Wir danken dem Kooperationsprojekt "Musikkulturen der Bukowina" (Bukowina Institut, Kulturreferentin für Siebenbürgen), dem Schlesischen Museum zu Görlitz und dem Bildarchiv des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung für die Zurverfügungstellung der Fotografien.
Hochaktuell: Wissenschaftskommunikation
Die Frage, wie wissenschaftliche Informationen für eine große Öffentlichkeit verständlich, sachlich korrekt und ausgewogen präsentiert werden können, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder intensiv diskutiert. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurden selbst komplexe medizinische und ethische Fragestellungen zur besten Sendezeit in Nachrichtensendungen und Talkshows verhandelt. Seit Beginn der Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine am 24. Februar 2022 erfahren auch geisteswissenschaftliche Expertisen eine neue Relevanz. Dabei ging und geht es keineswegs nur um die fachliche Einordnung der militärischen Kriegsereignisse und ihrer Folgen, sondern um die Reaktion auf einen Krieg, der eben auch im Namen und unter dem Deckmantel von vorgeblich geschichtswissenschaftlichen und kulturhistorischen Argumenten geführt wird. Geschichte und Geschichtsschreibung werden durch Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin gezielt politisch missbraucht und propagandistisch verfälscht, politisch-militärische Ziele ebenso zynisch wie perfide mit vermeintlichen historischen Fakten und Referenzen gerechtfertigt.
Wie und in welchem Umfang dies geschieht, ist für thematische Einsteiger und auch mit einem soliden mitteleuropäischen Allgemeinwissen in der Hinterhand kaum einzuordnen: Nun spielt plötzlich das Bild des mittelalterlichen Großreichs der Kiewer Rus als angebliche Keimzelle der – und vor allem: einer – russischen Nation wieder eine politische Rolle; einem seit rund 800 Jahren untergegangenen Staatswesen, das hierzulande kaum bekannt ist. Dem heutigen europäischen Staat der Ukraine wiederum wird mit pseudo-kulturhistorischen und ‑landesgeschichtlichen Einlassungen willkürlich die Existenzberechtigung abgesprochen. Schon seit Beginn des Konfliktes, 2014, werden selektiv herausgegriffene Einzelereignisse der regionalen Geschichte in die Waagschale der aktuellen Geopolitik geworfen, seien es die kaiserlich-russländische Annexion der Krim 1783/84 oder ein angeblich eigenmächtiges "Verschenken" der Halbinsel an die ukrainische Sowjetrepublik 1954 durch Nikita Chruschtschow (1894–1971).
Das Copernico-Portal
Nicht nur die Ukraine mit ihrer Vielzahl an historischen Regionen ist ein gutes Beispiel für die vielseitige, wechselvolle und komplizierte Geschichte Ostmittel- und Osteuropas. Länder wie sie und die aktuelle politische Situation unterstreichen die Notwendigkeit von Online-Angeboten, die die inhaltlichen Hürden in der Wissensvermittlung senken und den hier tätigen Einrichtungen und Personen zu größerer Sichtbarkeit verhelfen. Dies ist die Aufgabe des seit 2019 am Marburger Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung aufgebauten und 2021 gestarteten Online-Portals Copernico. Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen Europa. Entwicklung und Aufbau des Portals wurden gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).
Copernico ist mehreres zugleich, v.a. ein Recherche-, Transfer- und Verbundportal. In seiner Recherchedatenbank lassen sich die unterschiedlichen Tätigkeiten, Angebote und Themen eines wachsenden Partnernetzwerkes recherchieren, das mittlerweile ungefähr 30 Einrichtungen umfasst. Einzeln beschrieben und in der Datenbank auffindbar sind ihre Forschungsprojekte, Förderprogramme, Veranstaltungsreihen, Ausstellungen, Schriftenreihen, Sammlungsbestände, Online-Angebote oder Profile der Einrichtungen selbst. Zum Netzwerk gehören Museen, Forschungseinrichtungen, wissenschaftliche Bibliotheken und Kulturreferate, die sich mit der Erforschung und Vermittlung der Geschichte und des Kulturerbes der Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer beschäftigen.
Im Zentrum stehen dabei weniger die heutigen Staaten als die Geschichte eines kulturell und historisch vielschichtigen Raumes, der im Westen bis an die Oder, also ins tiefste Mitteleuropa, im Osten bis nach Zentralasien und Sibirien reicht. Es ist eine besondere Herausforderung, dass sich das Arbeitsgebiet des Portals nicht einfach auf eine Himmelsrichtung, ein paar Ländernamen oder eine einzelne europäische Großregion erstreckt.
