Gedenkbriefmarke aus dem Jahr 2012 anlässlich des 20. Jubiläums der Erhebung von Šče ne vmerla zur ukrainischen Nationalhymne (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3e/Stamp_2012_Prapor-20.jpg).
Am 14. November 2022 besuchte der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj die kurz zuvor von den russischen Invasoren befreite Stadt Cherson. Nach einer kurzen Ansprache sang er gemeinsam mit den versammelten Soldaten die Nationalhymne, während die ukrainische Flagge wieder über der Stadt gehisst wurde.
Die Einnahme von Cherson in der ersten Woche nach Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 stellte einen der wenigen größeren Erfolge der russischen Offensive dar. Durch teils erbitterten zivilen Widerstand gegen die russische Okkupation wurde die Stadt aber bald darauf zum Symbol des durch den Kreml anscheinend massiv unterschätzten ukrainischen Nationalstolzes und Verteidigungswillens. (Zum Kriegsverlauf vgl. die Beiträge von Roland Götz und Nikolay Mitrokhin in Osteuropa 9-10/2022). Dieser Novembertag in Cherson war allerdings nicht das erste Mal, dass die ukrainische Nationalhymne als Sinnbild für die Lage der Nation betrachtet werden konnte. Die Hymne und der ihr zugrunde liegende Text fungierten immer wieder als Kristallisationspunkt in der Geschichte der ukrainischen Staatlichkeit seit dem 19. Jahrhundert. Im folgenden Beitrag möchte ich mich dieser wechselvollen Geschichte in Schlaglichtern annähern.
Im Jahr 1862 verfasste Pavlo Čubyns’kyj in Kyjiv das Gedicht Šče ne vmerla Ukrajina / Noch ist die Ukraine nicht verstorben. Es wurde erstmals anonym 1863/64 in der in Ľviv erscheinenden Zeitung Meta veröffentlicht und anfangs dem ukrainischen Nationaldichter Taras Ševčenko zugeschrieben.
Čubyns’kyj war ein in St. Petersburg ausgebildeter Jurist und prominentes Mitglied der Ukrainophilen (Hillis 2012). Diese intellektuelle Bewegung, der auch andere Galionsfiguren der ukrainischen Nationalbewegung wie Volodymyr Antonovyč und Mykola Kostomarov angehörten, hatte sich der Pflege und Förderung der ukrainischen Sprache, Geschichte und Kultur verschrieben, verbunden mit noch relativ diffusen Vorstellungen einer nationalen Autonomie innerhalb des Russländischen Reiches.
Nach den Erinnerungen eines Zeitzeugen soll Čubyns’kyj die Zeilen angeblich spontan verfasst haben, nachdem er eines Abends serbischen Studenten beim Singen eines patriotischen Liedes zugehört hatte. Womöglich handelte es sich dabei um „Hej Sloveni“, das nach 1945 die Nationalhymne Jugoslawiens wurde (Klid 2008/2009, S. 268). Dieses Lied war wiederum von der Dąbrowski-Mazurka inspiriert („Noch ist Polen ist verloren“), die Hymne des polnischen Befreiungskampfes im 19. Jahrhundert und spätere Nationalhymne (Rduch 2019). Der Text der Dąbrowski-Mazurka wurde bereits 1797 von Józef Wybicki verfasst und reflektiert die Erfahrungen der endgültigen Teilung Polen-Litauens, die eine massive Auswanderung polnischer Militärs und Intellektueller zur Folge hatte. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde das „Lied der polnischen Legionen“ – wie das Gedicht ursprünglich hieß – zum Symbol des polnischen Unabhängigkeitskampfes, egal ob während der Napoleonischen Kriege oder der Aufstände des 19. Jahrhunderts gegen die russländische imperiale Herrschaft. Polen fungierte als Vorbild für zahlreiche weitere nationale Bewegungen des 19. Jahrhunderts – auch für die Ukraine.
