„Hättest du Interesse daran, einen Beitrag über Nachwuchswissenschaftler:innen im Bereich der Polenstudien zu schreiben?“
Als ich darüber nachdachte, wie ich auf diese Anfrage reagieren sollte, stellte ich fest, dass ich schon hinter die beiden Begriffe Polenstudien und Nachwuchswissenschaftler:innen dicke Fragezeichen setzen musste. Lag es aber an mir, dass ich mich nicht kompetent fühlte, hierzu eine elaborierte Meinung kundzutun oder lag es an der schwierigen Bestimmbarkeit dieser Begriffe allgemein? Diesen Fragen möchte ich in diesem Beitrag nachgehen.
Was genau sind also Polenstudien bzw. Polenforschung?
Diese Frage kann man sicherlich sehr unterschiedlich beantworten. Und die Zentren, die auch diesen Blog mit Leben füllen (namentlich das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien, das Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien, das Deutsche Polen-Institut oder etwa auch das Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften), haben dazu an anderer Stelle schon kompetentere Antworten gegeben. Dennoch versuche ich mich einmal an einem subjektiven Problemaufriss. Meiner Meinung nach betreiben wir Polenforschung vor allem als Schnittmenge zwischen verschiedenen Forschungsdimensionen. Genauer gesagt:
Irgendwie:
Disziplinär kann Polenforschung sicherlich ein weites Feld sein, von explizit geschichts-, politik- oder sprachwissenschaftlichen usw. Fragestellungen hin zu bewusst multi-, trans- oder interdisziplinären Ansätzen. Es ist dann also der Gegenstand, der uns verbindet. Doch wo liegt er?
Irgendwo:
Auch räumlich lässt sich diese Frage nur oberflächlich leicht beantworten. Sicherlich beschäftigen sich Polenstudien mit dem Land Polen, aber was ist damit gemeint und was sagt das aus? Eine rein auf Polen beschränkte Forschung wäre oft wenig ertragreich. Zu bedeutend sind die Verflechtungen von Räumen und Menschen. Vieles, was unter dem Begriff „Polenstudien“ passiert, ist daher auch eher eine – beispielsweise – deutsch-polnische Beziehungs- oder Verflechtungsgeschichte. Oder „Polen“ fungiert im Kontext der Area Studies als Fallstudie innerhalb des östlichen Europas bzw. Europas und der Welt.
Irgendwann:
Letztlich entscheidet auch die zeitliche Ebene darüber, was wir eigentlich genau erforschen, wenn wir Polenstudien betreiben. Zu unterschiedlich sind die politischen, kulturellen, rechtlichen, religiösen oder sprachlichen Rahmenbedingungen, auf die wir in einem der jeweiligen historischen Räume „Polens“ stoßen, wie es Moshe Rosman in seinem Essay on Polish History konzise zusammengefasst hat.
Je nachdem, wie ich mich also disziplinär, räumlich und epochal verorte, bewege ich mich auf jeweils anderen Forschungsfeldern; alle ausgestattet mit eigenen Logiken, Institutionen, Publikationsorganen etc. Das führt dazu, dass ich persönlich anhand meines bisherigen Untersuchungsgegenstandes – der Herrschaftsgeschichte des spätmittelalterlichen Polens – zwar halbwegs belastbare Aussagen darüber treffen kann, wer und was hier wichtig ist. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich das für die Neuzeit oder die Politikwissenschaft ebenfalls kann. Bin ich also Polenforscher? Oder bin ich Historiker, der sich schwerpunktmäßig mit Polen beschäftigt? Als ich einigen Kolleg:innen diese und ähnliche Fragen stellte, bezeichneten sich zumindest die wenigsten als „Polenforscher:innen“. Dieses Spannungsverhältnis hat Claudia Kraft vor Kurzem in Ihrem Essay sehr treffend beschrieben, in dem Sie Leben und akademisches Wirken des 2021 leider verstorbenen Włodzimierz Borodziej würdigte.
Die bereits angesprochenen Logiken des Wissenschaftsbetriebs bringen – gerade in Deutschland – mit sich, dass wir uns als junge Forschende eine möglichst große Breite an Forschungsfeldern aneignen müssen. In meiner Situation – dem Übergang von Promotion zu PostDoc (oder um den kryptischen europäischen Referenzrahmen zu nutzen: von R1 zu R2) – führt dies dazu, dass ich mein mir bisher angeeignetes Feld verlassen und zu neuen Ufern aufbrechen muss. Letztlich bedeutet das: neue Fragestellungen, neue Netzwerke, neue Logiken. Alles auf null und das Gefühl, wieder ein blutiger Anfänger zu sein.
