Zu besprechen ist ein Sammelband, der zweierlei abbildet. Er spiegelt einerseits das Ergebnis einer Tagung wider, die 2014 – anlässlich des 75. Todestags des namengebenden Gelehrten – am Aleksander-Brückner-Zentrum in Jena stattgefunden hat. Zugleich eröffnet er eine neue Reihe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, „Polen jenseits nationaler Paradigmen im Plural zu denken [...]" (S. 7) und der Anregung der Area Studies folgend als einen Raum zu sehen, der sich abhängig vom historischen, kulturellen und politischen Zusammenhang immer neu konstituiert. Die Ergebnisse dieser Tagung für die Eröffnung einer so konzipierten neuen Reihe zu nehmen, leuchtet ungetrübt ein, erscheint uns Brückner doch mit seiner transnationalen Biografie und seinem interdisziplinären Ansatz, Sprache einerseits im Kontext einer breit verstandenen Geschichte und Kultur und andererseits Geschichte im Kontext von Sprache zu sehen, geradezu (post)modern. Doch von solch instrumentellem Einsatz einer als Eigenlob verstandenen Moderne ist die Konzeption des Bandes glücklicherweise weit entfernt. Die Herausgeber, die Historikerin Yvonne Kleinmann und der Slawist Achim Rabus, verfolgen vielmehr zwei Anliegen. Ihnen geht es erstens darum, Brückner zu historisieren, d.h. seine Forschungsbeiträge im Kontext einer vielfältigen Beziehungsgeschichte zu sehen, und zweitens seinen interdisziplinären Ansatz für heutige Untersuchungen mit den Instrumentarien der Philologie, Linguistik, Ethnologie und Geschichte fruchtbar zu machen. Und so gliedert sich der Band in drei Teile: „Gelehrsamkeit, Polonität und Politik bei Aleksander Brückner" (Untersuchungen von David Frick, Michael G. Müller, Achim Rabus, Yvonne Kleinmann), „Brückner als Sprachwissenschaftler – Sprachwissenschaft nach Brückner" (Beiträge von Marek Łaziński, Anna Piechnik) sowie den umfangreichsten, mit fünf Beiträgen abgebildeten Teil: „Polonität und andere (Selbst)Zuschreibungen in Geschichte und Gegenwart" (Aufsätze von Mirja Lecke, Katrin Steffen, Olena Duć-Fajfer, Agnieszka Halemba, Ewa Dzięgiel).
Da es eines der Anliegen des Bandes und der Reihe ist, den Zugang der Area Studies über (historische und gegenwärtige) Grenzen hinaus zu nutzen, erlaube ich mir, meine Hauptaufmerksamkeit diesem letzten Teil des Buches zuzuwenden, ohne die ersten beiden Teile dadurch abzuwerten. Der letzte Teil des Sammelbandes scheint mir deshalb besonders anregend, weil er nicht Brückner selbst zum Gegenstand der Untersuchung macht, was bisher durch Konferenzen und Sammelbände mehrfach geschehen ist [1], sondern verschiedene Konzepte von Zugehörigkeit, Selbst- und Fremdverortung thematisiert.
So wählt Mirja Lecke den Nationaldichter" der polnischen Romantik Adam Mickiewicz, um anhand seiner „russischen Periode" – der Zeit, die er im Exil in Petersburg, Moskau und auf der Krim verbringen musste (1824-29) – das Problem einer national verengten Zugehörigkeit aufzuzeigen. Polonität wird hier als kommunikativer, kontextabhängiger Prozess, nicht als feststehender, an Kriterien fixierbarer Zustand verstanden. Dabei bricht auch die Zuschreibung einer an dieser Grenze zum russländischen Imperium gesetzten Moderne auf. Denn ausgerechnet die Krimsonette des polnischen „Nationaldichters" wurden in Petersburg und Moskau wohlwollend aufgenommen, während die Warschauer Kritik in ihnen vor allem eine fremde Thematik und Lexik ausmachte. Der Dichter selbst deutete die Kritik aus Warschau übrigens als einen Beweis für Provinzialität. Auch Konrad Wallenrod, ein Epos, das als Symbol polnischen Widerstandes gegen die russische Fremdherrschaft politisiert wurde, geriet, wie Lecke ausführt, in Petersburger und Moskauer Salons zu einer Attraktion der Abendgesellschaften, und das offizielle Verbot der Schrift wurde dort der Lächerlichkeit preisgegeben. Eine auf Sprache reduzierte Zugehörigkeit und Selbstverortung geht, wie sich an Mickiewiczs Digressionen zu seiner Ahnenfeier zeigt, nicht auf, denn Lecke kann diesen Text überzeugend als Teil eines in polnischer Sprache verfassten imperialen (russländischen) Petersburgdiskurses deuten.
