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Polenstudien nur mit Polnisch? Mehrsprachigkeit als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit der polnischen Geschichte am Beispiel des jüdischen Vierländerrats

Series: Early career reserchers' outlooks on Polish studies
Contribution by Laura Clarissa Loew

Gemäß der ersten Auswertung der polnischen Volkszählung aus dem Jahr 2021 geben 2 Prozent der EinwohnerInnen des Landes an, einen anderen Geburtsort als Polen zu haben. Diese aktuellste Erhebung fragt nicht nach Mehrsprachigkeit, deshalb kann eine Korrelation zwischen nicht-polnischem Geburtsort und Sprachkenntnissen nur angenommen werden. Die letzten Daten zum Thema Mehrsprachigkeit stammen aus dem vorherigen Jahrzehnt: etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung gaben damals an, dass sie zu Hause (noch) eine andere Sprache sprachen.

Nun haben sich diese Zahlen spätestens seit dem Angriff Russlands auf das gesamte ukrainische Territorium vor einem Jahr und aufgrund der dadurch ausgelösten Fluchtbewegung im letzten Jahr radikal verändert. Die polnische Gesellschaft setzt sich (gezwungenermaßen) wieder damit auseinander, was Multikulturalität für sie bedeutet, doch vor weniger als einem Jahrhundert gehörte diese Multikulturalität und damit auch Mehrsprachigkeit noch zur Normalität. Dies beweisen auch die Daten aus dem Jahr 1931, in denen rund 10 Prozent der Befragten "Ukrainisch" als ihre Muttersprache angaben, rund 8 Prozent "Jüdisch" (Jiddisch) und außerdem acht weitere Sprachen abgefragt wurden. Diese sprachliche und kulturelle Vielfalt war über viele Jahrhunderte dominierend für die Gebiete einer polnischen Staatlichkeit oder mit mehrheitlich polnischer Bevölkerung.

Für eine Beschäftigung mit der Kultur und Geschichte Polens ist also die Auseinandersetzung einzig mit der Sprache der Titularnation unzureichend, und das gilt für die verschiedensten Epochen und Themen. Dies kann an einem exemplarischen Fall aufgezeigt werden: dem jüdischen Vierländerrat als Institution der jüdischen Selbstverwaltung im frühneuzeitlichen Polen.

Der Vierländerrat

Der jüdische Vierländerrat (pl. Sejm Czterech Ziem (SCZ), hebr. wa’ad arba’ aratzot) existierte ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahr 1764 und stellte eine im frühneuzeitlichen Europa einzigartige Institution der jüdischen Selbstverwaltung dar, deren geografisches Geltungsgebiet dasjenige jeder möglichen vergleichbaren Organisation übertraf. Er fungierte als eine Art "Parlament" für die jüdische Bevölkerung in Polen (das Geltungsgebiet reichte bald über die ursprünglichen vier "Länder" – Groß- und Kleinpolen, Rotreußen und Wolhynien – hinaus) und erfüllte diverse Funktionen. Seine Amtsträger beschäftigten sich v.a. mit Fragen der Steuer für die jüdische Bevölkerung, vertraten aber auch deren Interessen gegenüber dem polnischen König und der Aristokratie. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinden spielte der Vierländerrat eine wichtige Rolle: er setzte Regeln in Bereichen des Handels und der Wirtschaft, überwachte den hebräischen Buchdruck und die Einhaltung religiöser Vorschriften und klärte Streitfragen zwischen Gemeinden. Er war damit das wichtigste überregionale Kommunikationsgremium zwischen der jüdischen Bevölkerung Polens und staatlichen Institutionen.

Jüdische Mehrsprachigkeit in Polen

Als ein solches interkulturelles Kommunikationsgremium war er selbstverständlich ein Ort von Mehrsprachigkeit. Die aschkenasische jüdische Bevölkerung im frühneuzeitlichen Polen war eine gleich in zweifacher Hinsicht mehrsprachige Gesellschaft: innerhalb der aschkenasischen Bevölkerung herrschte ein Bilingualismus aus Hebräisch als der "heiligen Sprache" (leschon ha-kodesch) und dem alltäglichen Jiddisch (mame-loschn). Da die meisten polnischen Juden nicht in großen jüdischen Gemeinden lebten, sondern unter christlichen NachbarInnen, war Mehrsprachigkeit auch außerhalb ihrer Gemeinschaft alltäglich. Die Umgebungssprachen – v.a. Polnisch, aber auch die ostslawischen oder baltischen Sprachen der NachbarInnen – wurden zwar meistens nicht systematisch erlernt, aber durch die Alltagspraxis angeeignet. Das Niveau der Sprachfähigkeit konnte dabei stark variieren, wie der jüdische Philosoph Salomon Maimon (1753-1800), der in einem kleinen Dorf im heutigen Belarus geboren wurde, in seinen Memoiren ironisch festhält (wobei diese Bemerkung sicherlich ebenso auf die Sprache der christlichen Bevölkerung übertragen werden kann):

"Man stelle sich einen polnisch-litauischen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren […] vor, dessen Sprache aus der hebräischen, jüdisch-deutschen, polnischen und russischen Sprache mit ihren respektiven grammatikalischen Fehlern zusammengesetzt ist."

