Ausgehend von unseren Vorträgen auf der studentischen Tagung "Was tun?" am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin im Oktober 2022 möchten wir hier einige Aspekte der Wahrnehmungsgeschichte der deutsch-polnischen Grenze im 20. Jahrhundert aufgreifen.
In beiden Fällen gingen wir der Frage nach, wie die deutsche Bevölkerung die Grenze zu Polen wahrnahm. Carl Moritz Löning hat die Strafverfolgung illegaler Migration durch ost- und ostmitteleuropäische Jüdinnen und Juden in Deutsch-Oberschlesien in den 1920er Jahren analysiert. Tom-Aaron Aschke hat sich damit beschäftigt, wie sich der Göttinger Arbeitskreis – eine 1946 in Westdeutschland gegründete Arbeitsgemeinschaft überwiegend Königsberger Hochschullehrer – zur Oder-Neiße-Grenze äußerte. In Gesprächen über unsere Arbeiten sind uns einige Berührungspunkte aufgefallen, die wir hier thesenhaft vorstellen möchten. Dabei fokussieren wir uns auf die Weimarer Republik und die Bundesrepublik – das Verhältnis der DDR und ihrer Bürger:innen zur deutsch-polnischen Grenze bleibt ausgeklammert.
Sowohl nach 1918 als auch nach 1945 stellten die deutsche Weltkriegsniederlage und die Grenzverschiebungen zugunsten Polens den zeitgenössischen Erfahrungshorizont dar. Während sich nach dem Ersten Weltkrieg noch gewisse Handlungsspielräume für die deutsche Regierung ergaben, war dies nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 nicht der Fall. Ein zentraler Unterschied bestand außerdem darin, dass nach 1918 nur die Staatsgrenze verschoben wurde. Die angestammte Bevölkerung mitsamt der deutschsprachigen Minderheit konnte in den entsprechenden Territorien verbleiben. Nach 1945 wurden durch die weitgehende Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen aus den Gebieten östlichen von Oder und Neiße auch Sprach- und Kulturgrenzen verschoben. Ein "deutscher Charakter", den beispielsweise Großpolen in den Augen deutscher Revisionist:innen besaß, war im Kalten Krieg deutlich weniger evident als vor dem Zweiten Weltkrieg. Trotz dieser strukturellen Unterschiede und über die historischen Kontexte unserer Arbeiten hinaus konnten wir bei den untersuchten Akteuren Gemeinsamkeiten in den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der Ostgrenze und der polnischen Nachbar:innen erkennen. Wir möchten damit an die Überlegungen von Vanessa Conze anschließen, die insbesondere hinsichtlich der Ostgrenze von einem spezifisch deutschen "Grenz-Syndrom" spricht, welches die deutsche Öffentlichkeit und Politik über weite Teile des 20. Jahrhunderts erfasst hatte.
Das erste Merkmal dieses "Grenz-Syndroms" war das konstante Bestreben, die Gültigkeit der neuen Grenzen in Zweifel zu ziehen. Das drückte sich nach dem Ersten Weltkrieg allgemein in der Rede vom "Versailler Diktatfrieden" und der "ungerechten Grenzziehung im Osten" aus und zeigte sich praktisch in der Beibehaltung oder Schaffung widersinniger Verwaltungseinheiten: Seit 1922 gab es etwa die preußische Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, deren Name den Anspruch auf zwei nun polnische Gebiete deutlich machte, die ein nichtzusammenhängendes Territorium verwalten sollte und deren Einwohnerzahl nur ein Bruchteil derer anderer Provinzen umfasste. Während Politik und Öffentlichkeit in der Weimarer Republik die Regelungen des Friedensvertrages ablehnten, machte man sich in Westdeutschland nach 1949 dessen Fehlen argumentativ zunutze: Da noch kein Friedensvertrag mit den Alliierten geschlossen war, der Grenzfragen abschließend regelte, seien dessen Bestimmungen nach wie vor unklar. Die Folge war, dass Akteure wie die Bundesregierung, aber auch der Göttinger Arbeitskreis auf der grundsätzlichen Offenheit der Grenzfrage zu Polen beharren konnten.
Zweitens war nach 1918 und 1945 allen klar, dass sich die Staatsgrenzen de facto verschoben hatten. Jede:r konnte sich persönlich davon überzeugen, dass polnische Grenztruppen die Schlagbäume der neugezogenen Grenze bewachten. Der argumentative Ausweg aus dem Dilemma, einerseits die Verschiebung der Staatsgrenzen zu sehen und andererseits ihrer Legitimität widersprechen zu wollen, lag in der Betonung der "deutschen Kultur". Der Göttinger Arbeitskreis veröffentlichte dutzende Publikationen, die die historischen Leistungen der Deutschen und die angeblich unzweifelhaft deutsche Prägung der neuen polnischen Gebiete belegen sollten. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Begriff des "deutschen Kultur- und Volksbodens" etabliert, mit dem man verdeutlichen wollte, dass auch unter fremder Staatlichkeit und einer mehrheitlich nicht-deutschen Bevölkerung weite Teile Ostmitteleuropas kulturell deutsch geprägt seien. Dieses Konzept wurde für revisionistische Bestrebungen nach 1945 umso wichtiger – schließlich bedurfte es für den Nachweis des "deutschen Charakters" Ostpreußens somit nicht mehr der Anwesenheit einer deutschen Bevölkerung.
