Beigetragen von: Andrii Portnov
Redaktionell betreut von: Lehrstuhl Entangled History of Ukraine
Die jüngste Welle akademischer Aufmerksamkeit für die Ukraine hat einen klaren politischen Grund – nämlich die unerwartete Fähigkeit des Landes, der umfassenden russischen Aggression zu widerstehen. Auch der schnelle und relativ friedliche Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kam für viele unerwartet, infolgedessen die Slavic Review (54/1995, Nr. 3) einen Artikel von Mark von Hagen mit dem provokanten Titel Does Ukraine Have a History? diskutierte. Von Hagen erläuterte die Gründe für die schwache Legitimation ukrainischer und im weiteren Sinne osteuropäischer Themen in der internationalen akademischen Welt, wies auf die potenziellen Gefahren einer postsowjetischen „Nationalisierung“ der ukrainischen Geschichte hin und schlug vor, ihnen mit einem Ansatz zu begegnen, in dem „gerade die Fluidität der Grenzen, die Durchlässigkeit der Kulturen, die historische multiethnische Gesellschaft das ist, was die ukrainische Geschichte zu einem sehr ,modernen‘ Feld der Forschung machen könnte.“ Ferner bezeichnete er die ukrainische Geschichte als „ein wahres Laboratorium für die Erforschung der verschiedenen Prozesse der Staats- und Nationenbildung und für die vergleichende Geschichte im Allgemeinen.“
In der damaligen Diskussion teilten nicht alle die Ansicht von Hagens. Vor allem Andreas Kappeler stellte die rhetorische Frage: „Aber ist dies die Zeit für einen postnationalen Ansatz zur ukrainischen Geschichte?“ und fuhr fort: „Ich habe meine Zweifel – insbesondere für Deutschland und Westeuropa, wo die Ukraine und ihre Geschichte in Politik, Presse und Forschung weitgehend ignoriert werden. Nach wie vor dominieren in der ukrainischen Geschichtswissenschaft traditionelle russozentrische Ansätze. Die erste Aufgabe der ukrainischen Geschichtsschreibung besteht daher darin, Informationen bereitzustellen, um ukrainische historische Perspektiven aufzuzeigen und ein Gegengewicht zu den in diesem Bereich bereits verankerten russischen und polnischen Sichtweisen zu schaffen.“
Aus der Sicht von fast 30 Jahren kann (und muss) man sich fragen, welchen Weg die Ukrainistik eingeschlagen hat. Nach meiner Beobachtung haben die von Hagen vorgeschlagenen Perspektiven in der ukrainischen Geschichtsschreibung eine immer größere Rolle gespielt. Das heißt nicht, dass das nationale Narrativ völlig verschwunden ist, aber es ist sicher nicht unhinterfragt und dominant geblieben. Schließlich wurde die Frage nach der grundsätzlichen Inklusivität der ukrainischen Geschichte und der Unzulässigkeit ihrer Beschränkung auf die Geschichte der ethnischen Ukrainer:innen schon lange vor Hagen von Omeljan Pritsak aufgeworfen, einem prominenten Turkologen und Gründer des Ukrainian Research Institutes an der Harvard University. Doch weder Pritsaks Appelle noch die Publikationen seiner Schüler:innen konnten die russozentrische Basis der amerikanischen und westeuropäischen Slawistik entscheidend verändern. Es ist von Bedeutung, dass diese grundlegende Einsicht bereits in den ersten Tagen der russischen Aggression formuliert wurde. Sie stammt von Marina Mogilner, Professorin für russische Geschichte an der University of Illinois in Chicago, die schrieb: „Putins national-imperiale Phantasien mögen in der vorgeschlagenen Form und als Vorwand für den Krieg verrückt erscheinen, aber auf struktureller Ebene korrelieren sie perfekt mit den grundlegendsten Narrativen in unserem Bereich, sowohl in den USA als auch in Russland.“
Die Forderung nach einer „Dekolonisierung“ des Forschungsfeldes – dessen Bezeichnung bereits problematisch geworden ist, da Begriffe wie „postsowjetisch“ zunehmend kritisiert werden – wurde von verschiedenen Seiten erhoben. In der gegenwärtigen ukrainischen Debatte scheint die Dekolonisierung der führende, fast allgemein akzeptierte Ansatz zu sein. Seine genaue Definition sowie seine Positionierung im Verhältnis zu den postkolonialen Studien in der westlichen Geschichtswissenschaft sind jedoch nach wie vor umstritten.
