Die deutsche Historiographie verfügt über zahlreiche Studien zu Konzentrationslagern. Gut erforscht sind sowohl das Gesamtsystem der NS-Lager als auch die einzelnen KZ. Betrachtet man die Monographien zu einzelnen Lagern, so richtet sich der wissenschaftliche Blick auf die größten Verfolgungs- und Tötungsstätten, wie z.B. auf Dachau, Sachsenhausen und Auschwitz. Schrittweise wurde diese Perspektive auf die Erforschung der KZ-Außenlager erweitert. Die Fokussierung der Forscher auf die Konzentrationslager führte dazu, dass eine ganze Reihe von anderen Orten des NS-Terrors fast unberücksichtigt blieb. Durch die mangelnde Forschung, aber auch wegen des geringen öffentlichen Interesses, verwandelten sich diese Orte in „vergessene Orte". Heutzutage wissen wir m.E. viel zu wenig über die Arbeitserziehungslager, Zwangsarbeiterlager, Straflager, Gefängnisse und Zuchthäuser. Das KZ und Zuchthaus Sonnenburg gehörte zweifelsohne zu diesen „vergessenen Orten". Nur dank mehrerer zivilgesellschaftlicher Initiativen, die in den letzten Jahren in transnationaler Zusammenarbeit erfolgten, konnte die Geschichte von Sonnenburg wieder ans Licht gebracht werden. Das Buch von Hans Coppi (Historiker) und Kamil Majchrzak (Jurist) „Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg" aus dem Jahre 2015 geht auf eine dieser Initiativen „von unten" zurück und erörtert mehrere bisher unerforschte Aspekte dieses Ortes.
Sonnenburg (heute poln. Słońsk) liegt unweit von Küstrin (Kostrzyń) und der heutigen deutsch-polnischen Grenze. Vor dem Krieg befand sich das Städtchen im brandenburgischen Verwaltungsbereich. 1832 wurde hier die Königlich-Preußische Strafanstalt erbaut, die dann im Laufe der Jahre immer weiter ausgebaut wurde. Das Zuchthaus wurde hauptsächlich für Kriminelle und Revolutionäre vorgesehen. Am 3. April 1933 wurde es in ein Konzentrationslager für Gegner des NS-Regimes umgewandelt. Ende 1933 befanden sich ca. 1000 Kommunisten, Sozialdemokraten oder Freimaurer in Haft. Im Frühjahr 1934 wurde das KZ aufgelöst und der Ort erhielt wieder seine Zuchthausfunktion, die er bis zum Anfang 1945 innehatte.
Bereits im Vorwort, in dem der Herausgeber Hans Coppi das ehemalige Konzentrationslager und Zuchthaus als einen europäischen Gedenkort bezeichnete, wird auf den besonderen Stellenwert von Sonnenburg hingewiesen, das vor allem durch das Massaker in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 traurige Berühmtheit erlangte. Damals wurden 819 Häftlingen unterschiedlicher Nationen ermordet. In seiner Einführung erläutert Coppi sowohl die Geschichte dieses Ortes als auch die erinnerungskulturelle Entwicklung, die in die Neugestaltung des Museums im Jahre 2015 mündete. Weitere Texte in dem Buch stammen von Historikern, Studenten und zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie etwa von Mitgliedern der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).
Die Aufsätze internationaler Autoren gliedern sich in vier thematische Teile: 1. Geschichte von Sonnenburg 1832-1945, 2. Nacht- und Nebel-Häftlinge, zwangsrekrutierte Ausländer in der Wehrmacht, 3. Einzelschicksale sowie 4. Nach- und Erinnerungsgeschichte. Leider beinhaltet das Buch keinen Text zum Forschungs- und Quellenstand. Zwar wird in ein paar Beiträgen kurz auf historiographische Aspekte eingegangen, aber vor dem Hintergrund der von den Herausgebern dezidiert formulierten Annahme, das KZ Sonnenburg sei unerforscht und im öffentlichen Diskurs abwesend, wäre ein genauerer Blick in die Geschichtsschreibung sehr hilfreich gewesen.[1] Schon die Lektüre des ersten Textes bereitet gewisse Schwierigkeiten, da dort lange Erinnerungen aus den Werken des polnischen Historikers Przemysław Mnichowski zitiert werden, ohne diese kritisch zu hinterfragen und den Leser auf alternative Quellen hinzuweisen. Ähnlich problematisch sieht es mit dem gesamten wissenschaftlichen Apparat aus. In vielen Aufsätzen wird entweder ganz auf Fußnoten verzichtet, oder es gibt nur ganz vereinzelt solche Verweise. Ein einheitlicher Aufbau der einzelnen Texte hätte die wissenschaftliche Seite des Buches zweifellos verstärkt. In seiner vorliegenden Gestalt hat das Buch vorwiegend populärwissenschaftlichen Charakter.