Der Bedeutung von Sprache (und Körper) als Unterscheidungsmythen in der polnischen Kultur widmet sich auch Katrin Steffen. Steffen kann zeigen, dass sich viele Juden vor allem über das Ausdrucksmittel der polnischen Sprache in der Polonität verorteten. Dieser Selbstverortung stand mehrheitlich eine Fremdzuschreibung gegenüber, die ein spezifisches jüdisches Polnisch und einen jüdischen Körper konstruierte. An diesem Diskurs beteiligten sich – auf den ersten Blick überraschenderweise – auch jüdische Publizisten und Wissenschaftler. Auch sie benutzten die Kategorien von Rasse und Sprache mit den ihnen anhaftenden Attributen von Reinheit. Damit waren sie nur partiell in der Lage, sich eben diesen Kriterien zu entziehen, da sie sonst einen Wissensraum verlassen hätten, der Wissenschaftlichkeit und Objektivität beanspruchte. Zu sprachlichen Reinheits- und Überlegenheitsvorstellungen bei Brückner liefert Achim Rabus einen einsichtsvollen Beitrag im ersten Teil des Bandes (Brückners Werk revisited: Zensierte Polonität). Brückner betonte nicht nur die Reinheit der Sprache als Garantin polnischer Kultur. Er sah in ihr auch ein Mittel kultureller Expansion. Rabus klassifiziert Brückners polonozentrische, (kultur)imperialistische Aussagen vorsichtig als vielschichtig und uneinheitlich (S. 74). Möglicherweise sind diese Aussagen nicht nur Folge einer spezifischen Situation der Teilungszeit, wie Rabus argumentiert, sondern auch Teil gesamteuropäischer „Zivilisierungsdiskurse". Produktiv ist Rabus' Einsicht, dass Brückners Konzept von Polonität relational war und über das Verhältnis zum deutschen und östlichen Nachbarn bestimmt wurde (S. 74). Fragt man nach den Anknüpfungsmöglichkeiten dieses Konzeptes für heute, so ist anzunehmen, dass sich die Zahl der Relationen, die schließlich etwas wie Polonität produzieren, in Zeiten der Globalisierung vervielfältigen und über das Dreiecksverhältnis Polen, Deutschland und der Osten hinaus gehen wird.
Der Sprache oder Sprachen als uneindeutigen Zugehörigkeitskriterien widmet sich unter anderem auch Olena Duć-Fajfer in ihrer Untersuchung über die Lemken, eine ursprünglich in den Beskiden siedelnde Volksgruppe mehrheitlich griechisch-orthodoxen Glaubens, deren Nachfahren sich heute, nach den Umsiedlungen der Jahre 1944-47, in der Ukraine, in Polen und in der Slowakei wiederfinden. Das Ergebnis ihrer Analyse verweist auf Multioptionalität in Fragen der Konfession, generationelle Differenzen in der Nutzung von Sprachen (Lemkisch, Polnisch) und eine Hybridität in der Selbstverortung, die sich den Eindeutigkeitsforderungen nationalistischer Konzepte entzieht.
Widerstand gegen Vereinnahmungsversuche nationalistischer Aktivisten, aber auch Versuche der Nationalisierung von Religion über Sprache zeigen sich in den Ergebnissen der überaus interessanten Feldforschung der Kulturanthropologin Agnieszka Halemba in einem Gebiet der Zakarpatska Oblast der Karpatenukraine. Die Region gehörte im Laufe ihrer Geschichte territorial zum Habsburgerreich, zur Tschechoslowakei, zu Ungarn und zur Sowjetunion. Kontinuitäten der alten Zugehörigkeiten werden dort in einer Zweiteilung der administrativen Strukturen der griechisch-orthodoxen Kirche sichtbar. Denn das Bistum von Mukačevo ist anders als die übrigen Bistümer nicht Kiev, sondern direkt dem Apostolischen Stuhl unterstellt. Im 19. Jahrhundert war es ukrainisch-nationaler Agitation gegenüber auch deutlich weniger aufgeschlossen als das benachbarte Galizien. Seit 2002 werden in diesem Gebiet an einer Quelle Marienerscheinungen und die anderer historischer Helden und regionaler Heiliger registriert. Die heilige Maria bitte bei diesen Ereignissen darum, dass das Kirchenslawische im Gottesdienst durch Ukrainisch ersetzt werde. Diesem auch durch andere Aktivitäten ukrainisch-national gerahmten Anliegen widersetzen sich einige Priester wie Gläubige, die sowohl für die Einführung lokaler Dialekte wie für das Beibehalten des Kirchenslawischen in der Liturgie eintreten (S. 208 f.), ohne darin einen Ausdruck von Illoyalität gegenüber dem ukrainischen Staat zu sehen. Halemba deutet dies als einen Versuch, in einem von nationalistischen Diskursen dominierten Raum ein anationales Identifikationsangebot zu schaffen (S. 209). Sprache wird darin gerade nicht als Marker von nationaler Zugehörigkeit, sondern als Kommunikationsmittel oder – wie im Fall der Liturgie – als Symbol von Tradition gesehen.
