Etwa zwei Millionen Menschen polnischer Herkunft leben in Deutschland. Anhand von biographischen lebens- und familiengeschichtlichen Erzählungen polnischer Migranten schildert Thea Boldt deren Identitätskonstruktionen und Alltagserfahrungen. Sie zeigt, welche wichtige Rolle dabei die schwierige deutsch-polnische Kollektivgeschichte bis heute spielt.
Thea D. Boldt (2012)
Die stille Integration. Identitätskonstruktionen von polnischen Migranten in Deutschland
- Data opublikowania: 07.05.2014
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Poleca prof. Tim Buchen
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Die stille Integration: Identitätskonstruktionen von polnischen Migranten in Deutschland
Zrecenzował(a) Karolina Barglowski
- Data opublikowania: 07.05.2014
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Zrecenzował(a)
Karolina Barglowski
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Redakcja naukowa
prof. Tim Buchen
- DOI: 10.11584/opus4-514
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung der von der Autorin verfassten Dissertation „Ethnische Identitätskonstruktionen und biographische Reinterpretationsprozesse. Eine Fallstudie zu biographischen Folgen der Migration am Beispiel von polnischen MigrantInnen in Deutschland“, die an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen 2010 angenommen wurde.
Das Ziel des Buches ist es anhand biographischer Erzählungen von Personen, die aus Polen nach Deutschland migriert sind, einen Einblick zu erhalten, „wie Menschen in der Konstruktion ihrer Biographien auf die eigene Migrationserfahrung Bezug nehmen“ (S. 19). Das Buch leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer Reihe von Forschungsdesiderata der (deutschen) soziologischen (Migrations-)Forschung. Zum einen bearbeitet es anhand eines kohärenten und anspruchsvollen theoretisch-methodologischen Rahmens die spannende Frage zum Verhältnis von biographischer (Dis-)Kontinuität, Migration und Ethnisierungsprozessen. Zum anderen richtet es einen empirischen Blick auf die verwobene deutsch-polnische Geschichte. Mit Blick auf „unauffällige“ Kriminalitätsstatistiken und Bildungserfolge im Vergleich zu anderen MigrantInnengruppen, aber auch ihre geringe öffentlich-politische Einmischung, werden polnische MigrantInnen in Deutschland als besonders „integrationsfähig“ wahrgenommen. The Boldts dichte und ausführliche Rekonstruktion von biographischen Interviews zeigt jedoch die lebensgeschichtlichen Diskontinuitäten und Krisen, die sich hinter der „stillen Integration“ verstecken.
Das Buch gliedert sich in 7 Teile, die dem üblichen Aufbau einer Dissertation entsprechen. In der Einleitung, Kapitel 1 des Buches, erläutert die Autorin die Relevanz ihres Forschungsthemas vor dem Hintergrund einer spärlichen Forschungslandschaft zu MigrantInnen aus Polen in Deutschland. Insbesondere fehlen Forschungen, die die Perspektive der MigrantInnen berücksichtigen. Wie die Autorin in Kapitel 2 historisch herleitet, ist die Kategorie „polnische/r MigrantIn“ schwer zu erfassen, da sich aufgrund der „deutsch-polnischen Kollektivgeschichte“ (S. 23) Personen mit polnischer Herkunft in Deutschland in vielerlei Hinsicht unterscheiden, z.B. in Bezug auf Staatsbürgerschaft und ethnische Selbst-und Fremdidentifikation. Denn darunter sind z.T. Personen, die zwar in Polen sozialisiert wurden, aber deren (ethnische) Herkunft und Identifikation sich auf Deutschland bezieht, gleichwohl sie in Deutschland nicht unbedingt als Deutsche wahrgenommen werden. Wie die Autorin überzeugend darlegt, ist die Gruppe der Personen, die aus Polen nach Deutschland migriert ist, damit ein gutes empirisches Beispiel zur Untersuchung von Dynamiken der (ethnischen) Selbst- und Fremdbeschreibungen. Das Sample wird eingegrenzt auf Personen, die seit längerer Zeit in Deutschland leben. Ein kleiner Kritikpunkt betrifft die Darstellung der Samplezusammenstellung. Diese bleibt leider bis auf die drei Ankerfälle, die überaus ausführlich vorgestellt werden, und wenige Ausnahmen in Kapitel 6 weitgehend unbekannt.