In den ersten drei Texten beschreiben die Autoren Andrzej Toczewski (Historiker), Frieder Böhne (Mitglied der VVN-BdA), Christoph Gollasch (Politikwissenschaftler) und Daniel Queiser (Philosoph) die Geschichte des Ortes. Besonders erörtert werden zwei Ereignisse: Die Wiedereröffnung des von 1832 bis 1931 betriebenen Zuchthauses im Jahr 1933 als „erstes staatliches Konzentrationslager" (S. 40) und das Massaker an den Nacht- und Nebel-Häftlingen in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945. Der in diesen Beiträgen stark präsente biographische Ansatz ermöglicht es, die konkreten Erfahrungen der Häftlinge zu verstehen. Den Umgang mit den Gefangenen diskutierten die Autoren anhand der Schicksale von Hans Ullman, Wilhelm Bossert, Hans Litten und Erich Mühsam. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die gruppenspezifische Beschreibung der Häftlinge: kommunistische und sozialdemokratische Widerstandskämpfer, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Deserteure und Juden. Durch diese Erweiterung der Opfergruppen über die politischen Gefangenen hinaus gelingt es, Sonnenburg in die Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkrieges einzubetten.
Zur Analyse der beschriebenen Akteure gehören stets die strukturellen Bedingungen sowie die persönlichen Umstände. Was die Täter anbelangt, werden deren Karrieren im NS-System, ihr persönliches Umfeld sowie die Nachkriegsbiographien erläutert. Hervorzuheben ist die weitreichende Kontextualisierung der Sonnenburger Ereignisse, wie z.B. die Einordnung des Massakers an NN-Häftlingen in die Verbrechen der Endphase des Krieges. Detailliert wird auch das Verhältnis zwischen Polizei und Justiz bei der Verfolgung der politischen Gegner beschrieben. Einen anderen Forschungsgegenstand nimmt Alexander Friedman (Historiker) in seinem Aufsatz über die sowjetische Berichterstattung über das Zuchthaus/KZ Sonnenburg zur Zeit seines Bestehens in den Blick. Er gliedert seine Darstellung in zwei Phasen: die erste von 1927 bis 1931 mit durchaus positiver Resonanz in den sowjetischen Medien, und die zweite nach 1933, in der Sonnenburg von Häftlingen als „Folterhölle" beschrieben wird. Friedman verfolgt einen biographischen Ansatz, im Mittelpunkt steht das Schicksal des deutschen Kommunisten Max Hoelz, der in den Jahren 1927 und 1928 Häftling in Sonnenburg war.
Der zweite Teil des Buches ist den NN-Häftlingen und Zwangsrekrutierten gewidmet. Laurent Thiery (Historiker), Thomas Hagen (Historiker) und Alexander Friedman (Historiker) porträtieren in ihren Beiträgen nichtdeutsche Widerstandskämpfer, die infolge ihrer konspirativen Tätigkeiten in Nordfrankreich, Norwegen und Luxemburg in Sonnenburg inhaftiert wurden. Der Band wird so um die deutsche Besatzungspolitik sowie um die Militärjustiz in Westeuropa erweitert. Das zentrale Ereignis bildet der sog. Nacht- und Nebelerlass von 7. Dezember 1941. Der Blick der Autoren auf die Dimensionen des Widerstands in den besetzten Ländern fördert das Verständnis für unterschiedliche Formen der Konspiration und Gegenkonspiration durch das NS-Regime. Wie bereits im Themenschwerpunkt 1 gehen die Verfasser auf einzelne Personen und Gruppierungen ein, wie z.B. auf die norwegischen Widerstandsgruppen „Alvær-gruppen" oder „Stein-organisasjonen". In den Erfahrungen der Widerstandskämpfer und der zwangsrekrutierten Ausländer im Zuchthaus Sonnenburg spielen harte Arbeitsbedingungen, Krankheiten oder der Kampf gegen Läuse und Hunger eine große Rolle. Neben der Ereignisgeschichte schildern die Autoren ausführlich die Verfolgung der Täter durch die Justiz nach 1945 und auch die Entstehung der Sonnenburger Erinnerungskultur in Frankreich, Norwegen und Luxemburg. Insbesondere die Abschnitte zur kollektiven Erinnerung an die 819 Opfer des Massakers vom 30./31. Januar 1945 verdeutlichen den hohen Stellenwert dieser Erfahrungen in den jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen.