Dass Sprache weder ein notwendiges noch hinreichendes Kriterium von nationaler Gruppenzugehörigkeit ist, zeigt auch die Analyse der Selbstverortung von Personen polnischer Herkunft in der Ukraine, die Ewa Dzięgiel in ihrem Überblicksbeitrag vornimmt. Auch hier spielen andere Kriterien als Sprache – wie etwa kulturell verstandene Religionszugehörigkeit – als Identitätsmarker eine dominante Rolle. Die polnische Minderheit in der Ukraine erweist sich als multilingual, bilingual (Polnisch und Ukrainisch oder Polnisch und Russisch) oder einsprachig (Russisch oder Ukrainisch). Das Polnische dient(e) nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern war und ist Bestandteil symbolischen Kapitals, das dieser Sprache in bestimmten Situationen zugeschrieben wird.
Die Bedeutung eines situativen Verständnisses von Begriffen unterstreicht auch Yvonne Kleinmann in ihrer Analyse des Verfassungstextes von 1791. Sie macht damit auf die Möglichkeiten einer an Brückners philologisches Interesse anknüpfenden Begriffsgeschichte aufmerksam, die für Schlüsselbegriffe der politisch-sozialen Sprache in Polen noch weitgehend aussteht. Ferner stellt sie für das 18., in Polen vornationale Jahrhundert fest, dass das Konzept von Polonität in dem Textkorpus, der mit den Reformdebatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Zusammenhang steht, keinesfalls einheitlich ist. Sprache, so ließe sich nach der vergleichenden Lektüre der Texte ergänzen, spielt darin – anders als im 19. und 20. Jahrhundert – keine Rolle.
Zusammenfassend lässt sich für den vorliegenden Band festhalten, dass er das Plädoyer David Fricks für Interdisziplinarität und philologische Sensitivität (S. 33-46) erfolgreich umsetzt. Vertreter der Slawistik, der Geschichtswissenschaft, der Linguistik und der Kulturanthropologie kommen in ihm zu Wort. Auch wird mit dem Fokus auf kleinere Gemeinschaften wie etwa das Dorf in dem Beitrag Cultural Self-Description of the Inhabitants of Polish Villages: An Ethnolinguistic Perspective von Anna Piechnik die (trans)nationale Perspektive durch die lokale ergänzt. Zu wünschen ist dem Buch, dass die Beiträge tatsächlich über die engen Disziplingrenzen hinaus wahrgenommen werden und nicht das Schicksal Brückners teilen, der in getrennten akademischen Welten agierte, wie Michael Müller (Der ungehörte Vermittler. Aleksander Brückner als polnischer Slawist im deutschen akademischen Milieu) für den Slawisten überzeugend nachweist. Die Frage, was Polonität wann, für wen, wo und warum bedeutet, ist mit dem vorliegenden Band für einzelne Untersuchungsgegenstände differenziert beantwortet. Das ganze Feld verbleibender Analysen ist aber glücklicherweise noch nicht bestellt.
[1] Tadeusz Ulewicz (Hg.): W trzydziestą rocznicę śmierci Aleksandra Brücknera, Sesja naukowa w Auli Collegium Novum UJ w Krakowie. 31 maja 1969. Kraków 1971; Alicja Nagórko (Hg.): Aleksander Brückner – zum 60. Todestag. Beiträge der Berliner Tagung 1999. Frankfurt 2001; Witold Kośny (Hg.): Aleksander Brückner – ein polnischer Slavist in Berlin. Berlin 1991. Weitere Titel im vorliegenden Band, S. 27-29.
Sposób cytowania:
dr Maria Rhode: Recenzja: Yvonne Kleinmann, Achim Rabus (Hg.): „Aleksander Brückner revisited“ – Debatten um Polen und Polentum in Geschichte und Gegenwart, 2015, w: https://www.pol-int.org/pl/node/2920#r7135.