Beigetragen von: Hanna Lehun
Redaktionell betreut von: Lehrstuhl Entangled History of Ukraine
Die vollständige Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation hat ein schockierendes Ausmaß der Zerstörung nach sich gezogen. Es gibt einen schier endlosen Bedarf an Unterstützung zur Behebung der Schäden. Fragen, die sich aus diesem Umstand ergeben, gilt es zu verstehen und zu behandeln. Einer der am stärksten bedrohten Bereiche ist der Schutz des ukrainischen Kulturerbes. In den vergangenen fast zwei Jahren wurden viele kleine Initiativen und große institutionelle Projekte ins Leben gerufen, um ukrainische Kultureinrichtungen, Archive, Kulturschaffende usw. zu unterstützen. Leider übersteigt der Bedarf die existierenden Hilfsangebote.
Staatliche Archive nach der Besetzung
Ende 2022 haben die Arolsen Archives beschlossen, ihre Unterstützung für die Digitalisierung von Beständen aus dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine auszuweiten und ein kleines Projekt zu organisieren, um den von der russischen Aggression betroffenen Archiveinrichtungen zu helfen. Von einem Felddokumentar der Menschenrechtsorganisation Truth Hounds, die Kriegsverbrechen dokumentiert, erfuhren wir von der Situation der Archive in der enteigneten Region Cherson. Die groß angelegte Plünderung des Staatsarchivs der Region Cherson ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt; die Medien haben darüber berichtet und auf internationalen Fachtagungen wurde dazu referiert. Etwa die Hälfte aller Archivakten wurde geraubt, darunter Millionen von Dokumenten. Gar vollständig entwendet wurden die Bestände aus dem Zweiten Weltkrieg, die die gesamte Region abdecken, so die im Rahmen des Bedarfsermittlungsprojekts von Arolsen Archives am 20. März 2023 interviewte Iryna Lopushynska. Nach der Sprengung des Kachowka-Damms durch die russischen Truppen mussten die Archivmitarbeiter:innen auch die verbleibenden Bestände eilig evakuieren, um Schäden durch Überschwemmungen vorzubeugen.
Die Situation der Bezirksarchive ist in der Öffentlichkeit weit weniger bekannt, und für die Archive selbst ist es viel schwieriger, von internationaler Hilfe zu erfahren und diese zu erhalten. Das Gebäude des Bezirksarchivs in Velyka Oleksandrivka, Bezirk Beryslav, wurde schwer beschädigt. Ein Teil brannte nieder, und die Dokumente wurden von den Besatzern entweder zerstört oder schwer beschädigt. Erst nach der Befreiung gelang es den Archivmitarbeiter:innen, einen Teil der verbliebenen Dokumente in andere Räumlichkeiten zu schaffen.
Noch schlimmer ist die Situation im Bezirksarchiv in Vysokopillia. Das Archiv befand sich im obersten Stockwerk, dessen Eingänge vollständig beschädigt wurden. Mehr als sechs Monate lang versuchten Minenräumer:innen, das verminte Gebäude zu entschärfen. Das Arbeitsarchiv im Erdgeschoss konnte geräumt und teilweise ausgelagert werden; einen Zugang zu den obersten Stockwerken gibt es hingegen nach wie vor nicht. Im Sommer 2023 befanden sich alle Dokumente des Bezirksarchivs noch immer unter den Trümmern, und das vierte Stockwerk hatte bereits begonnen, eine Etage tiefer zu stürzen, berichtete Dina Shelest im Rahmen des Erste-Hilfe-Projekts für ukrainische Archive von Arolsen Archives am 23. Mai 2023.
Im Rahmen unserer Initiative konnten wir für diese und andere Archive (fünf Bezirks- und zwei Regionalarchive) die notwendigen Materialien kaufen und liefern. Dazu gehörten Luftentfeuchter, bakterientötende Lampen, Thermometer mit Hygrometer, batteriebetriebene Lampen, Archivregale und -kisten, um die Dokumente in neuen Räumlichkeiten unterbringen zu können und den Schimmelprozess beschädigter Dokumente zu stoppen. Außerdem organisierten wir Feuerlöscher und den Einbau feuerfester Türen im Archiv von Nikopol, sowie verschiedene Bürogeräte, damit die Archivar:innen ihre Arbeit wieder aufnehmen können. Scanner und andere Geräte bzw. Materialien unterstützen die Digitalisierung.
Mikroarchive verschwinden besonders schnell
Durch die Kommunikation mit unseren Kolleg:innen in der Ukraine lernten wir weitere Sammlungen kennen, die für unsere Interessen relevant sind, aber nicht in institutionalisiert sind: sogenannte Mikroarchive. Zu den Mikroarchiven gehören öffentliche Initiativen, Schulmuseen, private Sammlungen, Familienarchive usw. In der Öffentlichkeit gibt so gut wie keine Informationen über sie. Fast alle Nachrichten und Beweise können nur durch persönliche Kontakte und vor Ort ermittelt werden, wobei die Bedrohung durch russische Angriffe nicht geringer ist. Im Rahmen des EHRI-Projekts (European Holocaust Research Infrastructure) über Mikroarchive haben wir zusammen mit dem unabhängigen Experten Vladyslav Litkevych kurzfristig eine Initiative ins Leben gerufen, um die Situation der Mikroarchive in der enteigneten Region Cherson zu ermitteln und einzuschätzen.
