Szczepan Twardoch gehört neben Olga Tokarczuk, Nobelpreisträgerin für Literatur 2019, zu den bekanntesten Autoren der polnischen Gegenwartsliteratur. Der Durchbruch gelang ihm 2012 mit dem Roman Morphin (Orig. Morfina). Für den Roman erhielt er den renommierten Literaturpreis Paszport Polityki. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. 2016 wurden sein Roman Drach und dessen Übersetzung von Olaf Kühl mit dem Literatur- und Übersetzerpreis Brücke Berlin ausgezeichnet. 2019 erhielt Szczepan Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Der Roman Der Boxer (Orig. Król) wurde 2020 von Jan P. Matuszyński als Fernsehserie verfilmt und läuft auf Canal+ on demand. Sie erhielt positive Kritik und wird häufig mit der britischen Fernsehserie Peaky Blinders verglichen.
Mag Szczepan Twardoch von den deutschen Kritikern gefeiert werden, so finden seine Romane noch wenig Beachtung in der Polenforschung – wenn auch erste kritische Auseinandersetzungen mit dem Autor und seinen Romanen stattfinden, so etwa in dem vom Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien organisierten Seminar „Szczepan Twardochs Roman Drach und das Schlesische“ unter der Leitung von Andrea Meyer-Fraatz und Ruprecht von Waldenfels. Es wäre dabei enorm wichtig, seine Romane systematisch zu analysieren und in den wissenschaftlichen Diskurs einzuordnen.
Enfant terrible der polnischen Literatur
Szczepan Twardoch ist das enfant terrible der polnischen Literatur. In seinen Romanen befasst er sich mit wenig beleuchteten Themen der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und provoziert auf diese Weise, weshalb er in Polen durchaus kontrovers diskutiert wird. Er konfrontiert den Leser mit Ambivalenzen und lässt ihn selbst entscheiden, wer die böse Figur ist. Hochinteressant sind seine Romane Der Boxer und Das schwarze Königreich (Orig. Królestwo), die den Aufstieg und Niedergang des jüdischen Boxers Jakub Shapiro in der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939/1944) schildern, welche wiederum mehr und mehr in politisches Chaos stürzt, während Antisemitismus sowie die Diskriminierung ethnischer Minderheiten zunehmen. Vor diesem Hintergrund – insbesondere auch nach dem Überfall Deutschlands und der Sowjetunion 1939 auf Polen – agiert der Protagonist und versucht, sich zurecht zu finden und „seine Unterwelt“ unter Kontrolle zu halten.
Die Unterwelt von Warschau
Der Boxer spielt in den späten 1930er Jahren und schildert das Leben der „Unterwelt-Schickeria“ in der polnischen Hauptstadt zwischen Geld, glamourösen Restaurants, maßgeschneiderten Anzügen, teuren Autos und Nutten, käuflichen Journalisten, vom Kokainkonsum und Eintreiben von Schutzgeldern. Im Vordergrund steht der junge, talentierte Boxer Jakub Shapiro, der vom Unterweltpaten Jan Kaplica an Bord geholt wird. Shapiro steigt in der Unterwelt auf und wird zu einer wichtigen Person im Umfeld von Kaplica. Er treibt Gelder ein, verprügelt Kunden, die Zahlungen nicht hinterhergekommen sind, und erledigt die Drecksarbeit für den Paten. Das alles wird von Mojżesz Bernstein – dem Ich-Erzähler – berichtet, dessen Vater von Jakub Shapiro umgebracht wurde, weil er das Schutzgeld nicht hatte bezahlen können. Nachdem Kaplica festgenommen und in das Lager Bereza Kartuska gebracht und dort zu Tode geprügelt wird, bricht Chaos in der Unterwelt aus und Shapiro tut alles, um an der Macht zu bleiben. Nach dem gewaltsamen Tod seines Bruders – eines Zionisten – hat Shapiro genug von der auf den Straßen herrschenden Willkür und plant, Polen zu verlassen und nach Palästina auszuwandern, wie es sich sein Bruder gewünscht hatte. Allerdings merkt er im Flugzeug, dass ihm das Leben in Warschau viel lieber ist als das zwar gelobte, aber unbekannte Land. Er zwingt den Piloten zur Umkehr und bleibt in Warschau. Diesen Fehler wird ihm seine Familie nicht verzeihen.
