Noch um die Jahrtausendwende war die Annahme verbreitet, dass nach dem Ende der Geschichte auch das Ende der Nation bevorstehe. Das Konzept sollte von der Globalisierung weggespült werden oder zumindest in größeren Einheiten wie der Europäischen Union aufgehen. Die jüngeren Entwicklungen muten dagegen wie ein Revival des Nationalismus an. Und trotz eklatanter westlicher Beispiele wie dem Brexit oder Trumps Wahlerfolg wird dieser vermeintlich neue Nationalismus vielfach als ein Phänomen mit besonderer Ausprägung in Ostmittel- und Osteuropa aufgefasst. Ausweis dessen sind etwa die autoritär-nationalistischen Regierungen in Ungarn und Polen mit ihrer rassistischen Rhetorik sowie die beharrliche Weigerung der Visegrád-Staaten, Geflüchtete aufzunehmen.
Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung, die Ende 2016 dezidiert als Reaktion auf diese Tendenzen abgehalten wurde. Ziel war es, wie Mitherausgeberin Irene Götz einleitend erklärt, nach Formen und Ursachen des „neuen Nationalismus" seit dem Ende des Staatssozialismus zu fragen und zu weiteren Forschungen anzuregen. Eine politische Motivation wird angesichts der „beängstigenden Befunde" keineswegs verhehlt (S. 12). Götz wirft auch die weiterführende Frage nach Handlungsmöglichkeiten der Wissenschaft auf und überlegt, inwieweit die Analyse „durch Formen von Aktivismus zu ergänzen" sei (ebd.).
Die Beiträge sind nicht nur geografisch breit gefächert – von den Balkanstaaten über Ostmitteleuropa bis Russland. Auch Untersuchungsgegenstand und -ansatz variieren deutlich. Mehrheitlich stammen die Autor_innen aus der Europäischen Ethnologie oder verwandten Disziplinen. Viele Beiträge sind dementsprechend auch methodisch als ethnologische Feldstudien angelegt und basieren auf Beobachtungen und Gesprächen vor Ort. Andere wiederum haben vor allem mediale Diskurse oder die popkulturelle Produktion des Nationalen im Blick.
Die auch im Untertitel des Bandes betonte kulturwissenschaftliche Perspektive ist besonders zu begrüßen. Diese erlaubt es nämlich, Nationalismus in seiner umfassenden gesellschaftlichen Verankerung auch außerhalb der politischen Sphäre im engeren Sinne zu begreifen. Nicht umsonst beziehen sich mehrere Beiträge auf Michael Billigs grundlegende Arbeit zur alltäglichen, „banalen" Reproduktion der Nationsvorstellung. [1] Damit könnte auch die häufig vorzufindende strikte Trennung in radikal auftretende, rechts-nationalistische Kräfte und eine vermeintlich entgegengesetzte liberal-demokratische politische Sphäre aufgebrochen werden, um stattdessen den zu Grunde liegenden, oft nur implizit affirmierten, nationalen Konsens zu markieren.
Allerdings stößt der Band gerade in diesem Punkt an seine konzeptionellen Grenzen. Der Begriff des Nationalismus bleibt unbestimmt und schwankt letztlich doch zwischen einem ubiquitär wirksamen, kollektiven Identitätskonzept und der expliziten, rechten politischen Agenda. In der Folge stehen diese Ebenen analytisch etwas unvermittelt nebeneinander: hier die nationale Modifizierung globaler Medienprodukte, dargestellt am Beispiel der Hochglanzmagazine Cosmopolitan und Maxim für den russischen Markt; dort der rechte tschechische Rockmusiker Daniel Landa oder die rechtsextreme Szene in Polen nach 1989. Ein noch stärker konzentrierter Fokus auf den Nationalismus als diskursiv erzeugten Wahrnehmungsmodus und als kulturelle Praxis, die ein alltägliches Wir-Gefühl transportiert, wäre – zumal mit dem ethnologischen Handwerkszeug – konsistenter und fruchtbarer. Ebenfalls wünschenswert wäre für weitergehende Studien eine stärker diachrone Perspektive. Gerade hinsichtlich der Frage nach dem „neuen" Charakter des Nationalismus ergibt sich aus der ethnologischen Momentaufnahme ein heuristisches Problem. Historischer Wandel wird kaum sichtbar – sowohl in Bezug auf länger zurückliegende Perioden, als auch hinsichtlich verschiedener Phasen seit den 1990er Jahren.