Ähnlich wie das polnische Vorbild beginnt Čubyns’kyj mit einem kämpferischen Appell:
Šče ne vmerla Ukrajina, i slava, i volja.
–
Noch ist die Ukraine nicht verstorben, weder ihr Ruhm noch ihre Freiheit.
Im Refrain bemühte Čubyns’kyj dann die wohl wichtigste Referenz auf die vormoderne ukrainische Staatlichkeit: Das Hetmanat der Kosaken (Kappeler 2010), die im 16./17. Jahrhundert zwischen den Großmächten Polen-Litauens, Moskaus und den Osmanen ihre weitestgehende Unabhängigkeit erhalten konnten:
Dušu y tilo my položym za našu svobodu
i pokažem, ščo my brattja kozac’koho rodu.
–
Seele und Leib werden wir für unsere Freiheit opfern.
Und wir werden zeigen, dass wir Brüder des Kosakengeschlechts sind.
In der zweiten Strophe nennt Čubyns’kyj die Kosakenhetmane Nalyvajko, Zaliznjak und Trjasylo, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Aufstände gegen die polnisch-litauische Dominanz anführten. Die dritte Strophe klagt dann den großen Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj an, der die Ukraine den „elenden Moskovitern“ ausgehändigt haben soll:
Oj Bohdane, Bohdane slavnyj naš het’mane!
Na-ščo viddav’ Ukrajinu moskaljam’ pohanym’!
–
Oh Bohdan, Bohdan, unser großer Hetman!
Warum gabst du die Ukraine den elenden Moskovitern?
Damit wird auf den Vertrag von Perejaslav von 1654 angespielt. Das hier vereinbarte und recht kurzlebige Bündnis zwischen Kosaken und Zaren gegen Polen-Litauen wurde wohl bereits von den Zeitgenossen unterschiedlich interpretiert und führte bis ins 20. Jahrhundert zu kontroversen Deutungen zwischen Russland und der Ukraine (Plokhy 2021).
Die vierte Strophe betont wieder die enge Verbindung zu anderen slavischen Unabhängigkeitsbewegungen, hinter denen die ukrainische nicht zurückbleiben sollte:
Naši brattja Slavjane vže za zbrojo vzjalys’
ne dižde nichto, ščob’ my po-zadu zistalys’
–
Unsere slavischen Brüder haben schon die Waffen erhoben
niemand soll sehen, dass wir zurückbleiben.
Angesichts dieser eindeutig antiimperialen, aufrührerischen Rhetorik verwundert es nicht, dass Čubyns’kyj ins Visier der russischen Obrigkeit geriet: Im November 1862 wurde er nach Archangel’sk ans Weiße Meer verbannt. Erst 1869 konnte er aus dem Exil zurückkehren und seine vormalige wissenschaftliche Arbeit fortsetzen. Mehr noch: Er unternahm im Anschluss eine bedeutende ethnographische Expedition in die Gebiete des heutigen Belarus, der Ukraine sowie der Moldau. Aus Perspektive St. Petersburgs sollte dadurch mit durchaus antipolnischer Haltung der Anspruch des Zarenreiches auf diese Gebiete wissenschaftlich unterfüttert werden. Ab 1873 leitete Čubyns’kyj die frisch gegründete Südwestliche Abteilung der Kaiserlichen Russischen Geographischen Gesellschaft in Kyjiv, die ihre Tätigkeit aber bereits drei Jahre später wieder einstellen musste.
Anhand der Vita Čubyns’kyjs lassen sich die wechselvollen Konjunkturen im Umgang mit der ukrainischen Bewegung innerhalb des Russländischen Reiches verdeutlichen. Wenn wir uns nun dem Komponisten der Melodie der Nationalhymne zuwenden, bewegen wir uns im Kontext des habsburgischen Galiziens: Mychailo Verbyc’kyj war ein griechisch-katholischer Priester, der zahlreiche Werke der ukrainischen Lyrik musikalisch verarbeitete. Die Vertonung von Čubyns’kyjs Gedicht ist aber mit Abstand sein berühmtestes Werk geblieben. Mittlerweile hat er auch seinen Platz im Projekt Ukrainian Live Classic, das „ukrainischen“ Komponisten vom Barock bis in die Gegenwart zu mehr globaler Bekanntheit verhelfen will.