Die theoretische Fundierung der Studie im „interpretativen Paradigma“ wird in Kapitel 3 dargestellt. Die Autorin diskutiert Konzepte wie Identität, Ethnizität, Migration und Biographie und greift dazu u.a. auf Barths (1969) (ethnic) boundary making und auf Meads Sozialisationstheorie (1934/1967) zurück. So leitet die Autorin theoretisch her, dass Identität in sozialen Interaktionen mit signifikanten Anderen geformt wird und andererseits die von außen bestimmte Zugehörigkeit zu einer „ethnisierten“ Gruppe nicht zwangsläufig mit kollektiven ethnischen Identitäten gleichzusetzen ist (S. 43). Vielmehr sollte Ethnizität als eine der kollektiven Bedeutungen, die den „Organisationsprozess von Erfahrung“ oder den „ethnischen Identifikationsprozess“ anleiten kann (S. 43). konzeptualisiert werden Der Bearbeitung von Migrationsprozessen und ihrer Bedeutung für die Identitätskonstruktionen nähert sich die Autorin durch einen Biographie-orientierten Zugang. Mit Rekurs auf „klassische“ Studien zu Migrationsprozessen und ihrer (biographischen) Bearbeitung aus Sicht der Migrierenden, zeigt sie, dass diese (z.B. Robert E. Parks (1928) „marginal man“ oder William I. Thomas und Florian Znanieckis „Polish Peasant“ (1918-1920) Migration implizit als (biographische) Krise ansehen. Die Autorin hingegen plädiert dafür „Identität“ als diskontinuierlichen „Rekonstruktions- und Konstruktionsprozess“ „in Form von Biographien“ zu begreifen und somit auch der Migration nicht per se eine Krisenhaftigkeit zuzusprechen (S. 58). Denn, und hiermit weist die Autorin auf einen m.E. wichtigen Punkt hin, Migration muss keine Krise im Sinne eines „krisenhaften Leidens und Erleidens“ (S. 181) innerhalb von Biographien bedeuten, sondern kann auch als ein „Normalfall biographischer Diskontinuität“ angesehen werden.
Die für die vorliegende Studie verwendeten Methoden werden in Kapitel 4 erläutert. Sie sind angesiedelt in der Biographieforschung nach Rosenthal und Fischer (S. 62) und damit „im Kontext der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung, die dem Konzept der Erfahrung und ihrer ständigen Veränderung Rechnung trägt“ (S. 60). So sind es die Befragten als „BiographInnen“, die ihre Biographie aktiv hervorbringen und deren biographische Selbstdarstellungen die empirische Datengrundlage bilden. Die Autorin klärt transparent über ihren Feldzugang, die Gewinnung von InterviewpartnerInnen auf und reflektiert dabei ihre Position im Feld, die durch die eigene und dem Feld bekannte polnische Migrationsgeschichte gekennzeichnet ist. Aus dieser Position im Feld resultieren sowohl forschungspraktische Vorteile, wie etwa ein vereinfachter Feldzugang als auch methodologische Herausforderungen, wie etwa die (beidseitige) Voraussetzung geteilter Wissensbestände über historische oder ethno-nationale Gegebenheiten. Diese gegenseitige Voraussetzung geteilter Wissensbestände begünstigt allerdings ein „vorschnelles Verstehen“ und lässt damit möglicherweise die individuellen Interpretationen der BiographInnen in den Hintergrund treten. Diese methodologischen Herausforderungen löst die Autorin indem sie dieses Spannungsfeld in allen Forschungsschritten reflektiert.
