Die deutsche, russische und die ukrainische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk im Februar 1918.
Mit dem russischen Überfall auf den seit 1991 souveränen wie eigenständigen Staat der Ukraine am 24. Februar 2022 ist der geografische, politische und historische Raum Osteuropa wieder in das Blickfeld der gesamten Welt gerückt. Tausend Jahre der verflechtungsreichen Historien der einzelnen Regionen wie Staaten Mittel- und Osteuropas kulminieren in den Ereignissen der Gegenwart und erfordern seitens der Forschung eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart, von der erstere im Falle der langen wie komplexen russisch-ukrainischen Verflechtungsgeschichte durch eine Vielzahl von Gewalterfahrungen geprägt ist.
Zu den primären Argumenten, mit denen Putin den seit nun mehr einem Jahr anhaltenden Krieg "historisch" zu rechtfertigen versucht, zählt die konsequente Negation ukrainischer Nationsbildung und damit ukrainischer Staatlichkeit.
Der vorliegende Beitrag setzt an diesem Punkt der Negation historischer Tatsachen an. Anhand von ausgewählten Presseerzeugnissen aus dem Jahr 1918 soll nachgezeichnet werden, wie es um den deutschen Blick auf die junge ukrainische Staatlichkeit bestellt war. Die Bedeutung der deutsch-ukrainischen Beziehungen am Ende des Ersten Weltkriegs spielt im deutschen öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle. Dabei stellt die Anerkennung der ukrainischen Staatlichkeit durch die Mittelmächte im Zuge der Verhandlungen von Brest-Litovsk ein Schlüsselereignis zum Verständnis der Region darf. Im sogenannten "Brotfrieden" garantierte die Ukraine hohe Getreideabgaben zur Sicherung der Versorgung der Mittelmächte. Überhaupt kann der Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Katalysator für den Ukrainediskurs im Deutschen Kaiserreich gesehen werden: Die Frage nach der Ukraine wird im Dezember 1914 erstmalig durch den Publizisten Paul Rohrbach gestellt (Golczewski, Deutsche und Ukrainer, S. 218).
Das Deutsche Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek
Der Zugriff auf den zu untersuchenden Korpus erfolgt digital. Über die Webpräsenz der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) steht das Deutsche Zeitungsportal zur Verfügung. Dieses Gemeinschaftsprojekt von Bund, Ländern und Kommunen wurde im Jahr 2009 beschlossen und wächst seitdem sukzessive. Hierüber sind historische Zeitungen aus den Jahren 1671 bis 1978 greifbar. Um sich in diesem umfangreichen Korpus an Quellenmaterial aus über drei Jahrhunderten zu Recht finden zu können, bietet die Plattform des Deutschen Zeitungsportal eine Reihe technischer Möglichkeiten zur weiteren Eingrenzung des Themas bzw. zur Spezifikation der zu untersuchenden Quellen. Einzelne Zeitungen können entweder über Titel, Orte oder Jahre ausgewählt werden, und über die Volltextsuche kann der gesamte zur Verfügung stehende Korpus nach einzelnen oder mehreren Schlagwörtern durchsucht werden.
So liefert beispielsweise die Kombination der Schlagwörter "Ukraine + Staat" ca. 34.722 Ergebnisse (!), wodurch sich ein breites Spektrum möglicher Quellen zur Diskussion der Frage nach der ukrainischen Staatlichkeit eröffnet.
Nach erfolgter Eingabe werden die Suchergebnisse im Einzelnen dargestellt. Diese können alphabetisch, chronologisch oder nach Relevanz sortiert ausgegeben werden. Darüber hinaus werden weiterführende Daten zu den aufgefundenen Suchergebnissen präsentiert: sämtliche Zeitungen, in denen die entsprechenden Suchbegriffe auftreten, sowie Angaben zu Datengeber, Sprache und Verbreitungsort der jeweiligen Zeitung(en). Ebenso stehen Angaben darüber zur Verfügung, wie viele Treffer für die vorherige Suche in den jeweiligen Zeitungen vorliegen – diese können über ein separates Menü aufgerufen und nachgeschlagen werden. Die nun folgenden Fallbeispiele sollen die Fülle an Quellenmaterial und die darin anhaltende Diskussion zur Staats- und Nationsbildung der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts exemplifizieren.