Im Galizien des 19. Jahrhunderts hatte die ruthenische bzw. später ukrainische Bewegung deutlich mehr Spielraum als im Russländischen Reich (Rohde 2021). Hier entstanden Zeitungen, akademische Gesellschaften und Publikationsreihen, die sich der Pflege der ukrainischen Geschichte und Kultur verschrieben hatten (vgl. aktuell Rohde 2022). Auch für die Regierung in Wien fungierte die ukrainische Bewegung als bis zu einem gewissen Grad willkommenes Gegengewicht gegen die regional dominanten polnischen Eliten. Die politischen Zielsetzungen waren dabei sehr divers und reichten vom Wunsch nach einer größeren Autonomie innerhalb Österreich-Ungarns (nach polnischem Vorbild) bis zu einer russophilen Ausrichtung, die die Zukunft der Ukraine eher im Zarenreich sah. Dezidiert nationalstaatliche Ideen gewannen erst um und nach der Jahrhundertwende die Oberhand (Wendland 2001).
Angesichts dieser Diversität politischer Orientierungen kursierten selbstverständlich auch noch weitere Lieder, hinter denen sich Ukrainer:innern versammeln ließen. Genannt sei hier etwa Ne Pora, das auf ein 1880 von Ivan Franko verfasstes Gedicht zurück geht (Binder 2005, S. 131).
Nach der Auflösung der alten imperialen Ordnung im östlichen Europa am Ausgang des Ersten Weltkrieges wurde auch auf dem Gebiet der heutigen Ukraine versucht, eine unabhängige Staatlichkeit zu etablieren. Die 1917 ausgerufene ukrainische Volksrepublik war bestrebt, sich nach der Oktoberrevolution von den Bol’ševiki und der von ihnen unterstützten ukrainischen Sowjetrepublik abzugrenzen. Innerhalb der ukrainischen Volksrepublik wurde Šče ne vmerla Ukrajina zu der Hymne, die bei offiziellen Anlässen gespielt wurde, auch wenn sie keinen Verfassungsrang erreichte, wie später die Dąbrowski-Mazurka in Polen. Bezeichnend für die konkurrierenden Staatsbildungsversuche ist hier eine Begebenheit aus Uman in der heutigen Zentralukraine vom Dezember 1919: Bei einer offiziellen Theateraufführung entbrannte zwischen den verschiedenen Parteiungen ein handgreiflicher Streit darüber, ob als Hymne Šče ne vmerla Ukrajina oder Die Internationale zu spielen sei (Hrynevyč 2003, S. 140).
Nach der Niederlage der Mittelmächte konnte die Ukrainische Volksrepublik der Roten Armee nicht standhalten und wurde schließlich aufgelöst. Die Ukrainische Sowjetische Sozialistische Republik hatte sich durchgesetzt und wurde 1922 zum Gründungsmitglied der Sowjetunion. Trotz der darauf einsetzenden Nationalitätenpolitik im Rahmen der sogenannten korenizacija (Einwurzelung) kam es erst in den 1940er Jahren wieder zu einem neuen Anlauf für eine offizielle Nationalhymne. Der Hintergrund dafür war Stalins Bestreben nach UN-Sitzen für einzelne Sowjetrepubliken, von denen neben Belarus auch die Ukraine einen erhalten sollte. (Yekelchyk 2003) Die entsprechenden Ausschreibungen und Beratungen hinsichtlich Text und Melodie der neuen Hymne zogen sich bis Ende der 1940er Jahre hin. 1956 wurde der Text noch einmal leicht überarbeitet. Im Laufe dieses langen Prozesses wurde Šče ne vmerla Ukrajina relativ früh als zu national und antirussisch verworfen.
