2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal, mit welchem sich die europäische Landkarte grundlegend veränderte. Durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages wurde Polen nach 123 Jahren der Teilung durch Preußen, Russland, und Österreich-Ungarn wieder zu einem souveränen Staat – womit sich auch die Frage stellte, wie die Grenze zwischen der Zweiten Polnischen Republik und dem Deutschen Reich verlaufen sollte.
100 Jahre später erforschten Studierende und Lehrende der Europa-Universität Viadrina (EUV) in Frankfurt (Oder) im Rahmen des Seminars „1918. Die vergessene Grenze. Zapomniana granica" und der dazugehörigen Studienreise die deutsch-polnische Grenze der Zwischenkriegszeit. Die Studierenden folgten dem alten Grenzverlauf, indem sie Informationen und Bildmaterial zu historisch bedeutsamen Grenzorten dokumentierten und etwa auf folgende Fragen Antworten suchten: Wie veränderte die Grenze den Alltag? Welche Konflikte gab es? Wo ist die Grenze heute noch sichtbar? Wie präsent ist die Erinnerung an die Grenze von 1918?
Das Seminar „1918. Die vergessene Grenze. Zapomniana granica" fand unter der Leitung von Prof. Dr. Dagmara Jajeśniak-Quast und Dr. Ewa Bagłajewska im Rahmen eines Verbundprojektes statt und wurde u.a. in Kooperation mit dem Buchautor und Journalisten Uwe Rada, dem Polnisch-Lektorat sowie dem Writing Fellows-Programm des Schreibzentrums der EUV (in Deutsch und Polnisch) durchgeführt. Unterstützt wurde die Exkursion u.a. von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Bildungs- und Begegnungsstätte Schloss Trebnitz.
Der Grenzverlauf
Die heutige Grenze zwischen Deutschland und Polen beträgt rund 460 Kilometer. Sie erstreckt sich entlang der beiden Flüsse Oder und Neiße von der Insel Usedom bis in das Dreiländereck zwischen Polen, Tschechien und Deutschland bei Zittau. Als Resultat des Zweiten Weltkrieges war sie lange Gegenstand heftiger politischer Debatten. Seit Polens Beitritt zum Schengener Abkommen im Jahr 2007 steht sie schließlich sinnbildlich für den europäischen Einigungsprozess.
Doch schon vor 1945 sorgte die Grenze zwischen Deutschland und Polen für heftige Auseinandersetzungen auf beiden Seiten. Dieser Teil der deutsch-polnischen Geschichte ist heute von vielen vergessen. Mit der Neuerstehung des polnischen Staates 1918 musste die deutsch-polnische Grenze neu gezogen werden. Die Festlegung des tatsächlichen Grenzverlaufs dauerte allerdings bis 1922 an: Während einige Gebiete wie die Provinz Posen und der Großteil Westpommerns Polen umgehend zugesprochen wurden, sollten in strittigen Regionen, u.a. Allenstein, Marienwerder und Oberschlesien, Volksabstimmungen abgehalten werden. Vor allem in Oberschlesien gestaltete sich diese aufgrund der ethnisch-national durchmischten Bevölkerung kompliziert. Zwar stimmten insgesamt 60 Prozent der oberschlesischen Bevölkerung für einen Verbleib im Deutschen Reich, doch nicht in allen Gebieten erzielten die Abstimmungen eindeutige Ergebnisse. Nach dem dritten schlesischen Aufstand 1921 wurde das oberschlesische Gebiet schließlich zwischen Deutschland und Polen aufgeteilt – eine Lösung, die keine der beiden Seiten zufriedenstellte. Der neue Grenzverlauf wirkte sich merklich auf den Alltag der Menschen aus. Deutsche und polnische Minderheiten auf beiden Seiten der Grenze hatten es im jeweils anderen Staat zunehmend schwer. Auch stellte die neue Grenze viele Schlesier, die mit und in beiden Kulturen aufgewachsen waren, vor die Frage: Bin ich deutsch oder polnisch?