Dennoch lassen sich dem Band gerade in seiner Gesamtheit allgemeine Erkenntnisse entnehmen. Besonders offensichtlich ist die überwältigende Rolle von Geschichte bzw. Geschichtspolitik als ein fast durchgängig sichtbarer Aspekt. Die Konstruktion von positiv besetzten, nationalen Narrativen ist fundamental – ob nun über Heldenmythen der Kriege des 20. Jahrhunderts oder durch den Rückgriff auf jahrhundertealte Traditionslinien.
Klaus Roth stellt seinem Beitrag zu Geschichtspolitiken in Bulgarien und Mazedonien allgemeine Überlegungen zum spezifischen östlichen Nationalismus voran und identifiziert determinierende Grundlagen der neuen nationalen Erzählungen. Es handelt sich überwiegend um Länder, in denen erst nach dem Ersten Weltkrieg eine nationale Unabhängigkeit erlangt wurde, die mit dem Zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Hegemonie wieder verloren schien. Erst nach dem Ende des Kommunismus war in diesem Verständnis die nationale Entwicklung wieder eigenständig möglich. Nun richte sich der Nationalismus aber gegen „ferne äußere Feinde" in Gestalt von Globalisierung oder EU (S. 82). Zugleich erlebten diese Gesellschaften aber auch die massiven sozialen Einschnitte der Transformationsprozesse, zu denen zuletzt noch die jüngste wirtschaftliche Krisenerfahrung besonders für die südosteuropäischen Länder hinzukommt. Auch als Reaktion darauf sieht Roth eine ausgeprägte Rückwendung zum „Eigenen" und „Ursprünglichen" (S. 83 f.). Roth kommt in seiner Untersuchung der beiden Balkanländer zu einem differenzierten Befund. In beiden Fällen wird die „große", weit zurückreichende Geschichte als ein staatliches Projekt „von oben" inszeniert (S. 97). Die aufwendigen antiken und mittelalterlichen Gebäuderekonstruktionen und die Denkmalschwemme werden allerdings eher kritisch oder gleichgültig rezipiert. Viel größere Popularität genießen dagegen folkloristische Events. Eine verstärkte Hinwendung zu einer vermeintlich traditionellen Volkskultur ist augenfällig.
Der Drang zum Originären ist aber ein wiederkehrendes Element des Nationalismus, eher kein „neues" Phänomen. Die im Aufsatz von László Simon-Nanko untersuchte Lehre des Turanismus in Ungarn weist in diese Richtung. Der schon im 19. Jahrhundert entwickelte linguistische Mythos von den angeblichen Wurzeln der ungarischen Sprache dient auch heute wieder dazu, eine jahrhundertealte essentielle Eigenheit des Magyarischen zu belegen und ist darum eine wichtige Komponente des aktuellen ungarischen Ethnonationalismus.
Grundlegende Muster und Erklärungsansätze für den Nationalismus nach 1989 und jenen im Osten speziell scheinen immer wieder in den Einzelbeispielen auf. Sehr instruktiv ist der Beitrag von Petra Steiger zum slowakischen Nation Branding. Die Positionierung von Staaten unter den Bedingungen des spätkapitalistischen globalen Wettbewerbs macht die Nation als Markenidee erforderlich. Dieses Prinzip fällt besonders im postsozialistischen Raum auf fruchtbaren Boden, was sich sowohl aus dem politisch-kulturellen Bedürfnis einer Neuerzählung, wie aus der verschärften Standortkonkurrenz des Transformationskapitalismus ergibt. Steiger zeigt, wie liberale Eliten als Träger dieser Idee eine Kampagne planten, zu der auch der Neuentwurf eines historischen Narrativs für die Nation gehörte. Ein Entwurf, der zugleich auch das Postulat leistungsfähiger Individuen mittransportiert. Der Ansatz ist auch insofern wichtig, als hier ein Zusammenhang mit der neoliberalen Transformation und dem erstarkenden Nationalismus hergestellt wird, was zwar unter Verweis auf soziale Verunsicherungen und Verwerfungen immer wieder als gegebene Annahme betont, zugleich aber in den hier versammelten Untersuchungen kaum direkt nachgewiesen wird.