Zugleich will Copernico aktuelle Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Themen niedrigschwellig vermitteln: In der Rubrik Themen werden regelmäßig neue inhaltliche Schwerpunkte präsentiert, die ausgewählte Aspekte und Fragestellungen zur Geschichte und zum kulturellen Erbe beleuchten und in sich nicht abgeschlossen sind, sondern erweitert werden können. Ziel ist es, in der Recherche-Datenbank v.a. die Angebote des DACH-Raumes zu sammeln. Das Herausgeber:innengremium des Themenmagazins wiederum ist international besetzt.
Zusätzlich gibt es einen Blog, der auch tagesaktuellere Inhalte, ausgewählte Einzeltexte und Videos oder Aufrufe zur Einreichung von neuen Beiträgen präsentiert. 2022 haben eine Reihe von Blogbeiträgen im Kontext der Portalthemen auf den Krieg in der Ukraine reagiert. Sie stellen beispielsweise Projekte zur digitalen Dokumentation des durch den Krieg bedrohten Kulturerbes (Backup Ukraine) oder Museumsinitiativen zum Euromaidan vor. Interviews wurden mit der Deutschland-Präsidentin des Internationalen Museumsrats (ICOM), Beate Reifenscheid-Ronnisch, und Quinn Dombrowski geführt, einer der Koordinator:innen des Projektes SUCHO – Saving Ukrainian Cultural Heritage Online, das die Sicherung des digitalen ukrainischen Kulturerbes zum Ziel hat.
Polen spielt im Portal eine besondere Rolle und bildet einen geografischen Schwerpunkt. So gehört in der Recherchedatenbank das geografische Schlagwort "Polen" zum meistvergebenen Länderschlagwort aus dem Arbeitsgebiet.
Was ist das Besondere am Copernico-Portal?
Copernico unterscheidet sich v.a. in zweierlei Hinsicht von vielen anderen Portalen im Netz. Einerseits ist mit ihm ein fortdauernder, intensiver Infrastrukturaufbau verbunden. Die Beiträge liegen nicht einfach nur in einem Content-Management-System im Hintergrund, aus dem heraus sie auf der Portaloberfläche ausgespielt werden. Erstellt, verwaltet und redigiert werden die Inhalte in einer externen Erfassungssoftware (digiCULT.web). Angeschlossen sind weitere Datenbanken und Anwendungen – ein eigens entwickelter Historischer Thesaurus (HIT), Personen-, Organisationen-, Orts- und Literaturdatenbanken –, die auch ein optimales Information Retrieval, also ein optimales Suchen und Finden der Inhalte im Portal gewährleisten.
Für den Aspekt des Wissenstransfers und der Wissenskommunikation ist wichtig, wann und wie diese Daten ausgespielt und angezeigt werden. Denn hier liegt der zweite große Unterschied zu vielen anderen Angeboten: Das Portal hat dezidiert den Auftrag, unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen, soll das bestehende Publikum des Netzwerks online erhalten, und neue, v.a. jüngere Nutzer:innen gewinnen. Es soll dabei zum einen den niedrigschwelligen Einstieg in komplexe Fragestellungen, zum anderen auch Expert:innen einen Mehrwert bieten.
Kann das funktionieren? Selbstverständlich gibt es Inhalte und Bereiche, die für bestimmte Nutzer:innen interessanter oder relevanter sind als für andere. Viele Einträge des Recherchemoduls sprechen beispielsweise eher die Fachöffentlichkeit an – etwa, wenn es um Forschungsprojekte oder Förderprogramme geht. Das Themenmagazin wiederum bietet auch Einführungstexte, die etwa im Schwerpunkt Migrationsgeschichte(n) in Grundbegriffe einleiten. Überhaupt wird im Magazin ein größeres Spektrum an inhaltlicher Tiefenschärfe geboten: Es gibt neben ausführlicheren Hintergrundartikeln auch multimediale Reportageformate, sogenannte Webdokus, beispielsweise zum Deutschen Schauspieltheater in Temirtau oder zu einer oberschlesischen Familie und ihrem Neuanfang im Westdeutschland der Nachkriegsjahre. Bei der Auswahl der Themen wird darauf geachtet, ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen eher schweren, kontextreichen und leichteren, alltagsnäheren Schwerpunkten aufrecht zu erhalten, wobei letztere nichtsdestoweniger in hintergründige historische Zusammenhänge überleiten sollen.
Beiträge zur Rolle des Jazz im Ostblock und zur musikalischen Gattung der Oper reißen so immer auch das größere historische Bild auf, im konkreten Fall zur sozialistischen Kulturpolitik oder den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts. Ähnlich leiten kurze museale Objektgeschichten in Zusammenhänge von Flucht und Migration im 20. Jahrhundert ein, oder ist in einem Artikel über die prominente Rolle von Mayonnaise in der russischen Küche auch etwas über den französisch-russländischen Kulturtransfer zur Zarenzeit und die politisch gesteuerte sowjetische Nahrungsmittelpolitik zu erfahren.