Warschau unter deutscher Besatzung
Das schwarze Königreich behandelt die Jahre während des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) und erzählt vom Niedergang des Unterweltkönigs während der deutschen Besatzung Polens, der Errichtung des Warschauer Ghettos und des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Der Roman beginnt im Dezember 1944. Jakub Shapiro kann kaum aufstehen. Deswegen muss sich seine frühere Geliebte, die Bordellinhaberin Ryfka, eine der beiden Ich-Erzähler, um die gemeinsame Existenz kümmern, damit sie den Krieg überleben. Sie wandert nachts durch die Stadt und sucht in leerstehenden Wohnungen nach Lebensmitteln.
Shapiro selbst fängt nach der Einrichtung des Ghettos 1940 an, mit den Deutschen zu kollaborieren. Er wird zum Ordnungspolizisten im ersten Bezirk, was auch der Grund für die Trennung von seiner Frau Emilia, einer linken Zionistin, und den Zwillingsöhnen David und Daniel ist.
Der zweite Ich-Erzähler ist David, der seinen Vater für alles, was er seiner eigenen Familie angetan hat, dermaßen hasst, dass er bereit ist, ihn umzubringen. David hatte keine Kindheit. Unmittelbar nach der Einrichtung des Ghettos beginnt er mit zwei Freunden, die er im Ghetto kennenlernt, zu schmuggeln. Damit verdient er genug Geld, um seine Mutter und den Bruder zu ernähren. Der Hass auf seinen Vater, die Deutschen, die Polen und das Leben machen aus David Shapiro einen Killer, der nachts durch das Warschauer Ghetto zieht und deutsche Soldaten tötet.
Die dritte Ich-Erzählerin, die erst gegen Ende des Buches zu Wort kommt, ist Emilia, die Frau von Jakub Shapiro. Im letzten Kapitel schildert sie, wie sie und ihr Sohn Daniel im Vernichtungslager Treblinka in einer Gaskammer ermordet werden, zusammen mit über einer Million Juden, Sinti und Roma aus ganz Europa. Mit diesem äußerst intimen Monolog von Frau Shapiro bekommen die Opfer eine Stimme, mit der sie ihren Tod beschreiben können und den Leser daran erinnern, sie nicht zu vergessen.
Historischer Thriller
Der Autor schafft aus beiden Romanen einen packenden historischen Thriller, der sich in einem Stück lesen lässt. Die Geschichte wird minuziös und mit vielen Details erzählt. Es treten mehrere Haupt- und Nebenfiguren in Erscheinung, die ihre eigene Geschichte erzählen und so das historische Gesamtbild wie ein fehlendes Puzzleteil vervollständigen, wodurch die Lektüre ungemein spannend wird.
Das Besondere an den beiden Romanen ist, dass ein nichtjüdischen Autor – der selbst zur schlesischen Minderheit in Polen gehört – einen jüdischen Helden erschafft. Der jüdische Protagonist wird in positivem Lichte geschildert: Jakub Shapiro ist stark, wird von seinen jüdischen Mitbürgern gefeiert und ist bei den Frauen beliebt, selbst den Polinnen verdreht er reihenweise die Köpfe. Seinen Charme setzt er zudem bewusst und gezielt zu seinem Vorteil ein.
Die Beschreibung des historischen Kontexts ist eine dezidierte Stärke von Szczepan Twardoch. Er setzt seine Figuren in ein sensibles historisches Setting und nimmt keine Rücksicht auf den verletzten Patriotismus seiner polnischen Leser. Er vermischt dabei real existierende Persönlichkeiten mit fiktiven Figuren und arbeitet mit höchst kontroversen Themen, die in der polnischen Gesellschaft weitestgehend noch nicht aufgearbeitet sind – wie dem polnischen Antisemitismus oder der Kollaboration von Polen und polnischen Juden mit den Deutschen.
Insbesondere Das schwarze Königreich stellt eine Bandbreite an persönlichen Schicksalen vor, die gewollt oder ungewollt auf der Seite des Bösen kämpfen. Eindrückliches Beispiel ist ein polnischer Bergarbeiter, der in die Wehrmacht eingezogen wird. Ihm gefällt das Militärleben, bis er in Kiew ein jüdisches Mädchen erschießen soll und in Anbetracht der ihm aufkommenden Zweifel desertiert. Am Ende wird er von einem Juden erschossen. Ein anderes Beispiel ist ein Ukrainer, dem die Bolschewiki in den 1930er Jahren alles genommen haben, einschließlich seiner Familie, die im Holodomor umgekommen ist. Aus Rache schließt er sich der Wehrmacht an und tötet Juden in der Ukraine.
Szczepan Twardoch lässt in seinen Romanen das Böse und das Gute nebeneinanderherlaufen und überlässt die Fragen: „Wer ist der Böse? Und wer der Gute?“ dem Leser zur eigenen Entscheidung.