Ich möchte drei historische Aspekte benennen, die ein Licht auf Putins revisionistisches Konzept und somit auf die Bedeutung des am 24. Februar begonnenen Angriffs Russlands auf die Ukraine werfen sollen. Zunächst soll es um die gemeinsamen historischen Wurzeln beider Länder gehen. Zweitens will ich kurz das andeuten, was die Historiker als russisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte bezeichnen. Drittens aus aktuellem Anlass ein kurzes Wort zu den Grenzziehungen in der modernen Ukraine seit der Russischen Revolution. Aus dieser historischen Analyse möchte ich abschließend eine Prognose für die russischen Kriegsziele geben.
Beginnen möchte ich mit einem Zitat von Papst Franziskus rund ein Jahr nach dem russischen Einmarsch auf die Krim. Das Oberhaupt der katholischen Kirche wandte sich im Februar 2015 direkt an die Schwestern und Brüder der orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine:
„Ich denke an Euch, Brüder und Schwester in der Ukraine. Lasst uns zunächst beten für die Opfer, ihre Familien, und lasst uns den Herrn bitten, dass diese schreckliche Gewalt unter Brüdern so bald wie möglich aufhört. Denkt daran, dass ist ein Krieg zwischen Christen. Ihr alle teilt eine Taufe. Ihr kämpft gegen Christen. Was ist das für ein Skandal. Und lasst uns alle beten, denn Beten ist unser Protest vor Gott in Zeiten des Kriegs.“
Das Modell der Familie, das Papst Franziskus bemüht, hat eine starke Erklärungskraft. Es ist nicht zu leugnen, dass Ukrainer und Russen sprachlich, religiös und kulturell eng verwoben sind und dass beide Völker eine gemeinsame Geschichte verbindet. Der Papst-Appell richtete sich an die gemeinsame Identität als orthodoxe Christen seit der Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988.
Kiewer Rus – Russland - Ukraine
Die Kiewer Rus ist der Gründungsmythos der russischen und ukrainischen Staatsidee und ein wichtiger Bezugspunkt des kulturellen Gedächtnisses und des Nationalbewusstseins in beiden Staaten. Die alte Rus (‚russisches Land‘) war einer der großen Herrschaftsverbände des europäischen Hochmittelalters. Bereits unter dem Gründer, Fürst Wolodymyr Velikyj, erstreckte sich ihr Gebiet vom Dnepr bis zum Ladogasee. Russland, Belarus und die Ukraine befinden sich heute noch auf dem Gebiet der Kiewer Rus. Vom Namen Rus leiten sich die Ethnonyme der Russen und Weißrussen ab, außerdem die Namen Rusynen, Ruthenen und Kleinrussen, mit denen die Ukrainer mehrere Jahrhunderte lang bezeichnet wurden.
Russische und ukrainische Historiker streiten deshalb seit mehr als zwei Jahrhunderten um ihr Erbe. Während von russischer Seite die Kontinuität der Dynastie und der Kirchenorganisation betont wird, stützen sich die ukrainischen Historiker auf die Kontinuität des Raumes mit seinem Zentrum Kiew und seiner ostslawischen Bevölkerung. Die russische Seite versteht die Ukraine und die Ukrainer als Teile der eigenen Nationalgeschichte. Hingegen erhebt die ukrainische Historiographie den Anspruch einer eigenen, von Russland getrennten Geschichte.
Der Begriff Ukraine bedeutet eigentlich Grenzland und taucht in den Quellen seit dem Mittelalter als Bezeichnung für unterschiedliche Regionen der modernen Ukraine auf. Erst die ukrainische Nationalbewegung des 19. Jahrhundert setzte sich das Ziel, die Begriffe Ukraine und Ukrainer als Bezeichnungen der ethnischen Nation und der von ihren bewohnten Territorien durchzusetzen. Die Entwicklung beschleunigte sich in den Jahren 1905 und 1907 in den Grenzen des Russischen Reichs. Die Bezeichnung ‚ukrainisch‘ trugen dann der erste Nationalstaat der Jahre 1917 bis 1920, die Ukrainische Volksrepublik, ebenso die Ukrainische Sowjetrepublik seit 1923 und seit 1991 die unabhängige Ukraine. Russland ist demgegenüber verspätet. Von einem modernen Nationalstaat kann man für Russland erst seit 1991 sprechen.
