Eduard Mühle brachte 2015 eine umfassende Biografie der Stadt Breslaus heraus. Er verfasste seine Darstellung der tausendjährigen Breslauer Geschichte strukturiert und klar. In jedem der zehn Kapitel (mit Ausnahme des letzten) werden ein Gebäude aus historischer und architektur-geschichtlicher Perspektive sowie die Biographie einer Person als "Repräsentanten" für die jeweilige Zeit vorgestellt, charakterisiert und in die Gegebenheiten der Epoche eingebettet. Mit diesem gelungenen Stilmittel stellt Mühle die Entwicklungen in der Stadt Breslau bis zum heutigen Jahrzehnt dar, wobei er den Anspruch auf Vollständigkeit schon im Vorwort entkräftet.
Vor allem in den Kapiteln zur frühen Geschichte Breslaus nennt Mühle seine Quellen detailliert und erklärt sie profund. Hier wird seine mittelalterliche Expertise deutlich erkennbar [1]. Die ausführlichen Quellenbeschreibungen machen seine Forschung transparent und dem Nicht-Mediavisten wird scheinbar nebenbei und anschaulich erklärt, welche Quellen gehoben werden müssen, um Wissen über eine mittelalterliche Stadt und das Leben in ihr zu gewinnen.
Neben den herrschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen, die Stadt und Region über die Jahrhunderte erfahren haben, macht Mühle auch die topographisch-räumliche Entwicklung der Stadt zu einem bestimmenden Thema. Dieser breite Zugang zur Stadtgeschichte ist eine der Stärken der Arbeit. Deutlich wird das auch, wenn man bedenkt wie viel Aufmerksamkeit er administrativen Reformen zollt. Die Darstellung der häufig eher als trockene Materie wahrgenommenen Verwaltungsabläufe ist oft Teil essentieller Wendepunkte in der Stadtentwicklung. Durch die ausführliche Beschreibung der Einführung verschiedenster Stadtrechte, ihrer Auswirkungen auf das Wachstum der Stadt (zum Beispiel das Privileg der Bleiniederlage und das Innungs-,Meilen- und Niederlagsrecht und verschiedene Abgabevergünstigungen, S. 56) und die Errungenschaft der kommunalen Selbstständigkeit wird klar, das auch die Aufarbeitung des Verwaltungsapparates in der Forschung Beachtung geschenkt werden sollte. Mühle tut das nicht nur fachlich fundiert, sondern auch sprachlich elegant. So wird die bildliche Darstellung einer Versammlung der Ratsherren und Schöffen als Ausgangspunkt für die Beschreibung des Aufbaus der Verwaltung genommen. Einzelne Begriffe hätten hier und dort genauer erklärt werden können. So wird einem interdisziplinären Leser vielleicht nicht klar, was unter dem „Privileg der Brotbänke" (S. 56) zu verstehen ist.
Erwähnenswert ist die Darstellung der Pogrome gegen die Juden im 15. Jahrhundert und der Fall des Wanderpredigers Johannes Capistrano (S. 107-108). Während in den meisten Erzählungen [2] die Vorgänge so dargestellt werden, dass Capistrano während seines Aufenthalts in Breslau die Bewohner der Stadt in seinen Hasspredigten gegen die Hussiten und Juden so aufwiegelte, dass die Stimmung kippte und es zur Verfolgung, Verhaftung, Hinrichtung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung kam, behauptet Mühle, dass Capistrano zum Zeitpunkt der Ausschreitungen schon gar nicht mehr in Breslau weilte und an den Prozessen gegen die Breslauer Juden nicht beteiligt war. Mühle betrachtet die Rolle Capistranos nüchtern und vermutet in erste Linie wirtschaftliche Gründe hinter den Morden. Aufgrund der bereits erwähnten gründlichen Quellenbearbeitung Mühles wirkt seine Darstellung der Vorfälle überzeugend.
Eine weitere Stärke des Buches ist die Verbindung der Herrschaftswechsel in der Region und ihre Auswirkungen auf die Stadt. Nicht nur Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen änderten sich. Ein neues Herrscherhaus hatte unter anderem auch Folgen für die Konfession, die Bildung, die Architektur. Historischen Abrissen, die einzelne Epochen darstellen, fällt es dagegen oft schwerer die Transformationsprozesse aufzuzeigen. Besonders stark treten die Veränderungen mit dem Übergang Schlesiens von Österreich nach Preußen hervor.