Tja, und da sind wir schon unmittelbar beim so schönen Begriff des „wissenschaftlichen Nachwuchses“. Dieser setzt voraus, dass da überhaupt etwas nachwächst bzw. nachwachsen kann und will. Dass das gar nicht so leicht ist, zeigt ein Blick unter Hashtags wie #95vsWissZeitVG, #ACertainDegreeOfFlexibility (so auch der Titel einer Tagung der GEW im Oktober 2021) oder #IchBinHanna. Gerade letzterer brachte es zu enormer Reichweite und führte dazu, dass auch der Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung sich dem Thema der akademischen Karrierewege widmet. To be continued. Tatsächlich enthält der Begriff des „wissenschaftlichen Nachwuchses“ mehr Fragen als Antworten: Gehören nur diejenigen zum wissenschaftlichen „Nachwuchs“, die sich trotz aller Probleme und Unsicherheiten für eine Fortsetzung ihrer Laufbahn nach der Dissertation entscheiden? Sind wir dann so lange „Nachwuchs“, bis wir das ferne und unwahrscheinliche Ziel einer Professur erreichen? So versteht es zumindest das derzeit stark in der Kritik stehende Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Aber was, wenn ich das gar nicht anstrebe? Wieder auf unseren Gegenstand bezogen: Bin ich noch wissenschaftlicher „Nachwuchs“ der Polenforschung, wenn ich mich im Leben nach der Dissertation aufgrund der beschriebenen Logiken von Polen als Forschungsgegenstand entferne? Und was ist mit den über 50 Prozent derjenigen, die sich nach der Promotion anderen Berufsfeldern zuwenden (Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, Abschnitt C: Karriereverläufe Promovierter) und hier ihre erworbene „Polenkompetenz“ fruchtbar machen? Es wird Zeit, das außerakademische Berufsfeld nicht mehr als „Plan B“ anzusehen, sondern mutig unsere Kompetenzen zu betonen. Hier kann beispielsweise Mirjam Müllers Buch Karriere nach der Wissenschaft wertvolle Anregungen geben. Auch das außerakademische Mentoring der DGO biete tolle Perspektiverweiterungen!
Während der Begriff der „Polenstudien“ also nur ein weites und schwer abzusteckendes Forschungsfeld umschreibt, erscheint mir der Begriff des „wissenschaftlichen Nachwuchses“ immer sinnentleerter, je länger ich darüber nachdenke. Dennoch glaube ich, können wir auch selbstbewusst auf unser akademisches „Jungsein“ verweisen. Wir sind offener für neue Impulse und haben oftmals starke wissenschaftliche- und außerwissenschaftliche Netzwerke, die unsere Arbeit befruchten können.
Aber wer sind „wir“ und was könnte unser gemeinsamer Nenner sein, wenn unsere Zugänge zum Forschungsgegenstand „Polen“ schon so verschieden sind?
Ich denke, es gibt zumindest so etwas wie einen gemeinsamen Erfahrungsraum all derer, die ich hier vorsichtig als „die junge Polenforschung“ bezeichnen möchte, d.h. diejenigen, die Polen in irgendeiner Form zu einer ihrer Forschungspräferenzen erhoben haben.
Als Forschende wäre da etwa die gemeinsame Begegnung auf dem alle drei Jahre stattfindenden Kongress Polenforschung, auf dem der „Nachwuchs“ in Form des Eröffnungsplenums eine prominente Bühne erhält. Uns verbindet aber vielleicht auch ein Forschungsaufenthalt am Deutschen Historischen Institut in Warschau oder der Besuch einer Sommerakademie am Deutschen Polen Institut in Darmstadt.
Als Reisende zaubert uns der Name Wars ein ähnlich wissendes Schmunzeln auf die Lippen. Außerdem sprechen wir immer noch vom Berlin-Warszawa-Express, auch wenn der Zug, der zwischen den beiden Hauptstädten pendelt, diesen Namen schon lange nicht mehr offiziell führt. Möglicherweise tragen wir auch die gleichen Socken von Pan tu nie stał oder essen gerne Prince Polo, wer weiß.
Als Lernende können wir womöglich ähnliche Geschichten über polnische Zungenbrecher à la „stół z powyłamywanymi nogami“ erzählen. Uns verbindet häufig auch eine Teilnahme am Programm der Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS e. V.), etwa ein sommerlicher Tandem- oder sogar Semestersprachkurs. Wahrscheinlich sind wir uns auch schon einmal bei einer Veranstaltung der Jungen Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (Junge DGO) begegnet, auch wenn es dort (noch?) keine explizite Gruppe für die Polenforschung gibt.
Letztlich wollen wir nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als zivilgesellschaftliche Akteur:innen irgendwie dazu beitragen, ein differenziertes Bild Polens in Deutschland und der Welt zu vermitteln. Und dabei verzweifeln wir höchstwahrscheinlich regelmäßig über so manche Entwicklung, die wir beobachten.
Diesem Erfahrungsraum ließen sich sicherlich weitere Facetten hinzufügen. Die Frage ist nun:
Reicht das schon, um sich selbst als zugehörig zu einer jungen Polenforschung zu verstehen?
Ich persönlich kann nur sagen, dass es mir große Freude bereitet hat, mir diesen Erfahrungsraum in den letzten Jahren zu erschließen. Egal, wohin mich das am Ende auf oder außerhalb der wissenschaftlichen Laufbahn trägt, bin ich sehr dankbar für die Begegnungen und Erlebnisse auf diesem Weg. Und vielleicht ist ja der neue Wissenschaftsblog Polenstudien genau der richtige Ort, um darüber nachzudenken, was eine junge Polenforschung eigentlich sein soll oder sein will. Ich würde mich auf jeden Fall freuen, mit euch darüber ins Gespräch zu kommen.