Stellt die postkoloniale Forschungsperspektive eine Rückkehr zum nationalen Narrativ dar, insbesondere angesichts der Tendenz beider, einen „Gruppenrealismus“ zu behaupten, indem sie die Gesellschaft als aus reinen Formen – homogenen sozialen Gruppen – zusammengesetzt wahrnehmen? (Ilya Gerasimov: The Russian Imperial Situation. Before and After the Nation-State, in: Ab Imperio (2022), Nr. 4, S. 31-59).
Folglich stellt sich die Frage, ob die (post)koloniale Perspektive tatsächlich als Schlüssel taugt, um bestimmte Tendenzen analytisch zu überwinden (oder zumindest auszugleichen), die Sebastian Conrad in What is Global History? wie folgt beschreibt: „In einigen neueren Schriften erscheinen Imperien als selbstverständliche Formen politischer Herrschaft über heterogene Bevölkerungen und nicht mehr als Grundlage für die Verletzung individueller und kollektiver Rechte.“ (S. 229)
Ist der postkoloniale Blick eine produktive Voraussetzung für die volle Anerkennung der soziokulturellen Handlungsfähigkeit der Ukraine? Gennadii Korolov hat dazu kürzlich eine kritische Meinung geäußert. Unter Bezugnahme auf die oben zitierte Metapher von Hagens und den Titel des 2008 erschienenen Bandes A Laboratory of Transnational History schrieb er: „Diese Labor-Metapher ist eine der gefährlichsten für die historische Analyse, weil sie eine globale Perspektive ablehnt und intellektuelle Konjunktionen kultiviert... Ich fürchte, dass die Ukraine wieder in eine postkoloniale Perspektive zurückfallen wird. Ich befürchte, dass die Ukraine erneut als Labor behandelt wird, in dem die Russland- und Eurasienstudien im Kontext der Dekolonisierungsrhetorik neu gestaltet werden...“ (New Eastern Europe (2023), Nr. 2, S. 183).
Meines Erachtens verdienen die Warnungen von Korolov ernsthafte Beachtung. Hinzu kommt die Frage, ob dem Eingeständnis von Fehlern und Versäumnissen auch institutionelle Veränderungen folgen sollten – gerade in Deutschland, wo die slavistischen Abteilungen nicht nach Nationalgeschichten oder -literaturen organisiert sind. Bedeutet dies aber, dass die „Osteuropastudien“ frei von Russozentrismus sind und dass jeder Lehrstuhl, der das Wort „Ukraine“ in seinem Namen trägt, zwangsläufig ein nationales Projekt verfolgt?
Die Voraussetzung für transnationale, vergleichende oder globale Geschichte ist eine gute Kenntnis des lokalen Materials. Die Area Studies scheinen eine natürliche Grundlage für transregionale und globale Forschung zu bilden. Eine moderne ukrainische Geschichte kann nur entangled sein, d.h. in ihren Verflechtungen betrachtet werden – wie jede andere übrigens auch. Die Entwicklung der Ukrainistik, die Kenntnis der ukrainischen Sprache und die breitere Nutzung lokaler Quellen bedeutet ebenso wenig, die Polen- oder Russlandstudien zu negieren, ganz im Gegenteil. Wie Andreas Kappeler in seinem Kommentar zum oben zitierten Artikel von Hagens feststellt, „bringen neue Richtungen in der Ukraineforschung neue Einsichten für diejenigen, die Russland studieren.“ Dem ist hinzuzufügen: für diejenigen, die sich mit der jüdischen Geschichte, der Geschichte der Krimtataren, des Krimkhanats und des Osmanischen Reiches, der Geschichte Habsburgs oder der Geschichte Ungarns und der Tschechoslowakei beschäftigen. Und es gibt immer mehr Publikationen, die das überzeugend belegen.