Die (korrekte) Beherrschung gleich mehrerer Sprachen war eine wichtige Voraussetzung für die Besetzung strategisch relevanter Posten, die der Verständigung mit der christlichen Bevölkerung dienten. Ein solcher war beispielsweise der des Schtadlans, eines Interessenvertreters größerer jüdischer Gemeinden. Eine ähnliche Rolle hatte schon der erste jüdische Memoirenschreiber Moses Wasserzug (1760-18??) inne, der seine Stelle als Gemeindebeauftragter aufgrund seiner "Fertigkeit des Schreibens sowohl in unserer [der jüdischen] Sprache wie in der Sprache der Völker" (S. 46.) erhalten hatte.

Sprachenvielfalt im Vierländerrat

Selbstverständlich spielten auch im Vierländerrat als dem wichtigsten überregionalen jüdischen Ansprechpartner für die polnischen Institutionen Sprachen eine zentrale Rolle. Der Historiker Mosché Altbauer konstatierte einst, dass man zur vollumfänglichen Erforschung des Gremiums über Kenntnisse des Polnischen, Lateinischen, Hebräischen, Jiddischen, Deutschen und Ruthenischen verfügen müsste – denn all diese Sprachen finden sich in den schriftlichen Quellen zum SCZ wieder. Da das originale Protokoll, der pinkas, verschollen ist, müssen HistorikerInnen sich auf Kopien, Briefe oder Übersetzungen vom und an den Vierländerrat beschränken.

Die umfangreichste Sammlung dieser Quellen wurde im Jahr 2011 von Jakub Goldberg und Adam Kaźmierczyk publiziert und umfasst 255 Dokumente in vier verschiedenen Sprachen. Hebräisch (und Jiddisch) als Hauptarbeitssprache des Gremiums wurde dabei außen vor gelassen. In diesem Band taucht das Hebräische nur auf, wenn im Text darauf verwiesen wird, dass dies die Originalsprache gewesen sei, zum Beispiel durch die Formel "z hebrajskiego na polszczyznę de verbo ad verbum przepisano". Ein anderer Hinweis auf eine Übersetzung eines auf Polnisch oder Latein vorliegenden Dokuments sind Unterschriften der Absender auf Hebräisch. Besonders häufig sind es Gerichtsdokumente polnischer Behörden, die auf Polnisch oder Latein, oder einer makkaronischen Mischsprache aus beiden verfasst sind (die eigenen Texte mit lateinischen Phrasen zu durchziehen, galt in gewissen Kreisen als Zeichen besonderer Bildung). Aber auch jüdische Institutionen tauchen als Absender solcher Dokumente auf, was auf eine Anpassung an die Sprachgepflogenheiten polnischer Eliten schließen lässt.

Eine weitere wichtige nicht-hebräische Sprache, die in den Quellen verwendet wird, ist Deutsch. Der Vierländerrat war auch über die Grenzen Polens hinweg tätig und entsandte beispielsweise Empfehlungsschreiben oder Bittschriften in deutschsprachige Gebiete. Diese wurden auf Hebräisch verfasst und dann vor Ort übersetzt, oft von Gymnasiallehrern. Ein besonderes Beispiel stellt hier ein Brief des SCZ aus dem Jahr 1739 dar, in dem ein Schammes (Synagogendiener) in Breslau durch den Vierländerrat bestätigt wird. In dem Quellenband ist der Text auf Deutsch abgedruckt, aus dem Polnischen übertragen wurde er von dem Breslauer Lehrer George Schlag. Der Brief enthält jedoch zu Beginn und am Ende längere lateinische Passagen, die wohl direkt aus der polnischen Version übernommen wurden. In diesen wird darauf verwiesen, dass der Originaltext des Dokuments zunächst aus dem Hebräischen ins Polnische übersetzt wurde.

Sprachen als Schlüssel zur polnischen Geschichte

An letzterem Quellenbeispiel lassen sich viele Aspekte der historischen Mehrsprachigkeit exemplarisch behandeln. Es veranschaulicht die Funktionen der einzelnen Sprachen in der Arbeit des Vierländerrates: das Hebräische diente als interne Arbeitssprache, Polnisch (mit Lateinischen Einfügungen) zur Kommunikation mit den polnischen Institutionen und schließlich die jeweiligen Landessprachen bei Angelegenheiten, die Landesgrenzen überschritten. Der Brief verweist außerdem auf die Netzwerke der jüdischen Selbstverwaltung innerhalb und außerhalb Polens und lässt Rückschlüsse auf Übersetzungsprozesse zu.

Die Untersuchung der Mehrsprachigkeit im und um den SCZ kann also auch in den größeren Kontext der Erforschung des Handlungsspielraums und des Einflusses jüdischer Akteure im frühneuzeitlichen Polen eingeordnet werden. Sprachen können somit als Schlüssel zum besseren Verständnis der polnischen Geschichte in den unterschiedlichsten Epochen und Kontexten dienen.

Disciplines

Linguistics Jewish studies History

Topics

Jewish history Early modern period Council of Four Lands Historical multilingualism Language contact
Redaktion Pol-Int

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