Ausgewählte Pressezeugnisse zur Frage der ukrainischen Staatlichkeit 1918
Über die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Hinblick auf die Ukraine konstatiert das liberale Auer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge in einer Meldung vom 23. Januar 1918:
[…] Wir glauben gut unterrichtet zu sein, wenn wir annehmen, daß durch den etwaigen Friedensschluß zwischen der Ukraine und den Mittelmächten das Selbstbestimmungsrecht sowohl der auf österreichischem Gebiet lebenden Ukrainer als auch der auf ukrainischem Gebiet lebenden Polen vollständig gewahrt werden wird, freilich in einer Form, die in vollkommener Weise den staatlichen Zusammenhang sowohl der Ukraine wie den österreich-ungarischen Monarchien respektiert.
Bezüglich der Frage nach ukrainischer Staatlichkeit wird das Selbstbestimmungsrecht zunächst hervorgehoben, hier im Kontext der im Habsburgerreich lebenden Ukrainer:innen sowie der auf ukrainischem Gebiet lebenden Pol:innen. Jedoch erfährt diese Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechtes an die Ukraine eine deutliche Abmilderung, wenn der Artikel damit fortfährt,
[…] daß auch das politische Selbstbestimmungsreicht gewisse Grenzen findet, nämlich die der Zweckmäßigkeit und des ruhigen Verharrens bei der Abwicklung groß angelegter Pläne. […] Auch darf nicht übersehen werden, daß alles Selbstbestimmungsrecht seine unbedingten Grenzen findet an den Erfordernissen etwaiger Koalitionen, durch deren Bindung man offenbare Vorteile, und zwar keine geringen, erreichen konnte. Schließlich ist auch das Selbstbestimmungsrecht ein Gut, das nur dann Nutzen schafft, wenn es mit weitsichtiger Vernunft und erwägender Klugheit angewandt wird. (Auer Tageblatt, 23.1.1918, S. 1)
Das politische Selbstbestimmungsrecht, womit wiederum die Grundlage für Staatlichkeit gegeben ist, wird mit der Notwendigkeit weitsichtigen wie klugen Handelns in Verbindung gesetzt – das Vorhandensein eben dieser Notwendigkeit in Bezug auf die Ukraine bzw. ihre Akteure in Zweifel gestellt, ihre Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund der Diplomatie mit den übrigen europäischen Akteuren relativiert.
Über die anhaltend angespannte Lage in der Ukraine und den so bezeichneten „Brotfrieden“, in welchem sich die Ukraine zwecks der Versorgung der Mittelmächte zur Abgabe hoher Getreidemengen verpflichtet hatte, berichtet das linksliberal verortete Berliner Tageblatt vom 17. Februar 1918:
Die Meinung könnte entstehen, daß ein deutscher Vormarsch in die Ukraine beabsichtigt sei.
Eine solche Annahme würde, wie wir glauben, erfreulicherweise auf [ein]em Irrtum beruhen.
