne Applebaum in ihrer 2019 auf Deutsch erschienenen Monografie Roter Hunger. Stalins Krieg in der Ukraine die Auffassung vertrat, dass die Frage, ob der "Holodomor" als Völkermord zu bewerten sei, eher zweitrangig sei. Nichtsdestoweniger gilt es an dieser Stelle auch zu bedenken, dass – mit Reinhard Veser gesprochen – nur mittels dieser Genoziddebatte "[…] eine Befreiung von den Narrativen der sowjetischen Geschichtsschreibung" möglich sei und dadurch schlussendlich auch ein würdiges Gedenken an den "Holodomor" ermöglicht werde.
Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars von Sven Jaros zu Konfigurationen ukrainischer Staatlichkeit an der MLU im Wintersemester 2022/2023 bzw. der damit verbundenen Hausarbeit. Wir danken Robert Kindler (Berlin) für die wertvollen Anmerkungen.
Weiterführende Literatur
Anne Applebaum, Roter Hunger. Stalins Krieg in der Ukraine, München 2019.
Svetlana Burmistr, Holodomor. Der organisierte Hungertod in der Ukraine, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermordes, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 61–86.
Robert Conquest, Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933, München 1988.
Jörg Ganzenmüller, Stalins Völkermord? Zu den Grenzen des Genozidbegriffs und den Chancen eines historischen Vergleichs, in: Sybille Steinbacher (Hrsg.), Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs. Frankfurt/NewYork 2012, S. 145–166.
Guido Hausmann, Holodomor, in: Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (Hrsg.), Was man über die Ukraine wissen sollte [30.06.2023], URL: www.youtube.com/watch (10.07.2023).
Stanislav Kul’čyc’kyj, Terror als Methode. Der Hungergenozid in der Ukraine 1933, in: Osteuropa 54/12 (2004), S. 57–70.
Larry May, Genocide. A Normative Account, Cambridge 2010.
Stephan Merl, War die Hungersnot von 1932–1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde sie bewusst im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt? in: Guido Hausmann/Andreas Kappeler (Hrsg.), Ukraine. Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates, Baden-Baden 1993, S. 145–166.
Gerhard Simon, Holodomor als Waffe. Stalinismus, Hunger und der ukrainische Nationalismus, in: Osteuropa 54/12 (2004), S. 37–56.
Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2014.