Die Ergebnisse dieser kleinen Untersuchung sind tragisch. Die häufig privaten Sammlungen sind oft nicht digitalisiert, nicht strukturiert, nicht in Nachschlagewerken oder Forschungsportalen erfasst und oft auch nicht von Wissenschaftler:innen untersucht oder in den Nachrichten erwähnt. Leider bedeutet dies, dass im Falle eines Raubs oder einer Zerstörung einer solchen Sammlung die Chancen, sie wiederzufinden und ihren Verlust zu erfassen, noch geringer sind. Die einzigen Informationsquellen über diese lokalen Sammlungen sind die Menschen, die sie erstellt haben oder von ihnen wussten, die wiederum dem russischen Krieg gegen die Ukraine oft selbst zum Opfer gefallen sind. Hinzu kommt, dass die Städte und Dörfer, die die Besatzung überstanden haben, nicht sofort wieder sicher bewohnbar sind. Vielerorts zwingen beschädigte Infrastrukturen, anhaltender Beschuss und die allgemeine humanitäre Krise die Menschen zum Umzug. Mit ihnen verschwindet das Wissen über lokale Dokumenten- oder Geschichtensammler:innen und damit das letzte Wissen über wichtige Aspekte der lokalen Geschichte.
Funde aus Bobrovyi Kut, Region Cherson, geben beispielsweise einen groben Einblick in die Tragödie. Die Familiensammlung von Masha Moishivna Kedrovska, die als Kind in diesem Dorf den Holocaust überlebte, wurde während der russischen Besatzung des Dorfes geplündert. Ihre Schwiegertochter berichtete, dass die Familiensammlung (ein Konvolut aus Fotos, Erinnerungen und Dokumenten) während der Besatzung des Dorfes verschwand. Nach der Befreiung von Bobrovyi Kut kehrte die Familie in ihr Haus zurück; jedoch sind von der gesamten Sammlung nur drei Fotos erhalten geblieben.
Eine weitere Sammlung war von einer lokalen Chemie- und Biologielehrerin, Klavdiya Guppa, angelegt worden, die Fotos von den Dorfbewohner:innen sammelte. Während der jährlich im September stattfindenden Holocaust-Gedenktage wurde die Museumssammlung von den heutigen Nachkommen der ehemaligen Dorfbewohner:innen ergänzt. Die Museumssammlung war auch von Schüler:innen genutzt worden, um historische Recherchen durchzuführen und an regionalen Wettbewerben zu historischen Themen teilzunehmen. Die Wettbewerbsbeiträge und ein Teil der Museumssammlung waren in elektronischer Form auf Schulcomputern abgespeichert worden, welche während der Besatzung ebenfalls gestohlen wurden. Als die Schule nach der Räumung zum ersten Mal begangen wurde, lagen die Sammlungsmaterialien auf dem Boden, in verschiedenen Stockwerken der Schule und außerhalb der Schule in der Nähe des Flusses verstreut. Auf dem Schulgelände wurden absichtlich Feuerlöscher versprüht, und im August 2023 waren die Mitarbeiter:innen nach wie vor nicht in der Lage, die Verunreinigungen durch dieses Feuerlöschmittel zu beseitigen. Nach Angaben der Museumsmitarbeiter:innen sind etwa 30 Prozent der Sammlungen spurlos verschwunden, und ohne das Inventarverzeichnis, das während der Besatzung verloren gegangen ist, ist der Schaden nicht zu beziffern.
Solche Situationen sind keine Seltenheit. Auf der Jahreskonferenz der European Association of Jewish Museums (AEJM) und der Veranstaltung Ukrainian Culture at War: Archives, Museums and Artists berichteten wir etwa über die Situation im Museum von Kalinindorf, Kalynivske, Region Cherson. Dort ist eine über Jahrzehnte aufgebaute Sammlung und Forschung über die jüdische Geschichte der Region, einschließlich einer einzigartigen Sammlung von Fotos der Hinrichtungen jüdischer Einwohner:innen während des Zweiten Weltkriegs, vollständig verloren gegangen.
Herausforderungen und offene Fragen
Diese und zahlreiche ähnliche Fälle stellen uns vor große Herausforderungen. Natürlich müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um das kulturelle Erbe vor den russischen Angriffen zu retten, zu bewahren und die Restaurierung oder den Erhalt kultureller Einrichtungen zu unterstützen. Eine große offene Frage ist, wie man mit gestohlenem Kulturgut umgeht. Diese Situationen sind nicht neu, da auf der Krym und in den Regionen Donezk und Luhansk ebenfalls Archive und Kultureinrichtungen geplündert wurden, und die Frage des Auffindens bzw. der Rückgabe dieser Sammlungen ist nach wie vor von Relevanz. Gleichzeitig sind die Strategien zur Identifizierung und Rückgabe von Sammlungen in der Regel nicht auf Mikroarchive anwendbar.
Die Kolleg:innen in der Ukraine klagen häufig darüber, dass es immer schwieriger werde, Projekte zum Schutz des kulturellen und archivarischen Erbes umzusetzen, da der Wettbewerb um Fördermittel immer härter wird und die Gelder aus ihrer Sicht eher für die Organisation von Bildungsveranstaltungen, Konferenzen und den Erfahrungsaustausch verwendet werden. Dieser Ansatz hilft nur bedingt. Wichtiger wäre nun, die Kulturschaffenden vor Ort, bei Sofortmaßnahmen konkret materiell und finanziell zu unterstützen. Nur so können Kulturgüter im Kriegsalltag gerettet werden.