Leben an der Grenze
Einen Einblick in das Alltagsleben an der damaligen deutsch-polnischen Grenze im oberschlesischen Industriegebiet gibt das Schlesische Museum in Katowice, welches die Exkursionsteilnehmer besuchten. Der in großen Teilen unterirdische Gebäudekomplex befindet sich in der ehemaligen Zeche „Katowice". Die Region Oberschlesien wurde v.a. aufgrund ihrer Kohlevorkommen und des Bergbaus von Deutschen und Polen beansprucht. Nach der Teilung verlief die Grenze ab 1921 mitten durch das Industriegebiet. Für die deutsche und die polnische Bevölkerung bedeutete dies zahlreiche Umstellungen, denn nicht selten war der tägliche Weg zur Arbeit oder der Besuch bei Familienmitgliedern mit einem Gang über die Grenze verbunden. Dies war überaschenderweise relativ einfach – kontrolliert wurde nur dann, wenn Verdacht auf Schmuggel bestand. Ein prominentes Beispiel dafür, wie die Grenze die Biografie der Menschen prägte, ist der oberschlesische Fußballer Ernst Willimowski. Der Kattowitzer gehörte der deutschen Minderheit an, erlangte als Fußballer aber für die polnische Nationalmannschaft Berühmtheit. Nach der Besatzung Polens durch die Nationalsozialisten entschied er sich wiederum, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen, wofür er in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg als Verräter galt.
Doch auch außerhalb Oberschlesiens hinterließ die Grenze ihre Spuren in den Bevölkerungsstrukturen der von ihr betroffenen Region. Nicht wenige Angehörige der deutschen und polnischen Minderheiten emigrierten auf jeweils „ihre" Seite der Grenze. Andere aber blieben: In Pszczew etwa berichtete Zeitzeugin Wanda Stróżczyńska von der Lebensgeschichte ihres Vaters, dem Kaufmann Franciszek Golz. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte sich dieser dafür ein, dass sein Heimatort nach 1918 zu Polen gehören sollte, doch seine Versuche blieben erfolglos. Während des Nationalsozialismus verlor er aufgrund seiner propolnischen Haltung seine Existenzgrundlage und war gezwungen, nach Neustrelitz umzuziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er schließlich in den nun polnischen Ort zurück. [1] Bis heute pflegen die 84-jährige Wanda Stróżczyńska und ihre Nachkommen die deutsche und die polnische Sprache.
Straßen, Bahnhöfe und Korridore - Grenzverkehr
Während der Studienreise legten die Teilnehmenden 1912 km mit einem Kleinbus zurück. Vor einem Jahrhundert war noch die Eisenbahn das Transportmittel der Massen gewesen.
Aus diesem Grund besichtigten die Teilnehmenden auch eine Vielzahl von Bahnhöfen. Besonders sichtbar wird die „Erfahrung" der Grenze entlang der Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Poznań. An dieser Strecke ist auch der Ort Zbąszyń (ehemals Bentschen) gelegen, der den Bestimmungen des Versailler Vertrags entsprechend zur polnischen Grenzstadt wurde. Die deutsch-polnischen Verhandlungen über die gemeinsame Nutzung des Bahnhofs scheiterten, weswegen auf der deutschen Seite der Grenze die Ortschaft Neu-Bentschen gegründet wurde. Eisenbahnersiedlungen aus den 1920er Jahren prägen die Gegend rund um das imposante Bahnhofsgebäude im heutigen Zbąszynek, das zudem Haltepunkt auf der Verbindung Warschau–Berlin ist. Auch in Chojnice und Piła besichtigte und dokumentierte die Exkursionsgruppe Bahnhöfe mit Bedeutung für den Grenzverkehr. Im oberschlesischen Industriegebiet wurde die Infrastruktur dem Grenzverlauf ebenfalls angepasst. Ehemalige Zollhäuser und Streifenwege lassen die Grenzübergänge von damals erkennen, wie etwa in Rudzka Kuźnica (Rudahammer), das nach 1922 zu Polen gehörte, und um welches die Deutschen 1929 eine Straßen(bahn)umführung bauen ließen, damit die Bewohner der damals deutschen Städte Hindenburg und Beuthen nicht durch polnisches Territorium fahren mussten. Auch der neue polnische Staat konzentrierte sich auf den Bau einer Infrastruktur, die möglichst unabhängig vom Deutschen Reich wäre. So ließ Polen in Gdynia einen Handels- und Militärhafen bauen, da die Freie Stadt Danzig Polen den Zugang zum gemeinsam zu nutzenden Danziger Hafen erschwerte. Ein weiterer Schritt zur Unabhängigkeit war die sogenannte Kohlemagistrale, mit der die 1933 fertiggestellte Eisenbahnstrecke das oberschlesische Industriegebiet mit dem Ostseehafen in Gdynia verband.