Gerade in der Emigration aber wurde die Erinnerung an dieses Symbol nationaler Unabhängigkeit aufrechterhalten. Die 1941 in Kyjiv entstandene Musikgruppe Kapelja Banduristiv im. T. Ševčenka emigrierte 1949 in die USA und gehörte seitdem zu den bekanntesten ukrainischstämmigen Folkloregruppen mit Tourneen rund um den Globus. Im Jahr 1991 spielte das Ensemble auf einem Abschiedskonzert vor der ersten Rückkehr in die Ukraine u. a. auch Šče ne vmerla Ukrajina.
Nach der Erlangung der staatlichen Souveränität 1991 wurde Šče ne vmerla Ukrajina bereits im Januar 1992 vom ukrainischen Parlament als Nationalhymne anerkannt. Dies bezog sich aber erst einmal nur auf die Melodie von Verbyc’kyj. Der Text der Hymne wurde erst im Jahr 2003 offiziell beschlossen. Die erste Zeile folgt dabei klar dem ursprünglichen Gedicht Čubyns’kyjs:
Šče ne vmerla Ukrajiny i slava, i volia.
–
Noch sind weder der Ruhm noch die Freiheit der Ukraine verstorben.
Kleine Änderungen fallen ins Auge: So wurde die Ukraine in den Genitiv gesetzt und das Komma danach weggelassen. Nun ist es nicht mehr die Ukraine, die noch nicht verstorben ist, sondern ihr Ruhm und ihre Freiheit. In dem stark gekürzten Text findet sich zwar noch der Bezug auf das Geschlecht der Kosaken aus Čubyns’kyjs Gedicht, allerdings ohne die weiter oben genannten ausführlichen Strophen über Chmel’nyc’kyj, die anderen Hetmane oder die panslavistische Bewegung.
In dieser Form von 2003 war die Nationalhymne auch ein zentraler Aspekt eines in den letzten Jahrzehnten stetig wachsenden ukrainischen Nationalgefühls, zu dessen Stärkung die zwei erfolgreichen zivilen Revolutionen von 2004 und 2014 maßgeblich beitrugen. In einer Umfrage des Kyjiv International Institute of Sociology gaben 25 Prozent der Befragten an, dass sich ihr Verhältnis zur Nationalhymne in den letzten Jahren stark und weitere 15 leicht verbessert habe (Kulyk 2016, S. 599). Genau diese in den letzten Jahren stetig wachsende Identifizierung der Ukrainer:innen mit ihrem Staat – über Regionen, Ethnien und Sprachen hinweg – beschreibt ferner Gwendolyn Sasse. Im vergangenen Jahr erfuhr die ukrainische Hymne auch auf der internationalen Bühne eine enorme Aufmerksamkeit. Genannt seien beispielsweise ihre Aufführung im Rahmen von Solidaritätskonzerten in London oder in Hamburg.
Neben der radikalen Überschätzung der eigenen militärischen Schlagkraft gehörte diese eklatante Unterschätzung des ukrainischen Nationalgefühls einerseits und der internationalen Unterstützung der Ukraine andererseits zu Putins folgenschwersten Fehlern (vgl. die ausführliche Analyse von Ilja Šeguljov bei dekoder.org).
Die Nationalhymne steht damit in zweierlei Hinsicht besonders exemplarisch für die Ukraine: Sie unterstreicht einerseits die komplizierte und verflochtene Geschichte der ukrainischen Staatswerdung im 19. und 20. Jahrhundert; andererseits dient sie als Kronzeugin für die Stärke des ukrainischen Nationalbewusstseins, auch im Angesicht eines verbrecherischen Angriffskrieges, der an die dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte erinnert.
Dieser Beitrag entstand auf Grundlage eines Seminars zu Konfigurationen ukrainischer Staatlichkeit im Wintersemester 2022/23 an der MLU. Ich danke meinen Studierenden für den Austausch sowie meinen Kolleg:innen Laura Krebs und Martin Rohde für wertvolle Korrekturen und Hinweise.