Drittens erschien vielen Deutschen die neue Ostgrenze nach beiden Weltkriegen nicht nur als ungerecht, sondern auch als Gefahr für Deutschland. Aus den Urteilen preußischer Richter gegen illegal eingewanderte Jüdinnen und Juden in den 1920er Jahren wird klar, dass deren Einwanderung nicht nur als "unerwünscht" verstanden wurde, sondern geradezu als Maßnahme der polnischen Regierung, um das Deutsche Reich zu schwächen. Nach 1945 war es wiederum der Kommunismus, in dem man nicht nur einen politisch-weltanschaulichen Gegner sah, sondern auch eine Gefahr für die Existenz des "abendländischen Europa". Anhand der teilweise wahnhaften Angst vor diesen Gegnern wird die empfundene (und tatsächliche) Ohnmacht der Deutschen deutlich: Wo vor ein paar Jahren noch "deutsche Ordnung" geherrscht habe, imaginierte man nun die unbehelligte Ausbreitung von wirtschaftlichem Verfall, Chaos, Kriminalität und Gewaltherrschaft. Dabei drängt sich ein Vergleich mit dem deutschen Diskurs um die "Autos klauenden Polen" nach der deutschen Wiedervereinigung auf.
Viertens lag allen genannten Wahrnehmungsweisen die Abwertung der östlichen Nachbarn zugrunde. Von Westen nach Osten sah man ein kulturelles Gefälle reichen, das die Deutschen als überlegen markierte. Deutsche Justiz und Öffentlichkeit imaginierten nach 1919 hinter der östlichen Grenze Kriminalität und Unordnung, während der Göttinger Arbeitskreis bis Ende der 1950er Jahre den Verfall ehemals deutscher Gebiete durch die Polen unterstellte wirtschaftliche Ineffizienz beklagte. Prägend für die Vorstellungswelt vieler Deutscher blieb bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Auffassung, dass nur durch deutsche Arbeit und deutsche Leistung eine "kulturelle Hebung Ostmitteleuropas" ermöglicht worden sei. Insoweit man die Deutschen mit einer "kulturellen Mission im Osten" ausgestattet sah, gewann die Ostgrenze zugleich auch ein expansives Moment.
Das deutsche "Grenz-Syndrom" behielt jedoch nicht zu allen Zeiten die gleiche Wirkmacht und konnte sich inhaltlich wandeln. Seine entscheidende rassistische Radikalisierung erfuhr es während des Nationalsozialismus. Nach dem Krieg gingen beide deutsche Staaten getrennte Wege: Während die DDR ihre gemeinsame Grenze mit Polen bereits 1950 bestätigte, beharrte die Bundesrepublik auf den Grenzen von 1937 und rückte von dieser Position erst 1970 mit der Garantie der Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze im Warschauer Vertrag ab. Gegner der Oder-Neiße-Grenze – wie der Göttinger Arbeitskreis – bedienten sich nach 1945 vorwiegend politisch-rechtlicher Argumente und bezeichneten unter Berufung auf den Friedensvertragsvorbehalt alle zwischenzeitlich getroffenen Grenzregelungen als vorläufig. Ab den 1960er Jahren gerieten die Unterstützer einer Grenzrevision schließlich ins diskursive Hintertreffen, als kirchliche, zivilgesellschaftliche und sozialdemokratische Initiativen auf eine Aussöhnung mit Polen und eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hinwirkten. Akteure wie der Göttinger Arbeitskreis, aber auch die Vertriebenenverbände wurden so immer stärker marginalisiert.
Der Weg der Deutschen zur politischen und mentalen Anerkennung ihrer Ostgrenze war also weit. Einen umso größeren Erfolg stellt die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrags von 1990 dar, der die Endgültigkeit der Grenzziehung durch das wiedervereinigte Deutschland bestätigt. Gerade in der Absenz von Forderungen nach einem Rückkehrrecht in die ehemaligen deutschen Ostgebiete oder gar ihrem Rückerhalt zeigt sich der Erfolg von Liberalisierung und Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft auf ihrem "langen Weg nach Westen". Zugleich zeigen unsere Untersuchungen auch, dass die Abkehr der Deutschen von ihrem "Grenz-Syndrom" langfristig und zäh war. Die öffentlichen Debatten um die Leerstellen der deutschen Ostpolitik seit dem 24. Februar 2022 fördern zutage, in wie vielen Aspekten der deutsche Blick nach Osten noch bis heute imperialen, hierarchischen Wahrnehmungsmustern folgt.