Interessant ist der Verweis auf die Wahrnehmung Breslaus im späten Deutschen Kaiserreich und während der Weimarer Republik. Mühles These, dass Breslau von deutschen Reichsbürgern als große, urbane Stadt kaum wahrgenommen oder verkannt wurde (S. 199), zeigt Parallelen zur heutigen Wahrnehmung der Stadt im deutschsprachigen Raum auf. Die einstmals zweitgrößte Stadt Preußens wurde nach der Reichsgründung 1871 eine von vielen größeren Städten im Deutschen Reich. Hinzu kam die scheinbar ungünstige geografische Lage. Für die mehrheitlich nach Westen orientierten Reichsbürger lag die Stadt einfach zu weit im Osten, heute liegt sie für die Deutschen unter dem Synonym Wrocław „versteckt" in Polen. Zwar hatte und hat die Stadt als regionales Zentrum eine Strahlkraft, doch über die Ländergrenzen hinweg wird sie kaum wahrgenommen. Im Jahr 2016 hat Breslau durch Werbung, Veranstaltungen und binationale Projekte im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt daran etwas zu verändern versucht. Ob diese Veränderungen aber von Dauer sind, wird sich erst noch zeigen.
Umso wichtiger wurde die Rolle Breslaus als deutsche Stadt am Ende des Zweiten Weltkrieges, wo sie als „Bollwerk des deutschen Ostens" (u.a. S. 259) und als „Ausfalltor deutscher Kultur nach dem Osten" (S. 252) deklariert wurde. Ganz richtig führt Mühle hier den Hinweis auf die damaligetiefwurzelnde mehrheitliche Abneigung der Deutschen gegen alles Slawische und Osteuropäische an (S. 256).
Eine der stärksten Thesen seiner Arbeit ist wohl der Zweifel am viel zitierten Identitätsbruch der Stadt nach 1945, die schon im Vorwort angedeutet wird (S.12). Auch wenn Mühle die subjektiv empfundene, radikale Veränderung der Stadt für deutsche Alt-Breslauer und polnische Neu-Breslauer nicht abtun will, so behauptet er doch, dass sich Breslau durch Zeit und Raum treu geblieben ist. Lediglich tiefgreifende Zäsurenhätten der Stadt über die Jahrhunderte hinweg eine vielschichtige Identität gegeben. Im Gegensatz zu anderen Autoren [3]geht Mühle nur am Rande auf die äußerlichen Veränderungen der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Ein Hinweis auf die Bevorzugung der vornehmlich gotischen und barocken Architektur beim Wiederaufbau der Stadt, um das klassizistische preußische und spätere deutsche Erbe zu tilgen, bleibt aus. Mühle konzentriert sich dafür mehr auf die Importe polnischer Kulturgüter in die Stadt, wie das Racławice-Panorama, die Buchsammlung des Ossolineums aus Lemberg und den Weltkongress der Intellektuellen, der 1948 stattfand (S. 272-274).
In den Darstellungen der Lebensbedingungen der Breslauer Bevölkerung während der sozialistischen Zeit in den 1960er bis 1980er Jahren wünscht man sich so detaillierte Quellennachweis wie im ersten Teil des Buches. Manche Anmerkungen, wie das stundenlange Schlangestehen oder die Koffer, die erst in den 1990er endgültig entrümpelt wurden, klingen nach Küchentisch-Erzählungen und oft aufgegriffenen Narrativen über diese Zeit. Im Kapitel über das polnische Breslau werden häufig allgemeine Entwicklungen Polens dargestellt. Auf die Auswirkungen für Breslau wird zwar verwiesen, aber der regionale Fokus ist nicht so stark wie in den Kapiteln zuvor.
Im Großen und Ganzen muss man diese Abhandlung, die jetzt auch auf Polnisch vorliegt [4], als äußerst gelungene Darstellung der Breslauer Stadtgeschichte beurteilen. Sie kann vor allem für Historiker der Lokalgeschichte eine erstklassige Alternative als Standardwerk zu dem mittlerweile 14 Jahre alten und oft kritisch gesehenen Übersichtswerk von Norman Davies und Roger Moorhouse [5] sein und wird sicherlich als solide Grundlage für folgende Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Epochen dienen.