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Bericht: "Що робити? – Was tun?". Studentische Tagung zur Osteuropaforschung

Series: Early career reserchers' outlooks on Polish studies
Contribution by Stefan Strietzel, Nelly Saibel

"Що робити?" – ukrainisch für "Was tun?" – lautete der Titel der Studentischen Tagung zur Osteuropaforschung, deren Premiere am 7.–9. Oktober 2022 am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin stattfand. Studierende und Nachwuchswissenschaftler:innen diskutierten über die Frage, in welcher Position sich die Osteuropastudien angesichts gegenwärtiger multipler Krisen befinden und welches Potenzial sie zum Verständnis selbiger bergen. Der Titel der Studentischen Tagung war richtungsweisend, da es an dem Wochenende vor allem um die Frage ging, wie sich die Osteuropaforschung, die häufig eine russozentrische Perspektive einnimmt, neu ausrichten kann. Auf die Frage "Was tun?" antworteten die Teilnehmer:innen verschiedener Fachdisziplinen unterschiedlich, jedoch waren sie sich in einem Punkt einig: In der Osteuropaforschung muss etwas getan werden, und eine nachwuchswissenschaftliche Perspektive kann hierzu einen wertvollen Beitrag leisten.

Bei einem Empfang im Berliner Zentrum konnten sich die Teilnehmer:innen, die nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus England, Litauen und der Ukraine angereist waren, vorab kennenlernen. Nach der offiziellen Begrüßung am Samstagmorgen durch die Veranstalter:innen folgte eine Keynote von Prof. Riccardo Nicolosi (München). In diesem Beitrag wurden die Weichen für die darauffolgenden Vorträge und Diskussionen gestellt, zumal der Literaturwissenschaftler die kontinuierlichen russländischen Kriegserzählungen zum Gegenstand machte und sie als paranoides Reenactment des "Großen Vaterländischen Krieges" bezeichnete, in dessen Rahmen der Krieg als nie beendet und immer noch andauernd präsentiert werde. Die rhetorische Logik einer Verteidigung gegen den "Faschismus" an der Westgrenze zu Russland diene hierbei als Legitimationsstrategie für gegenwärtiges kriegerisches staatliches Handeln, insbesondere in der Ukraine.

Im Anschluss an die Keynote folgte das Panel Erinnerung in der Literatur. Nelly Saibel (Dresden) widmete sich der dokumentarischen Prosa von Svetlana Aleksievič. Die Referentin schlug vor, das Schreiben von Aleksievič als affektives Gegen-Erinnerungsregime im russländischen Diskurs über die postsowjetische Vergangenheit zu verstehen. Amanda Beser (Potsdam) knüpfte hieran an, indem sie Jáchym Topols "Die Teufelswerkstatt" in ihrer literarischen und erinnerungskulturellen Doppelstruktur beleuchtete. Die Frage "Wer spricht?" wurde hierbei durch die Fragen "Wer lacht?" und "Wer spielt?" ergänzt, um nach dem Frust- und Lustpotenzial im Topolschen Katastrophentourismus zu fragen. In der anschließenden Paneldiskussion waren sich die Referentinnen darüber einig, dass Literatur über das Potenzial verfüge, die politische Verwertung historischer Narrative zu reflektieren, und eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung dazu beitragen könne, die Narrative der erinnerungskulturellen Praxen in Osteuropa zu dekodieren bzw. dekonstruieren.

In einer weiteren Keynote setzte sich Dr. Franziska Davies (München) mit den Ambivalenzen des Fokus auf Russland in der historischen Osteuropaforschung auseinander. Davis plädierte in ihrem Vortrag für eine Dekolonialisierung selbiger, so dass Ambiguitäten und (Dis-)Kontinuitäten in der verwobenen Geschichte des erweiterten Osteuropa besser verstanden werden könnten. Dazu gehöre auch ein institutioneller Wandel, zumal ohne Promotion oder Habilitation zur russischen Geschichte selten ein Lehrstuhl vergeben werde. So wichtig das Zarenreich und die Sowjetunion für die Geschichte Osteuropas gewesen seien, so seien die kleineren Länder Ost(mittel)europas und ihre Perspektiven in Forschung und Lehre nach wie vor unterrepräsentiert. Das zeige der Mangel an Expertise zur Ukraine heute ebenso wie zuvor zu den Protesten in Belarus und Zentralasien. Ein Wandel hin zu einer diverseren und multiperspektivischen Osteuropaforschung werde nicht von selbst kommen, sondern müsse von einer neuen Generation institutionell erkämpft werden. Davis betonte dabei zugleich die Relevanz und Verantwortung der Wissenschaftskommunikation in die breitere Öffentlichkeit.

