Die Jahrestagung der Leibniz Graduate School for Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts „Geschlecht und Wissen(schaft) in Ostmitteleuropa“ (organisiert von Peter Haslinger, Ina Alber, Stanislava Kolková, Kinga Kuligowska in Kooperation mit Claudia Kraft und der Professur „Europäische Zeitgeschichte seit 1945“ der Universität Siegen) vom 12.-13. Dezember 2014 verwies auf zwei Leitfragen – wie schafft Wissen einerseits Geschlecht und wie funktioniert die Kategorie Geschlecht andererseits im Berufsfeld Wissenschaft. Diese Leitfragen wurden in den Vorträgen, die teils Case Studies, teils theoretische Modelle behandelten, beleuchtet. Thema der Konferenz war die prozesshafte Herstellung und Funktion der zusammenhängenden Kategorien Wissen und Geschlecht. Die Tagung setzte damit einen deutlich wissenschaftsgeschichtlichen Fokus.
Den Eröffnungsvortrag hielt Theresa Wobbe (Potsdam). Die Historikerin und Soziologin zeichnete eine historische Entwicklung der Produktion von Wissensressourcen durch Geschlechterverhältnisse und Geschlechterkodierungen, vom 18. bis zum 21. Jahrhundert nach. Der Hauptfokus des Vortrages ruhte dabei auf von staatlichen Verwaltungen geschaffenen Klassifizierungsordnungen, die sich durch Statistiken definierten. Die Bevölkerung werde in diesen statistischen Verfahren als Gattungskörper aufgefasst und der Körper damit zunehmend Thema für politische Ökonomie.
Die Vortragenden aus Deutschland, Polen, Russland, Schweden, Bulgarien, Österreich, der Schweiz und der Ukraine gestalteten eine anregende Jahrestagung mit einer Vielfalt von interdisziplinären Themen. Die historischen Fallbeispiele der Entwicklung von Frauenbewegung(en) und dem Austausch zwischen Netzwerken standen ebenso wie die Biographien von WissenschaftlerInnen, AutorInnen und Intellektuellen am ersten Tag im Fokus. Auch die Spannungsverhältnisse, die die gesellschaftliche Aushandlung von Geschlecht und Nation sowie die Verbindung dieser beiden Kategorien mit sich bringen können, wurden anhand von Case Studies aus den Literatur-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaften beleuchtet.
Am zweiten Tag der Konferenz stellte Bożena Chołuj (Warschau/Frankfurt O.) mit ihrem Keynote-Vortrag „Gender Traveling zwischen Literatur und Wissenschaft" die grundlegenden Kategorien von Wissensmedien, im speziellen der Literatur, in Frage bzw. zeigte das in ihnen steckende Potenzial für die Generierung von Wissen auf. Die Literatur enthalte eine Informationsfunktion, nicht nur zum Selbstzweck, sondern auch für die Geschichtswissenschaften. Dabei sei sie nicht als realistischer, faktischer Roman zu lesen, der eine historische Wahrheit zeigen möchte und Fiktionalität relativiere, sondern als eine Vermittlerin von Strömungen der Gesellschaft.
Auf der Agenda dieses Konferenztages stand vor allem die diskursive Herstellung von Wissen und Geschlecht. Auch die Fragen des Transfers, der Übersetzung und transnationalen Vermittlung von Wissen wurden thematisiert. Einen Dreiländervergleich von Schweden, Polen und Deutschland brachte Teresa Kulawik (Södertörn/Potsdam) in ihrem Keynot-Vortrag ein, in dem sie die Wissenskulturen und die Politisierung von Reproduktionstechnologien verglich. Betrachte man die Körperpolitik im Kontext von „Biomacht“ in den Ländern genauer, dann zeige sich, dass Deutschland wider Erwarten eine Vorreiterrolle in der Frauenbewegung und der kritischen Auseinandersetzung mit der Körperpolitik einnehme, was die Vorstellung einer linearen Politik durcheinander bringe. Der entscheidende Punkt sei allerdings, dass erwartet werde, dass die Wissenschaft und nicht ein zivilgesellschaftlicher Diskurs die anstehenden Konflikte lösen werde. Dies stelle die eigentliche Herausforderung an den gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs dar.
Wiederkehrendes Thema war die Wissensproduktion von Geschlecht im Sozialismus, die Frage ob 1989 als „Zäsur“ in der Betrachtung von Geschlechterfragen eine nötige Markierung sei oder den Blick auf den Feminismus verstelle und dieser so vom Sozialismus abgegrenzt werde. Die Bedeutung des Jahres 1989 sowie die politische Wende und der Wegfall der Systemkonkurrenz wurden kritisch für den Handlungsrahmen und Handlungsprobleme von sozialen AkteurInnen diskutiert.
Claudia Kraft (Siegen), Herder Chair und Mitorganisatorin der Tagung, fasste die Vorträge zusammen: Wenn der Staat als Wissenserzeuger auftrete, versuche er, alle Probleme unter einem statistisch erfassbaren Paradigma zusammenzufassen. Die Schwierigkeit ergäbe sich in diesem Zusammenhang aus der Beeinflussung des wissenschaftlichen Denkens, beispielsweise durch patriarchale Strukturen oder im vorangegangen Fall durch die „große Erzählung" des Sozialismus. Man müsse sich fragen, wie das Wissen über Geschlecht hergestellt werde, wenn das Konzept von Gender noch nicht rezipiert sei. Dieser Idee folgend würde die Bevölkerung als Gattungskörper begriffen und nicht als Gruppe von Individuen.
Abschließend lässt sich noch hinzufügen, dass die auf der Tagung vollzogene thematische Gewichtung auf die Interdependenz der Kategorien Wissen, Macht, Geschlecht einerseits und die Spannbreite der Case Studies andererseits eine Fokussierung auf die Problematik der Wissensproduktion selbst ermöglichte. Diese stellte sich als kontextabhängige und vor allem gesellschaftliche Praxis dar, womit (wenn auch ähnliche Kategorien erforscht wurden) die Tagung zeigte, dass Kategorisierungsprozesse durchaus unterschiedlich verlaufen können.
Tagungsbericht von Christoph Maisch und Jennifer Ramme
Zuerst veröffentlich in: Herder Aktuell