Im ersten empirischen Kapitel 5 werden zuerst ausführlich drei „Ankerfälle“ vorgestellt, die RepräsentantInnen von drei in Bezug auf ethno-nationale (Selbst-)Verortungen maximal kontrastierende Biographien von MigrantInnen aus Polen in Deutschland sind. In diesem Kapitel fallen besonders positiv die ausführlichen Zitate der BiographInnen auf, die die dichten Interpretationen der Autorin intersubjektiv nachvollziehbar machen. Die Autorin zeigt auf, dass die Ethnisierung biographischer Erfahrungen nicht nur an historische Gegebenheiten, sondern auch an individuelle Erlebnisse und Familiengeschichten rückgebunden wird. Dabei, zeigt die Autorin, dass Biographien von MigrantInnen nicht als reine „Migrationsbiographien“ betrachtet werden dürfen. Denn wie auch alle Nicht-Migrierten werden Erfahrungen und entworfene Handlungsmuster über unterschiedliche Dimensionen (re-)interpretiert. Migration kann zwar als biographische Diskontinuität erfahren, allerdings auch als Fortsetzung vorangehender biographischer Strukturen interpretiert werden. So erlebt Teresa Staropolska „ihre Migration zwar als Diskontinuität [erlebt], aber auf der kognitiven Ebene als eine Fortsetzung des für die Familienstruktur wichtigen Themas ‚des Leidens unter den Deutschen' konzipiert.“ (S. 182). Jan Kowalski hingegen erfährt weniger die Migration als biographische Diskontinuität, als vielmehr seine der Migration vorangehenden „krisenhaften“ Familienverhältnisse, in die die Migration hineinspielt.
Im zweiten empirischen Kapitel 6 verdichtet die Autorin die Ergebnisse der drei Fallrekonstruktionen und ergänzt sie durch weitere Interviews zu einer Typologie, die sich entlang dreier Problemfelder „aufspannt“: 1) individuelle Familiengeschichte, 2) Bedeutung der deutsch-polnischen Kollektivgeschichte, 3) Bedeutung der Migration und Erfahrungen mit Deutschen (S. 186).
Entlang dieser drei Problemfelder rekonstruiert die Autorin drei „Ethnisierungs“-Typen, die anschließend anhand der drei Ankerfälle und z.T. weiterer strukturähnlicher Fälle dargestellt werden: 1) der polnische Traditions-Typus, 2) der deutsch-polnische Ambivalenz-Typus und 3) der polnische Ethnisierungs-Typus. Diese drei Typen unterscheiden sich in Hinblick darauf, auf welche ethno-nationale Kategorie sie zurückgreifen, um sich selbst ethnisch zu verorten. Desweiteren unterscheiden sie sich in Bezug auf die den (ethnischen) Identifikationsprozessen zugrundeliegenden historischen und familiären Kontexte. Die Studie zeigt einerseits die z.T. ambivalenten (Selbst-)Verortungen von Personen, die aus Polen nach Deutschland migriert sind. Andererseits zeigt sie, dass trotz der Diskurse um die „gelungene“ Integration der Polen in Deutschland deren „individuelle Integrationserfahrungen“ mitnichten als unproblematisch zu bezeichnen sind. Sie sind vielmehr durch den biographischen Rückgriff auf „über Generationen hinweg tradierte deutsch-polnische Kollektiverfahrungen“, die aus polnischer Perspektive oft als „Leidensgeschichte“ erzählt werden, und institutionelle und alltägliche Diskriminierungserfahrungen in Deutschland gekennzeichnet (S. 198).
Thea Boldts Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Ethnizität als in sozialen Prozessen erzeugtem Konstrukt und eben nicht als Subjekten inhärenter Idiosynkrasie. Darüber hinaus verleiht es der großen Anzahl an „still integrierten“ Personen polnischer Herkunft in Deutschland wissenschaftlich „eine Stimme“. Ein Vorteil dabei war sicherlich auch, dass die Autorin Interviews sowohl in Deutsch, wie auch in Polnisch führen konnte. Bis auf eins führte sie die meisten auch auf Polnisch. Die Arbeit ist überaus empfehlenswert für eine breite LeserInnenschaft, z.B. für alle InteressentInnen der deutsch-polnischen Geschichte, für interpretativ-rekonstruktiv Forschende, sowie nicht zuletzt aufgrund der ausführlichen Darstellungen von Biographien für Alle, die selbst aus Polen nach Deutschland migriert sind. Für die letztere Zielgruppe sind besonders die empirischen Kapitel geeignet, die theoretischen, wie auch methodologischen Diskussionen eignen sich aufgrund ihrer wissenschaftlichen Komplexität und theoretischen Gehalts eher für ein sozialwissenschaftlich geschultes Fachpublikum.