Im Panel Politik und Weltanschauung sprach zunächst Laura Clarissa Loew (Gießen) über die Erforschung historischer Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit am Beispiel des jüdischen "Vierländerrats" in Polen. Mehrsprachigkeit spiele demzufolge eine doppelte Rolle, sowohl als Forschungsgegenstand als auch als Fachkompetenz in der Osteuropaforschung. Auf die Frage "Was tun?" antworte die Referentin mit einem klaren Appell: "Lernt Sprachen!", da die (historische) Mehrsprachigkeit in der Osteuropaforschung ein Schritt zu ihrer Dekolonialisierung sei. Thekla Molnar (Lüneburg) folgte mit einem Vortrag zum humanistischen Marxismus in Osteuropa, in dem sie die Arbeiten der jugoslawischen Praxisgruppe der 1960er und der Budapester Schule ideengeschichtlich rekonstruierte. In der theoretischen Auseinandersetzung wurde nicht nur der Unterschied zwischen westlichem und sowjetischem Marxismus hervorgehoben, sondern auch der Stellenwert der marxistischen Theorie in Osteuropa betont, durch die eine Form der Sozialkritik geübt werden konnte. Franziska Arndts (Köln) anschließender Vortrag widmete sich den Chancen und Risiken kirchlichen Einflusses auf die demokratische Entwicklung in Polen und in Georgien aus vergleichender Perspektive. Der Einfluss der Kirche, der häufig Gegenstand von Kritik sei, wurde von der Referentin gegen den Strich gelesen, indem sie fragte, welchen positiven Einfluss die Kirche auf die demokratische Entwicklung im erweiterten Osteuropa haben könne. Christine Kwast (Kiel) knüpfte mit der Frage nach dem Einfluss des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf den öffentlichen Diskurs an, wofür sie die polnischen Wiadomości der deutschen Tagesschau gegenüberstellte. Auf die Frage "Was tun?" antwortete die Referentin hierbei nicht nur im Rahmen ihrer Forschungen mit einem "Nachrichten gucken und studieren!". In der anschließenden Paneldiskussion wurde über die Rolle der Öffentlichkeit und den Einfluss der Digitalisierung auf Politik und Forschung im erweiterten Osteuropa diskutiert.

Emily Hester (Dartmouth) stellte in ihrem Vortrag vergleichend vor, wie die USA und die UdSSR versucht hatten, die Öffentlichkeit im Ausland zu beeinflussen. Dabei konzentrierte sie sich auf zwei Zeitschriften – Америка und Soviet Life – die aufgrund eines bilateralen Abkommens im jeweils anderen Staat vertrieben werden durften und die eigene Ideologie verankern sollten. Sie resümierte, dass die USA mit ihrem Vorhaben aufgrund einer besseren Finanzierung, visuellen Ästhetik und rhetorischen Ausrichtung erfolgreicher waren als die UdSSR. Vitoriia Grivinas (St. Andrews) Vortrag thematisierte den urbanen Wandel in Charkiw und das sich ändernde Selbstverständnis der Stadt seit Beginn des Krieges 2022. Anhand von Beispielen wie der Umbenennung von Straßen, der Dekonstruktion und Errichtung von Erinnerungsorten und dem Umgang mit dem durch den Krieg zerstörten sowjetischen Erbe erläuterte sie, wie zuvor geltende Regeln des öffentlichen Raums durch die Bestrebungen der Stadtverwaltung, des Militärs und lokaler Aktivist:innen neu ausgehandelt werden müssen. Die sich ändernden urbanen Praktiken führten daher zu einer neuen städtischen Identität, Konflikten und gesellschaftlichen Entwicklungen. Im Vortrag von Ieva Melgalve (Riga) ging es um kollektive Erinnerungsformen in Lettland am Beispiel von zwei zeitgenössischen lettischen Künstlern. Dafür stellte sie die Arbeiten von Kristīne Krauze-Slucka vor, die private Fotosammlungen zerstörte, um sie dem Diktat der nationalen Erinnerung zu entziehen, und Artūrs Berziņš, der Fotografien digital mit neu interpretierten nationalen Symbolen ausstattete. Sie fragte, wie persönliche Erinnerungen die nationale kollektive Erinnerung mitgestalten und welche Rolle die Kunst darin einnehmen kann. Anastasiia Gloza (Kiew) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem Zusammenhang des Auslandsvermögens der Visegrád-Staaten und der Dynamik der Wechselkurse. Die Ergebnisse der Interdependenzanalyse könnten als Grundlage einer ausgewogenen Investitionspolitik gesehen werden. Mithilfe des Grubel-Lloyd-Indexes schloss sie, dass der reale Wechselkurs einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die Struktur des Auslandsvermögens der V4 habe. Sie empfahl daher eine Neuausrichtung der staatlichen Strategie für Portfolio- auf Direktinvestitionen im Falle etwa der Slowakei.