Eine analytische Zusammenführung grundlegender Einsichten bietet der Band mit seiner eklektischen Zusammenstellung allerdings nicht. Bis auf den Aufsatz von Klaus Roth sind die Beiträge jeweils nur einem Land gewidmet und bleiben thematisch unverbunden. Dabei würden sich vielfach vergleichbare und übergreifende Phänomene anbieten. Sara Reith analysiert beispielsweise die identitätsstiftende Funktion der staatlich gelenkten Remigration ethnischer Russ_innen. Fälle eines ethnischen Nationalismus, der das Staatsterritorium transzendiert, ließen sich natürlich auch in anderen Ländern finden; klassischerweise bei Ungarns Umgang mit den landsmännischen Minderheiten in den Nachbarstaaten oder auch in Polen, wo mit der Karta Polaka seit 2007 ebenfalls über ein staatliches Programm eine grenzüberschreitende ethnisch-nationale Konstruktion forciert wird. Ein anderes Beispiel ist die bulgarische Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im Beitrag von Anna Luleva. Dort zeigt sich, wie die nationale Erzählung der Rettung von Juden sowohl die Erinnerung an die jüdischen Opfer als auch die bulgarische Beteiligung an Verbrechen während des Holocausts verdrängt. Hier ließe sich analytisch wiederum an den in Grundzügen sehr ähnlichen Retter-Diskurs in Polen anschließen. Man kann den Sammelband somit tatsächlich auch als Reservoir von Anregungen für weiterführende Untersuchungen mit thematisch klarer bestimmten, transnationalen Schneisen lesen.
Gerade angesichts der regionalspezifischen Ausrichtung wäre es sicher auch angebracht, sich noch eingehender mit der Funktionalität des vorgestellten Gegensatzes zum „Westen", gegebenenfalls zur EU, für die Formulierung nationaler Identitätskonzepte zu beschäftigen. Inwieweit sich aber aktueller Nationalismus in Ost und West tatsächlich hinsichtlich Ausmaß und Inhalt unterscheidet, ließe sich nur durch das Hinzuziehen konkreter westlicher Vergleichsfälle klären.
Für einen systematischen Zugang könnte es außerdem künftig hilfreich sein, noch einmal genauer die Erkenntnisse der historischen Nationalismusforschung zum 19. und frühen 20. Jahrhundert bei der Betrachtung der Gegenwart zu berücksichtigen – zumal wenig darauf hindeutet, dass der Nationalismus qualitativ wirklich neu ist. Gerade die wechselseitige Bedingtheit des scheinbaren Widerspruchs von Nationalisierung und Globalisierung war auch für diese Phase charakteristisch. [2] Besonders im Zentrum der jüngeren historischen Nationalismusforschung steht der Versuch, die Unumgänglichkeit des nationalistischen Paradigmas durch eine Verschiebung des Fokus auf multiple, fluide Identifikationsbezüge oder auch auf nationale Indifferenz zu hinterfragen. [3] Ansatzweise eröffnet hier der Beitrag von Simon Schlegel zu den Hintergründen einer regionalen, deutlich positiven Bezugnahme auf die ethnische Diversität im südukrainischen Bessarabien diese Perspektive. Der Blick auf andere, das Nationale unterlaufende kulturelle Formen und universelle Themen – aktuell sichtbar zum Beispiel in der neuen globalen Frauenbewegung – könnte generell dazu beitragen, die Wirkmächtigkeit und funktionale Praxis der Nationsidee besser zu erfassen, und ganz im Sinne der Ausgangsmotivation der Tagung auch politisch-praktische Anknüpfungspunkte liefern.
Inhaltliche Auslassungen kann man dem Band ansonsten aber nur schlecht vorhalten. Die Liste der möglichen Themenfelder ist unüberschaubar, was nicht zuletzt mit dem ubiquitären Charakter des Nationalen zusammenhängt. Es ist sicher möglich, den Band dem individuellen Interesse entsprechend selektiv zu nutzen. Aber auch die Lektüre als Ganzes vermag gerade durch die etwas lose Vielfalt zu allgemeineren weiterführenden Überlegungen anzuregen.
[1] Michael Billig: Banal Nationalism, London u.a.: SAGE Publications 1995.
[2] Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München: C.H.Beck 2006.
[3] Tara Zahra: Imagined Non-Communities: National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93-119.