Gebäude hinterlassen Spuren - Architektur im Grenzgebiet
Auch einzelne Gebäude können uns eine Menge über den damaligen Grenzverlauf verraten. Sie können als Treffpunkt dienen, wie zum Beispiel das Hotel Bazar in Poznań, wo 1918 die Initiatoren des Posener Aufstandes zusammenkamen. Historiker und Journalist Dawid Smolorz zeigte im Vergleich einiger Städte im oberschlesischen Industriegebiet besondere Merkmale deutscher und polnischer Architektur auf: Während der polnische Teil Oberschlesiens von einer Abkehr vom als streng empfundenen preußischen Stil geprägt war, präsentierte Katowice den polnischen Modernismus der 1920er Jahre – öffentliche Gebäude wie der schlesische Sejm zeugen von der damaligen Bedeutung der Stadt. Bytoms Stadtzentrum ist bis heute geprägt durch Bauten der Weimarer Republik, wie dem heutigen Sitz des oberschlesischen Museums.
Mit der Errichtung des Seehafens in Gdynia wuchs das ehemalige Fischerdorf innerhalb weniger Jahre zur Großstadt. Die Stadt sollte zum architektonischen Aushängeschild der Zweiten Polnischen Republik werden: Konzipiert von Architekt Tadeusz Wenda ist Gdynia weltweit eine von wenigen Städten, welche von Grund auf im Stil der Moderne errichtet wurden. Doch nicht nur repräsentative Gebäude, auch Wehranlagen sind ein architektonisches Zeugnis der damaligen Zeit. Beispielhaft ist hierfür die 1934 errichtete Festungsfront Oder-Warthe-Bogen in Międzyrzecz. Die Verteidigungslinie mit einem bis zu 32 Kilometer langen Bunkersystem zeigt die akribischen Vorkriegsplanungen der Nationalsozialisten kurz nach der Machtergreifung. Mit dem Überfall auf Polen 1939 und dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg verschoben sich die Grenzen zwischen Deutschland und Polen ein weiteres Mal.
1918 bis 2018 - wie sichtbar ist die Grenze heute?
Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation NS-Deutschlands. Als Resultat des Potsdamer Abkommens verschob sich nicht nur die deutsch-polnische Grenze abermals, sondern auch Polens Grenzen im Osten wurden nach Westen verlegt. Eine Folge war die Vertreibung und Umsiedlung von Millionen von Menschen, viele Städte erlagen Zerstörungen. Die Überlagerung der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs führte dazu, dass viele Spuren und Erinnerungen an die Grenze von 1918 bis heute vergessen sind. Am Zarnowitzer See bzw. Jezioro Żarnowieckie wurden alte Grenzpfähle erst vor kurzem aus touristischen Gründen entfernt, berichtete die Historikerin Magdalena Izabella Sacha. Anderswo ist die historische Grenze stark im Bewusstsein der lokalen Bevölkerung präsent: So führte Marek Fijałkowski in Piła durch eine Sonderausstellung über den polnischen Grenzschutz in den Jahren von 1928 bis 1939. An der Landstraße zwischen Zbąszyń und Dąbrówka Wielkopolska (ehemals Groß Dammer) entdeckte die Exkursionsgruppe zudem unerwartet einen noch vorhandenen Grenzstein sowie eine kleine Außenausstellung über die Folgen der Grenze in der Zwischenkriegszeit.
Die Geschichte zeigt uns Spuren, Ursachen und Folgen von Grenzziehungen. Wir befinden uns gegenwärtig in einer Zeit, in welcher wieder verstärkt über den Sinn offener und geschlossener Grenzen diskutiert wird. Die Idee eines geeinten und offenen Europas findet nicht überall Anhänger, Populisten gewinnen vermehrt an Gehör. Für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ist der Wegfall der Grenzkontrollen jedoch nicht mehr wegzudenkender Teil des Alltags. So auch in der deutsch-polnischen Grenzregion, wo viele Menschen wieder Freunde, Familie und Bekannte auf beiden Seiten der Grenze und darüber hinaus haben. Von ihnen gilt es zu lernen.
Die Ergebnisse des Projekts „1918. Die vergessene Grenze. Zapomniana granica" werden in dem für Oktober 2018 vorgesehenen, gleichnamigen Reiseführer nachzulesen sein. [2] Weitere Informationen zum Projekt sowie einen Blog mit Berichten zu den einzelnen Exkursionstagen sind ebenfalls nachzulesen.
[1] Die Lebensgeschichte von Franciszek Golz ist auch in seiner (Auto)Biografie nachzulesen: Dawno temu w Pszczewie: wspomnienia Franciszka Golza i innych świadków epoki, bearb. u. erg. v. Wanda Stróżczyńska und Ewa Stróżczyńska-Wille, Gorzów Wielkopolski 2004.
[2] https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/827-d...