Fast entscheidender jedoch ist, dass das Portal mit seinem Datenreichtum nie mit der Tür ins Haus fällt. Der Einstieg in seine Inhalte wird immer möglichst leicht und intuitiv gehalten. Selbst die Datensätze des Recherchemoduls sind illustrationsstark, verschaffen mit Teasern und konzisen Beschreibungen auch Einsteiger:innen binnen kurzer Zeit einen Überblick über den beschriebenen Gegenstand. Weitere Metadaten, eine intensive Verschlagwortung und eben jene strukturierten Angaben, die eher für die Fachcommunity relevant sind – Beteiligte, Kontaktmöglichkeiten, Laufzeiten, Förderlinien, Literatur und dergleichen mehr – sind vorhanden, aber in teils ausklappbaren, farbigen Bereichen gegen Ende der Datensätze untergebracht.
So ist auch die Vorgehensweise bei den Artikeln und Textbeiträgen: Der wissenschaftliche Apparat ist auf das Notwendige reduziert, aber vorhanden. Fußnoten, Literaturangaben, die Verschlagwortung und wissenschaftliche Zitierhinweise, die immer einen Permalink, bei längeren Texten auch einen DOI (Digital Object Identifier) enthalten, sind den Texten nachgestellt und teils zunächst eingeklappt, trotzdem leicht auffindbar und überschaubar. Der Text wird soweit möglich entlastet: Wissenschaftliche Fach- und Distinktionssprache werden vermieden, Fachbegriffe über ausklappbare Infoboxen im Text erläutert. Orte und Länder werden mit eigenen Infofenstern erklärt, die historische oder fremdsprachige Namen, Kurztexte und Karten bieten.
Das Jahr 2023 im Copernico-Portal
2023 wird eine ganze Reihe neuer Inhalte im Portal veröffentlicht werden. Dazu gehören im Frühjahr und Herbst die neuen Themenschwerpunkte Das östliche Europa: Räume, Grenzen, Projektionen und Jüdisches Leben im östlichen Europa in Vergangenheit und Gegenwart sowie Beiträge der Tagung Deutsche Narrative zu Russlands Krieg in der Ukraine – Positionen und Gegenpositionen, die vom 22. bis zum 24. Februar im Rahmen der Themenwoche "Krieg in der Ukraine – Perspektiven der Wissenschaft" der VolkswagenStiftung stattfindet. Zurzeit läuft zudem der Aufruf für Beiträge zum Schwerpunkt Osteuropa (post)kolonial: Erfahrungen, Vorstellungen, Forschungsperspektiven, der Anfang 2024 veröffentlicht werden soll.
Bereits im März werden zwei E-Learning-Kurse zur Geschichte und Gegenwart der Ukraine und den Hintergründen des Ukraine-Krieges veröffentlicht. Sie werden federführend durch das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) erarbeitet. Einer der Kurse richtet sich an Erwachsene, der zweite an Schüler:innen ab Klasse 7.
Den Auftakt macht jedoch aktuell "Kopernikus#550", ein Themenschwerpunkt zum 550. Geburtstag des v.a. als Astronom bekannten Universal- und Weltgelehrten Nikolaus Kopernikus (1473–1543). Die Beiträge führen ein in die von ihm unfreiwillig ausgelöste wissenschaftliche Revolution, zeigen anhand von interaktiven Karten das persönliche Netzwerk, seine Lebensstationen, Erinnerungsorte und die mit Kopernikus verbundenen Gesellschaften. Die Online-Beiträge begleiten die gleichnamige Ausstellung am Westpreußischen Landesmuseum, die am 9. März in Warendorf eröffnet wird.
Die historische Figur des Nikolaus Kopernikus ist als Namensgeber natürlich auch von besonderer Bedeutung für das Portal selbst. In seiner im Portalnamen leicht abstrahierten und abgewandelten Form soll der Name Entdeckung und Exploration, die Erschließung und Einordnung zuvor unbekannter Zusammenhänge und die Neujustierung überkommener Vorstellungen und Weltbilder assoziieren. Wie Kopernikus#550 ebenfalls erläutert, ist der Name auch in einer anderen Hinsicht repräsentativ: Die historische Gelehrtenfigur Kopernikus zeigt beispielhaft, wie umstritten und umkämpft das historische Erbe Europas ist, wie erbittert um die Deutung und – nationale, sprachliche, kulturelle – Zuordnung von historischen Personen, Themen und Orten gerungen wurde und wird, die sich in heutige, eindeutige Kategorien eigentlich gar nicht einordnen lassen. Übrigens – wie nennt und schreibt man ihn denn nun? Koppernigk? Coppernicus? Kopernikus? Kopernik? Copernic? Oder: Copernico?