Dr. Susann Worschech ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina. Ihr Forschungsgebiet ist die Politische Soziologie Europas mit einem besonderen Fokus auf Zivilgesellschaft in der Ukraine und sozialem Wandel in Mittel- und Osteuropa. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem PostDoc-Preis des Landes Brandenburg 2019. Zur Ukraine ist von ihr zuletzt erschienen „Deutsch-ukrainische Kulturbeziehungen: Veränderungen nach dem Euromaidan“.
Was wir die Euromaidan-Proteste nennen, heißt bei den Ukrainern die "Revolution der Würde". Es ist kein Zufall, dass der Angriff Russlands fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem erfolgreichen Ende dieser Volkserhebung stattfand, jenem Tag also, an dem die EU die Absetzung des kleptokratischen Präsidenten Viktor Janukowitsch durch das ukrainische Parlament anerkannte. Putins Zahlensymbolik ist eindeutig: Er will das Ende dieser Würde. Er will Demokratie und Selbstbestimmung in der Ukraine wegbomben.
Aber so mächtig Putins Armee auch ist, so massiv sie die ukrainischen Städte angegriffen hat, zeigt diese unbändige Aggressivität auch, dass er das Land, das er Russland endlich wieder unterwerfen will, nicht mehr versteht. Wenn Putin dachte, dass sich das Land zügig militärisch einnehmen und dann auch langfristig kontrollieren ließe, unterschätzt er die moderne Ukraine und ihre widerstandserprobte, selbstbewusste Gesellschaft.
Die Ukraine ist nicht mehr dieselbe wie 2014, als die Einnahme der Krim für die russischen Truppen ein Spaziergang war und im Donbas nur improvisierte Gegenwehr geleistet werden konnte. Die Armee ist stärker und kämpft mit aller Entschlossenheit, aber vor allem ist die ganze ukrainische Gesellschaft heute selbstbewusster, mutiger und pluralistischer als je zuvor. In allen Teilen des Landes, auch in der Ostukraine hat sich das entwickelt, was Putin um jeden Preis in der Ukraine, vor allem aber in Russland selbst verhindern will: eine aktive, kritische, fordernde Zivilgesellschaft.
Die ukrainische Gesellschaft hatte auf dem Maidan nur begonnen, ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Aus der Protestbewegung von 2014 entwickelte sich eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen. Aktivist*innen schlugen demokratische Reformen vor und entwarfen ganze Gesetze, sie kämpften gegen die Korruption, sie gründeten neue Medien. Sie wurden Abgeordnete oder errichteten Netzwerke, um die Demokratisierung des Landes voranzubringen. Viele Bürger*innen, die sich zuvor noch nie engagiert hatten, begannen, in kleinen Initiativen aktiv zu werden – sei es, um Spenden für das Militär in der Ostukraine zu sammeln, oder um Urban-Gardening-Projekte voranzubringen.
Zugleich gab es einen Aufschwung von Kunst und Kultur – insbesondere in den industriell geprägten Städten der Ostukraine. Städte wie Bachmut, Kramatorsk, Lyssitschank oder Slowjansk waren klassisch-sowjetische Bergbau- und Industriestädte. Mit der Besetzung und Ausrufung der „Volksrepubliken“ kamen Binnenflüchtlinge, Verwaltungen und neue Aufgaben in zahlreiche in dieser 100.000-Einwohner-Städte, Sjewjerodonezk und Kramatorsk wurden Verwaltungssitze der verbliebenen Oblaste Luhansk bzw. Donezk. Unter den Geflüchteten waren Künstler:innen, NGO-Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, von denen viele weiter zogen nach Dnipro oder Kiew, aber manche auch ganz bewusst blieben und eine aktive Kunst- und Kulturszene aufbauten. Der seit dem Maidan deutliche Trend gestiegenen bürgerschaftlichen Engagements, eine stärker politische Kulturszene und offene Debatten haben in zahlreichen Städten der Ostukraine die Gründung von Initiativen und Projekten erleichtert. Ein gewachsenes Bewusstsein für kommunale Eigenverantwortung, die Verschränkung kultureller Aktivitäten mit sozialpolitischen Fragen, postindustrieller Entwicklung oder auch dem sowjetischen kulturellen Erbe trugen zu einem Aufblühen von Kunst und Kultur im Donbas bei.
So gründeten Aktivist:innen bereits 2015 in der zuvor schwer umkämpften Stadt Slowjansk die NGO Teplitsia als Plattform und offenen Raum für Jugendbildung, Kultur und Gemeinschaftsentwicklung, und organisierten seither tausende Vorträge, Konzerte, Treffen, Workshops und Kulturevents im Donbas. Mit dem Zivilgesellschaftszentrum Drukarnia gibt es seit 2019 eine zweite sehr aktive NGO in Slowjansk, die sich mit der demokratischen und ökologischen Transformation der Ukraine auseinandersetzt.
In Mariupol, der Hafen- und Industriestadt am Asowschen Meer, etablierten Binnenflüchtlinge die Kunstplattform TЮ! als Kollektiv, das zeitgenössische kritische Kunst aus der Ukraine und Europa in die Stadtöffentlichkeit bringt. Offene Kulturräume wie das Halabuda, ein Lesecafé und nicht zuletzt das ukraineweit bekannte Kunstfestival Hoholfest, das 2018 und 2019 in Mariupol stattfand, zeugen von der tiefgreifenden (Kultur-)Transformation der Stadt. In anderen Städten, so etwa in Bakhmut, entwickeln sich Modelle partizipativer Stadtentwicklung, setzen sich Initiativen kritisch mit Kultur und Identität der Region auseinander, findet Kultur im öffentlichen Raum statt, werden Bürgerbudgets und Bürgerräte erprobt. Neue Initiativen und Organisationen wie das Jugendzentrum Vilna Chata (Freies Haus) in Kramatorsk, Khochubudu in Sjewjerodonezk, Druzi in Konstantinowka verbinden Kultur, Kunst, Bildung, und Demokratisierung, bieten Co-Working Spaces und Konzertbühnen an und stellen Ansätze einer urbanen Zivilgesellschaft dar, die noch vor einem Jahrzehnt in der Ostukraine undenkbar gewesen wäre.