Rivalisierende Nationenbildung
Folgt man dem Schweizer Historiker Andreas Kappeler, dann kann man das russisch-ukrainische Wechselverhältnis als eine bis heute andauernde Interaktion rivalisierender Projekte der Nationsbildung begreifen. Seit der Zarenzeit dominiert die Doktrin von Russland als transnationalem Reich, das dynastisch, autokratisch und orthodox regiert wird. Diese Doktrin bezog auch das sog. Südrussland, also die heutige Ukraine, ausdrücklich mit ein. Hier forcierten die Zaren und dann die Sowjets nach 1917 die Politik der Russifizierung in den ukrainischen Gebieten des Reiches, vor allem auf dem Weg des Verbots der ukrainischen Sprache und Presse.
Zweitens konkurrierte auf einer diskursiven Ebene die Vorstellung von einer allrussischen Identität (also einem Verbund aller Ostslawen) mit der Bezeichnung ‚Kleinrusse‘. Als ‚kleinrussisch‘ bezeichnete man in St. Petersburg die ukrainische Elite im Zarenreich. Diese Funktionäre ukrainischer Herkunft vertraten ihre Heimatregionen, waren aber gleichzeitig Vertreter der russischen oder sowjetischen Intelligenzija und sprachen in der Regel Russisch.
Im Rahmen einer gesamteuropäischen Entwicklung konkurrierte seit Mitte des 19. Jahrhunderts der russische Nationalismus mit der ukrainischen Nationalbewegung. Russen, Belarusen und Ukrainer waren hier einer russischen Nation in den Grenzen des Russischen Reichs untergeordnet. Dieser auch als imperial zu bezeichnende Nationalismus predigte die Kongruenz von ethnischen und staatlichen Grenzen. Auf der anderen Seite strebte die ukrainische Nationalbewegung einen ukrainischen Nationalstaat an, damals noch innerhalb der Grenzen Russlands. Eine Unabhängigkeit der Ukraine war aus ihrer Sicht erst nach dem Ersten Weltkrieg mit der Gründung der Ukrainischen Volksrepublik 1917/18 möglich. An diese Staatlichkeit knüpfte die Ukraine dann 1991 wieder an.
Grenzziehungen
Die Grenzen der Ukraine waren bis 2014 identisch mit dem Territorium der Ukrainischen Sowjetrepublik, 1918 als Unionsrepublik gegründet und 1922 in der Sowjetunion aufgegangen. Wichtig ist hier daran zu erinnern, dass die Ukrainische Sowjetrepublik als Teil der UdSSR stets eine eigenständige Nation mit ihrem eigenen nationalen Territorium war. So war die Sowjetukraine zum Beispiel neben der Sowjetunion eigenes Gründungsmitglied der Vereinten Nationen.
Innerhalb der Sowjetunion waren Veränderungen der russisch-ukrainischen Grenzen nicht das Ergebnis von militärischen Gebietseroberungen, sondern Resultat weltpolitischer oder innersowjetischer Aushandlungsprozesse. Bereits bis 1926 waren im Osten der Ukraine große Teile des Donezbeckens sowie im Norden das Gebiet um Starodub an die Russische Sowjetrepublik angegliedert worden. Auf der anderen Seite gab es im Norden und im Osten bei Luhans‘k Gebiete, die bis 1928 von der Russischen an die Ukrainische Sowjetrepublik abgetreten wurden. Wie mein Kollege Stephan Rindlisbacher in seinen Arbeiten zeigt, waren alle diese Korrekturen administrativer oder wirtschaftlicher Art.