Das Panel Sprache und Identität leitete Dorothée M. Mönch (Mainz) mit einer Analyse der zeitgenössischen autokratischen Machtstruktur Russlands ein. Dazu griff sie auf Luhmann und Foucault zurück, um politische Ideen wie Wladislaw Surkows "souveräne Demokratie" zu dechiffrieren und ihre realpolitischen Konsequenzen abzuschätzen. Die gegenwärtige Autokratie in Russland könne sich ihrer Meinung nach auf Dauer nicht halten. An das Verhältnis von Sprache und Macht knüpfte Antonina Melchikova (Hamburg) mit einem Vortrag zum Russischen Neusprech im Krieg an. Sie konstatierte eine Überflutung der russischen Massenmedien mit neuen Begrifflichkeiten und zeichnete den Versuch einer Orwellschen sprachpolitischen Umgestaltung Russlands nach. Im dritten Vortrag des Panels sprach Anastasiia Marsheva (Gießen) über das Selbstbild junger Menschen aus Russland. Auf der Grundlage einer qualitativen Inhaltsanalyse und vor dem Hintergrund postkolonialer Ansätze untersuchte sie Veränderungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dabei stellte sie ein immer wieder auftretendes negatives Selbstbild aufgrund verinnerlichter antiosteuropäischer Diskurse fest.

Philine Bickhardt (Berlin) verglich in ihrem Vortrag Vremja sekond chėnd von Svetlana Aleksievič und Blokadnaja kniga von Daniil Granin und Ales Adamovič. Dabei nahm sie unter formalgestalterischen Gesichtspunkten insbesondere auf den fünften Teil von Aleksievičs Werkzyklus Bezug. Sie betonte die Verbindung sujetbildender Zeitenwenden mit einem verstärkten Rückgriff auf die literarische Form der Dokumentalistika, die Aleksievičs Schaffen maßgeblich prägt. Vor diesem Hintergrund verglich Philine Bickhardt abschließend Adamovič und Aleksievič unter dem Vorzeichen des literarischen Montageverfahrens, wobei sie besonders die Prägnanz der literarischen "Zeugenschaft" in Aleksievičs Werk betonte und als Ausblick für die weitere Aleksievič-Forschung benannte. In ihrem Vortrag warf Luzie Horn (Mainz) ein Schlaglicht auf das Werk der russischen Dramatikerin Evdokija Petrovna Rostopčina, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg wirkte. Besonders den Aspekt der räumlichen Verhaftung im Privaten arbeitete Luzie Horn als maßgeblichen Umstand für die wenig ausgeprägte zeitgenössische Rezeption heraus. Daran schloss die Vortragende Überlegungen zur Kanonentwicklung und der fehlenden Repräsentation von Schriftstellerinnen im osteuropäischen Literaturkanon an. Eva Hückmann (Potsdam) besprach anhand des Romans Der Zorn des Dionysos von Evdokija A. Nagrodskaja die Projektion des klassischen weiblichen Musen-Topos auf einen männlichen Protagonisten. Vor diesem Hintergrund untersuchte sie, wie klassische Zuschreibungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit im Roman angewandt werden, und inwiefern eine Verquerung derselben stattfindet. In diesem Kontext stellte Eva Hückmann dar, wie die Figur der Tat’jana als Verweis auf Tat’jana Larina in Puškins Eugen Onegin gelesen werden kann.