Durch all diese Entwicklungen sind zwar aus den Industriestädten des Donbas keine blühenden Landschaften oder große Kunst- und Kulturzentren geworden, aber es hat sich etwas bewegt. Die Ostukraine, die lange Zeit als pro-russisch, kaum demokratisch und wenig an Kunst interessiert galt und wahlweise misstrauisch oder abschätzig betrachtet wurde, hat sich durch Russlands Krieg verändert – in eine Region, in der Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft die Brüche der Transformation, das Grauen des Krieges, das schwierige sowjetische Erbe und die ambivalente Zukunft offen diskutieren, in der man provokative Kunst zeigen und höchst kritische Fragen stellen kann. Es ist eine konservative Region, in der aber Raum für Pluralität und Freiheit, für Toleranz und gesellschaftliches Experimentieren entstanden ist und weiter wächst.
In der ganzen Ukraine entwickelte sich somit seit 2014 eine Zivilgesellschaft, die der russischen in Sachen Vielfalt, Freiheit und Selbstbewusstsein Lichtjahre voraus ist. Und so verletzlich, krisenhaft und unperfekt die junge ukrainische Demokratie auch sein mag – sie hat sich in vielen Teilen der Gesellschaft verwurzelt. Polizei und Militär, Verwaltung auf nationaler wie auf kommunaler Ebene, Parlament und Räte, Medien, Stadtteil-, Dorf- und Hausgemeinschaften: Sie alle haben in den letzten Jahren Mitsprache und Verhandeln kennengelernt. Der gesellschaftliche Konsens in der Ukraine ist kein autoritärer oder post-sowjetischer mehr, sondern ein europäischer. Diese Errungenschaft wird sich die Ukraine so leicht nicht nehmen lassen.
Für Putins Herrschaftsmodell ist das alles eine unerhörte Provokation. Sein Krieg zielt nicht nur auf die Ukraine als eigenständigen Staat ab, sondern auch auf eine sich fortwährend demokratisierende Gesellschaft, die autoritäre Macht nicht länger hinzunehmen bereit ist.
Um dieses Land nicht nur zu besetzen, sondern auch zu kontrollieren, bräuchte Putin eine geschlossene Machtelite vor Ort, loyale Militärs, Geheimdienste und Financiers, sowie eine passive, verängstigte Gesellschaft. Es bräuchte ein hartes, von außen aufgesetztes Regime, das alle demokratischen Impulse konsequent untergräbt. Vielleicht kann Putin das eine Weile gelingen, aber der Preis wäre enorm. Dieser Weg wäre mit Leichen gepflastert, denn die demokratische Elite im Land – viele hundert, wahrscheinlich eher tausende Politikerinnen, Parlamentarier, Künstlerinnen, Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, welche die Institutionen, freien Medien, Zivilgesellschaft und Kultur in den letzten Jahren aufgebaut und von innen demokratisiert haben – müssen mit schlimmsten Säuberungsaktionen, Schauprozessen und Lagerhaft rechnen. Nichts Anderes meint Putin, wenn er von der „Entnazifizierung und Demilitarisierung“ der Ukraine spricht.
Aber Demokratie in der Ukraine war spätestens seit 2014 kein Elitenprojekt mehr. Die ganze Gesellschaft weiß, was errungen wurde, und wie es sich anfühlt, in einem freien Land zu leben. Und ähnlich wie bei der Solidarność im sozialistischen Polen können Widerstand und demokratischer Geist in der Mitte der Gesellschaft eine Diktatur überdauern und am Ende in die Knie zwingen. Wer die Geschichte der Ukraine kennt, weiß, dass sie seit langem mit zivilem Widerstand verbunden ist: Die erfolgreichen Proteste gegen Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen im November 2004, die Initiativen gegen das Regime von Leonid Kutschma in den 1990ern, die Bergarbeiterstreiks und Proteste in den 1980er und die sehr aktiven antisowjetischen Dissidenten der 1970er und 1960er spiegeln das Durchhaltevermögen und den Drang nach Selbstbestimmung, der diese Gesellschaft treibt. Angesichts all der dramatischen Ereignisse, die die Ukraine in den letzten 100 Jahren erleben musste – Sowjetisierung, Holodomor, Holocaust, Weltkrieg, Russifizierung, Oligarchisierung und nun russischen Neo-Imperialismus – ist es erstaunlich, wie friedlich und stark dieses Land dabei über die Jahrzehnte geblieben ist.
In der ukrainischen Nationalhymne heißt es geradezu poetisch: „Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne“, getragen in g-Moll. Keine Marschmusik, kein sinfonisches Säbelrasseln, sondern die Geduldsamkeit der Ukraine, das endliche Auflösen von Konflikten wird hier besungen. Putin sollte die ukrainische Fähigkeit des Aushaltens nicht unterschätzen, und der Westen wäre gut beraten, diesem zutiefst europäischen Land, mit ganzem Herzen und allen verfügbaren Sanktionen gegenüber Russland beizustehen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 1. März 2022 auf www.ukraineverstehen.de.