Selbiges trifft auch auf die Halbinsel Krim zu. Diese wurde der Ukraine, wie man oft hören kann, nicht von Nikita Chruschtschow geschenkt, sondern wurde im Februar 1954 auf Beschluss des Obersten Sowjets aus volkswirtschaftlichen Gründen an die Ukraine angeschlossen. Pipelines und Stromleitungen versorgten die Krim von der Ukraine aus mit Energie und Wasser, die Infrastruktur der Krim war seitdem eng mit der Sowjetukraine und nach 1991 bzw. bis 2014 mit der unabhängigen Ukraine verzahnt.
Der innere Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 kann in Bezug auf die zwischenstaatlichen Beziehungen als Zäsur, im Hinblick auf die gemeinsamen Grenzen als Kontinuität verstanden werden. Einerseits blieben die Grenzen dieselben. Das Territorium der Sowjetukraine entspricht dem der heutigen Ukraine. Andererseits können seit 1991 sämtliche skizzierten Projekte der Nationenbildung rechtlich und politisch gar keine Option für einen Aushandlungsprozess mehr sein. Seither spricht man nämlich von zwei souveränen Staatskörpern – der Russischen Föderation und der Ukraine. Laut Parlamentsbeschluss ist die Ukraine seit dem 24. August 1991 ein unabhängiger Nationalstaat. Beim anschließenden Referendum haben am 1. Dezember 1991 mehr als 90 Prozent der Ukrainer für diese Unabhängigkeitserklärung gestimmt.
Fazit
Die Geschichte führt das Argument der heutigen russischen Staatsführung, einen legitimen Anspruch auf den Schutz der eigenen Grenze auf Kosten ihrer souveränen Nachbarstaaten zu haben, politisch ad absurdum. Einerseits verletzt die Russische Föderation mit dem Einmarsch auf die Krim und in die Ostukraine 2014 die Grenzen, die der Kreml zu Sowjetzeiten gemeinsam mit der Ukraine beschlossen hatte. Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die beiden Donezk-Republiken vom vergangenen Dienstag ist es erstmals Russland, dass sein Territorium im Vergleich zur Sowjetunion vergrößert. Bisher waren es ehemals sowjetische Autonome Teilrepubliken, wie Abchasien, Südossetien oder eben die Krim, denen man militärisch „zur Hilfe“ eilte. Dieser neuerliche Angriff stellt hingegen eine historische Zäsur dar. Ab jetzt ist die Revision aller ehemaliger Grenzen der Sowjetunion denkbar. Das heutige Russland verfolgt also eine revisionistische Agenda, die über die Grenzen der Sowjetunion hinausgeht, das machte Putin in seiner Rede vom vergangenen Montag deutlich. In dieser Fernsehansprache outete sich der gelernte Geheimdienstler als russischer Nationalist, der die Einheit von ethnischen und staatlichen Grenzen in einem russischen Reich predigt und anderen Staaten das Existenzrecht abspricht.
Prognose
Putin deklarierte als Ziele die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, eines Staates also mit einem Präsidenten aus einer russischsprachigen jüdischen Familie, der jetzt den russischen Angriff mit dem deutschen Überfall auf die Ukraine im Juni 1941 verglich. Was der russische Präsident eigentlich im Sinn hat, ist eine Bestrafungsaktion gegen den ukrainischen Staat und seine Eliten sowie eine nachhaltige Einschüchterung der ukrainischen Bevölkerung. Doch was sind die konkreten Ziele des Putin-Regimes in der Ukraine? Putin brachte diese in seiner Kriegserklärung an die Ukraine vom vergangenen Mittwoch auf einen Nenner: ‚Spezialoperation‘. Dieses Geheimdienstkonzept lässt für die Ukraine Schlimmes befürchten. Im Dezember 1936 schuf der berüchtigte NKWD-Chef Nikolai Jeschow die Verwaltung für die Durchführung von Spezialoperationen. Deren Aufgabe war es, die Befehle Stalins bezüglich einer Ausschaltung von sog. Staatsfeinden/Abweichlern auch jenseits der Grenzen der Sowjetunion durchzusetzen.