Der dritte Teil des Buches ist in der Gänze Einzelschicksalen ausgewählter Gefangener gewidmet. Etliche Texte sind sehr emotional geschrieben, wodurch die Erfahrungen der Häftlinge für den Leser konkreter werden. Autoren wie Wolfgang Linke und Erika Klug beschreiben ihre Spurensuche nach verfolgten Familienangehörigen. So werden eine private Reise nach Sonnenburg in den 1970er Jahren und die Bemühung um einen Stolperstein als Erinnerung und Mahnung geschildert. Der Leser findet Erinnerungen an Fritz Lange, Emil Linke, August Friedrich Wilhelm Klug, Friedrich Henkel, Franz Petrich, Carl von Ossietzky, Georges Michotte und an die Angehörigen des Arbeiterwiderstandes im Thüringer Wald. Fotografien aus den Familiennachlässen oder der in der Nachkriegszeit zu Papier gebrachten Haft-Erlebnisse fügen sich gut ein in den lebensgeschichtlichen Ansatz der Publikation. Die autobiographische Perspektive führt zum einen den Lageralltag und die zwischenmenschlichen Beziehungen in Sonnenburg vor Augen. Doch auch der Kampf um eine angemessene Erinnerung an die Opfer wird in den einzelnen Beiträgen deutlich, wie z.B. die Konflikte um die Benennung der Universität Oldenburg nach Carl von Ossietzky in den 1970er und 1980er Jahren, da die Landesregierung Niedersachsen Carl von Ossietzky wegen seiner Zusammenarbeit mit Kommunisten für nicht genug würdig gehalten hat.
Im abschließenden Teil des Buches stehen nachkriegszeitliche Aspekte von Sonnenburg im Vordergrund. Jan Hertogen (Soziologe) beschreibt am Beispiel belgischer Insassen den bis in die 1960er Jahre währenden Kampf eines Vaters um die Rückführung der sterblichen Überreste seines Sohnes. Er rekonstruiert dieses persönliche Anliegen anhand von Briefen und der offiziellen Korrespondenz mit belgischen und bundesdeutschen Innenministerien. Kamil Majchrzak (Jurist) beschäftigte sich in seinem Aufsatz mit der juristischen Verfolgung der Täter von Sonnenburg. Er analysiert insbesondere die Ermittlungspraxis in der BRD, in der DDR und in Polen und kommt zu dem Schluss, dass die Verbrechen nicht systematisch verfolgt wurden (S. 200). Der Autor beendet seine Ausführungen mit dem Hinweis auf die aktuellen Ermittlungen der Stettiner Außenstelle des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) in Polen, deren Ergebnis noch abzuwarten ist. Peter Gerlinghoff (Historiker) diskutiert die Tätigkeit des deutsch-polnischen „Arbeitskreises ehemaliges KZ Sonnenburg" in den Jahren 1986 bis 1991. Es ist ein persönlicher Rückblick auf die Formierung einer länderübergreifenden Erinnerung an das KZ und Zuchthaus Sonnenburg im Kontext des polnischen Kriegsrechtes von 1981-1983 und des politischen Umbruches 1989/1990, an der deutsche und polnische Historiker beteiligt waren. In seinem Fazit bezeichnet Gerlinghoff Sonnenburg als Brücke des gegenseitigen Verständnisses (S. 218). In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Kamila Pałubicka (Künstlerin), die neben ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Ort Sonnenburg auch Projekte mit polnischen und deutschen Schülern beschreibt. Keinen direkten Bezug zu Sonnenburg hat der Beitrag von Irene von Götz zum Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße. Er erweitert jedoch den Blick durch die Information über einer Initiative „von unten" mit dem Ziel, die Erinnerung an die Verfolgung durch die Stiftung eines Lern- und Gedenkortes zu bewahren.
Das Buch enthält kein Resümee, in dem die Beiträge zusammengefasst und Zukunftsperspektiven aufgezeigt würden. Die Lektüre des Buches vermittelt jedoch m.E. in erster Linie die Erkenntnis, dass 70 Jahre nach Kriegsende das Zuchthaus/KZ Sonnenburg die Möglichkeit zu einer länderübergreifenden, ja europäischen Erinnerung an das Phänomen Widerstand bietet. Auch diese eher populärwissenschaftliche Abhandlung trägt dazu bei, das Wissen über diesen „vergessenen" Ort zu mehren, an dem europäische Widerstandskämpfer, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Zwangsrekrutierte verfolgt wurden. Dass dieses Wissen keine Grenzen kennt, davon zeugt die polnische Übersetzung des Buches, die nur wenige Monate nach der deutschen Ausgabe erschien. Auf die Rezeption dieser Initiative auf der anderen Seite der Oder darf man gespannt sein.
[1] Zu KZ und Zuchthaus Sonnenburg liegen einige Beiträge vor, wie z.B. Przemysław Mnichowski, Obóz koncentrayjny i więzienie w Sonnenburgu (Słońsku) 1933-1945 [Das Konzentrationslager und Zuchthaus in Sonnenburg (Słońsk)], Warszawa 1982; Kaspar Nürnberg: Sonnenburg, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 2, München 2005, S. 200-207.
[2] Die Bezeichnung „Nacht und Nebel" geht auf den sog. Nacht- und Nebelerlass vom 7. Dezember 1941 zurück, wonach westeuropäische Spionage-Verdächtige nach Deutschland verschleppt und dort zu Freiheitsstrafen in Zuchthäusern und Straflagern abgeurteilt wurden.