Deutschland kann keineswegs besonders wünschen, in die inneren Verhältnisse der [Ukra]ine gewaltsam einzugreifen. Ein solches Eingreifen in [den] Parteikampf eines anderen Landes kann zu Wirkungen [und] besonders zu Nachwirkungen führen, die nicht gerade [erfr]eulich sind. Indessen, es ist nicht zu verkennen, daß die [gegen]wärtige ukrainische Regierung sehr ernsten Schwierig[keiten] gegenüber steht. Die Uebersiedlung der Rada von Kiew nach Schitomir ist wohl nicht nur erfolgt,
weil durch solche «örtliche Näherrückung» die Verbindung mit [Oest]erreich-Ungarn verbessert werden könnte, sondern es [könn]ten noch andere Ursachen eingetreten sein. Der vom [Gra]fen Czernin verkündete «Brotfrieden» hängt, wie jeder [andere], vom Bestand der gegenwärtigen Machtverhältnisse in [der] Ukraine ab. Gelingt es den Bolschewisten, mit ihren [«Rot]en Garden» die Herrschaft an sich zu reißen, so verschwinden dieser «Brotfrieden» und alle Berechnungen, die man auf ihm aufgebaut hat. (Berliner Tageblatt, 17.02.1918, S. 1)
Wird die anhaltend komplexe und schwierige innenpolitische Lage zwar wahrgenommen und knapp skizziert, so findet ebendiese Schilderung ausschließlich vor dem Hintergrund eigenständiger ökonomischer bzw. geopolitischer Interessen statt, deren Langfristigkeit auf die Wahrung des "Brotfriedens" und das politische Verhältnis zu Sowjetrussland ausgerichtet ist. Wie instabil der "Brotfrieden" nicht zuletzt aufgrund der Konfliktlage in der Ukraine gewesen ist, zeigen die im Band von Wolfram Dornik und Georgiy Kasianov versammelten Beiträge auf. (Lieb/Dornik, Military Operations, in: Dornik u.a., Emergence of Ukraine, 2015, S. 200)
Parallel dazu findet die laufende Diskussion über die Friedensverhandlungen sowie die Situation mit der Ukraine innerhalb der Regierung des Deutschen Kaiserreiches ebenso eine öffentliche Resonanz innerhalb der deutschen Presselandschaft. Am 22. Februar 1918 berichtet der sozialdemokratische Vorwärts über die anhaltenden Reichstagsdebatten zum Frieden mit der Ukraine und die damit verbundenen territorialen Komplikationen:
Der ukrainische Abg. Lewyckyi begrüßte die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Ukraine durch den Friedensschluß mit der ukrainischen Republik, sowie die heutige Erklärung des Obmanns des Polenklubs, daß Polen mit dem ukrainischen Staate in ein freundschaftliches Verhältnis treten wolle. Die Ukrainer müssten jedoch gegen die Auffassung der Polen protestieren, daß der Friede auf Kosten des polnischen Volkes und des polnischen Gebietes Cholm geschlossen worden sei, auf welch letzteres Gebiet die Polen ein Recht hätten. […] Daszynski (polnischer Sozialdemokrat) erklärte:
Durch die Brest-Litowsker Verhandlungen ist das Vertrauen der Polen getötet worden. Künftig werde zwischen Ukrainern und den Polen ein Elsaß-Lothringen bestehen, an welchem beide Staaten Jahrzehnte bluten werden. (Vorwärts, 22.2.1918)
Die schwierigen Grenzfragen zwischen den jungen Staaten Polen und der Ukraine werden der deutschen Leser:innenschaft durch das sehr präsente Beispiels Elsaß-Lothringens dargelegt.
Zusammenfassung
Anhand der hier dargestellten Einzelbeiträge konnte gezeigt werden, dass die Diskussion um die Frage der ukrainischen Nations- bzw. Staatsbildung und die damit verbundene Genese vor allem in den übergeordneten ökonomischen oder geopolitischen Kontext ihrer Zeit eingebunden ist. Die deutsch-ukrainischen Beziehungen wiederum gestalten sich im untersuchten Quellenkorpus als asymmetrisch.
Gleichwohl liegt darin zugleich die Motivation begründet, den herangezogenen Korpus in seiner Tiefe noch weiter zu untersuchen – das Potenzial für weitere Arbeiten, welche die Position der Ukraine als lebendiges Subjekt der Geschichte hervorheben und somit putinistische Mythen um eine angebliche Handlungsunfähigkeit der Ukraine im Rahmen selbstständiger Staatsfindung entschieden zurück weisen, ist gegeben.
Dieser Beitrag entstand auf Grundlage eines Seminars zur Konfiguration ukrainischer Staatlichkeit und der damit verbundenen Hausarbeit an der MLU. Für den Austausch im Seminar, die Möglichkeit der Publikation sowie wertvolle Korrekturen und Hinweise danke ich Dr. Sven Jaros sehr herzlich. Fabian Baumann (Wien) sei ebenfalls für wertvolle Anmerkungen gedankt.