In der Ukraine könnte schon bald eine Strafverfolgung und Säuberung unter alle jenen ukrainischen (auch wissenschaftlichen) Eliten drohen, die sich seit der Orangen Revolution 2004 für die Annäherung an EU und NATO eingesetzt haben. Zu erwarten ist deshalb ein Staatsstreich wie bereits auf der Krim. Ich glaube nicht, dass Russland – trotz seiner militärischen Offensive – die Einverleibung größerer Teil der Ukraine anstrebt. Es sieht alles danach aus, dass Putins Russland in Kiew eine Ordnungs- und Stellvertreterpolitik betreiben will. Wie in vielen anderen GUS-Staaten geht es dem Kreml darum, nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Janukowytsch 2014 in der Ukraine eine Staatsführung einzusetzen, die wieder auf das Wort Moskaus hört.
Bei aller Solidarität, mit der wir unser eigenes Gewissen beruhigen, sollten wir nicht die Augen davor verschließen, dass der Widerstand der Zivilbevölkerung in den belagerten Städten und der Einsatz für den Erhalt unserer eigenen zivilgesellschaftlichen Werte viele Menschenleben fordern wird und ukrainischen Städten ein Szenario wie in der Schlacht um Grosny 1999/2000 drohen kann. Damals hatten russische Truppen die tschetschenische Hauptstadt eingekesselt. Trotz der Blockade setzten die russischen Truppen das Bombardement weitere zwei Wochen fort, ehe sie überhaupt eine Position in der Stadt erobern konnten. Danach stellte die russische Führung, schon damals unter Präsident Putin, der Bevölkerung ein Ultimatum, die Stadt zu verlassen. Zwischen 5.000 und 8.000 zivile Opfer und ungezählte Kriegsverbrechen nahm die russische Armee bei der Eroberung dieser Stadt in Kauf. 2003 erklärte die UNO Grosny zur am schwersten zerstörten Stadt auf dem Globus.
Hoffnung macht auf der anderen Seite: Die russische Führung hat die zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Ukraine längst verschlafen. Unabhängig davon, ob die russischen Truppen bald Kiew, Cherson, Charkiw oder Odessa einnehmen, so ist die breite Mehrheit der Ukrainer für eine russische Ordnung nach den Wertvorstellungen des Kremls auf absehbare Zeit nicht mehr zu haben. Unsere Aufgabe an den Universitäten könnte es sein, den neuen Kriegsflüchtlingen, vor allem den Studierenden aus der Ukraine, ein konkretes Angebot zu machen, damit sie ihre Ausbildung in Deutschland fortsetzen können. Schon jetzt können wir online Gespräche mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine führen, ihnen einfach zuzuhören, die sonst gebotene wissenschaftliche Distanz ablegen und ihnen so nahe wie jetzt nötig zu sein, auch im stillen Gebet. Abschließen möchte ich daher wieder mit Papst Franziskus, der uns dazu eingeladen hat, heute, am Aschermittwoch, für den Frieden in der Ukraine zu beten. Ich zitiere:
„Nun möchte ich alle ansprechen, Glaubende und Nichtglaubende. Jesus hat uns gelehrt, dass man auf die teuflischen Einflüsterungen und die teuflische Sinnlosigkeit der Gewalt mit den Waffen Gottes antwortet: mit Gebet und Fasten. Ich lade alle dazu ein, am 2. März, Aschermittwoch, einen Tag des Fastens für den Frieden abzuhalten.“
(24.2.2022, aktualisiert 2.3.2022)