Das Panel zu Grenzregimen in Polen war geschichtswissenschaftlich orientiert. Carl Moritz Löning (Berlin) referierte über Motive in Justizakten zur illegalen Einwanderung von "Ostjuden" in Oberschlesien 1923–1925. Dabei spielten sowohl Antisemitismus und antipolnischer Nationalismus wie die Vorstellung, das Deutsche Reich "an vorderster Front" zu verteidigen, eine wichtige Rolle. Weiterverfolgen ließe sich hier eine "Topografie des Menschenschmuggels", die sich als soziales Raumkonstrukt auffassen ließe. Tom-Aaron Aschke (Berlin) setzte sich in seinem Vortrag mit der Geschichte der eigenen Disziplin auseinander und zeigte anhand des Göttinger Arbeitskreises, welche personellen und paradigmatischen Kontinuitäten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ost(europa)forschung bestanden. Von einer "Stunde Null" ließe sich hier nicht sprechen; das Thema biete allerdings Gelegenheit zur wissenschaftlichen Selbstreflexion über politische Vereinnahmungen. So sei auffällig, wie in den Publikationen des Arbeitskreises die Worte "deutsch" und "Deutschland" allmählich durch "Abendland" ersetzt wurden – ganz auf der Linie mit der Adenauer-Regierung. Arthur Molt (Berlin) spannte in seinem Vortrag einen Bogen von den polnischen Territorialkonzepten der Zwischenkriegszeit über die Verhandlung des Themas in der Exilzeitschrift Kultura bis hin zu Bezügen zu aktuellen politischen Initiativen. Dabei standen die drei von Piłsudski in der Zwischenkriegszeit verfolgten Konzepte der "jagiellonischen Idee", des "Prometheismus" und "Intermarium" im Zentrum. Bis heute fänden sich immer wieder historische Anleihen, wie bei der Visegrád-Gruppe oder der Drei-Meeres-Initiative. Wie viel davon nur Stichworte und Vergleiche seien, und welche ideengeschichtlichen Kontinuitäten tatsächlich bestünden, müssten weitere Forschungen zeigen.

Charlotte Birnbaums (Tübingen) Vortrag beleuchtete die postsowjetische Geschichte, sozioökonomischen Konflikte und Erinnerungskultur Transnistriens. Die Vortragende betonte die Notwendigkeit, die Spannungen in Ost- und Südosteuropa nicht ausschließlich aus der russischen Perspektive zu betrachten. Dementsprechend analysierte sie die territorialen Konflikte Transnistriens und Gagausiens auf Basis lokaler und regionaler Bedingungen. Dabei sticht vor allem die örtliche Erinnerungskultur als Möglichkeit hervor, alternative Erklärungsansätze zu entwickeln. Daniel Weinmann (Tübingen) analysierte in seinem Vortrag, wie und welche historischen Narrative in staatlichen Lernvideos auf dem russischen Youtube-Pendant RuTube konstruiert werden. Dazu setzte er sich einerseits mit den Adressat:innen, der Verbreitung und Rezeption der Videos sowie den Produzent:innen, ihren Motiven und der Neuausrichtung der russischen Propaganda auf den sozialen Medien auseinander. Damit ergänzte er die bereits existierende Forschung der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik zu vergleichbaren Videos auf YouTube mit seinem russischen Pendant.

Die Tagung zeigte ein Panorama junger Perspektiven auf das Forschungsfeld Osteuropa auf. Auch wenn sich dieser Ausschnitt nicht als repräsentativ bezeichnen lässt, so zeigte sich ein thematischer Fokus auf den Zusammenhang zwischen der Erinnerungskultur an die (post)sowjetische Vergangenheit und aktuellen Ereignissen, sowie ein regionaler Fokus auf die Ukraine, Russland und Polen. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der noch lange in beiden Gesellschaften (nach)wirken wird, sind diese Interessensschwerpunkte zukünftiger Osteuropa-Expert:innen sicherlich erfreulich. Interessant ist weiterhin, dass – ganz in Übereinstimmung mit den Professuren in Deutschland – die Geschichts- und Literaturwissenschaft am stärksten vertreten waren. Beide bieten Anknüpfungspunkte an öffentliche Debatten, die dringend mit regionaler Expertise geführt werden sollten – wie Dr. Franziska Davies in ihrer Keynote betonte.

Nicht um diese auszustellen, sondern um sie zu entwickeln, war die Tagung ein sinnvoller Beitrag. Die Osteuropastudien leben als Area Studies von ihrer Interdisziplinarität und dem wissenschaftlichen Austausch. Umso erfreulicher ist, dass das Format im Oktober 2023 an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz fortgeführt werden soll.

Disciplines

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Topics

Science communication Politics of memory Future of East European Studies Networking #SolidarityWithUkraine Russia-Ukraine war Early career researchers Area studies Central and Eastern Europe
Redaktion Pol-Int

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