"Was tun?" – unter dieser Überschrift stand 2022 die studentische Tagung in Berlin. Bohdan Osadczuk stellte sich diese Frage in der Kultura in Bezug auf Kuba kurz nach der Invasion in der Schweinebucht 1961. Wir danken dem Stowarzyszenie Instytut Literacki Kultura in Paris für die Bereitstellung der Bildrechte.
In Polen ist sie ein fester Bezugspunkt für das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn, in Deutschland noch immer eher ein Fall für Polen-Expert:innen: die Exilzeitschrift Kultura. Ein Blogbeitrag zur Frage, warum ein Blick in alte Zeitschriften lohnen kann, um aktuelle Trends in der polnischen Außenpolitik zu verstehen. Und über die Einsicht, dass manche Debatte in Deutschland von einer klaren und doch differenzierten Sicht auf die Traditionen des russischen Imperialismus profitieren würde.
Monatszeitschrift, Netzwerk, Think Tank – die Kultura und ihr Einfluss auf Polens Rolle im Osten
Die Anfänge der Kultura liegen in Rom im Jahr 1946, als eine Gruppe von Intellektuellen, die als Angehörige der Anders-Armee nach Westeuropa gekommen waren, sich daran machte, ein Verlagshaus für Publikationen in polnischer Sprache und eine dazugehörige Zeitschrift zu konzipieren. Nach dem Umzug in den Pariser Vorort Maisons-Lafitte im Jahr darauf erschien die Zeitschrift Kultura über einen Zeitraum von über 50 Jahren und entwickelte sich zur vermutlich einflussreichsten polnischen Exilzeitschrift der Nachkriegszeit.
Was war die Kultura? Im polnischen Kontext wird mit dem Namen mehr verbunden als nur eine Monatszeitschrift mit literarischen und politischen Inhalten. Meist ist damit auch das dazugehörige Netzwerk im Exil lebender Autor:innen, der Kultura-Kreis, gemeint. In dessen Zentrum stand Jerzy Giedroyc, Herausgeber und letzte Entscheidungsinstanz der Redaktion. Angesichts des politischen Charakters der Aktivitäten des Kultura-Kreises würden sich aus heutiger Sicht auch die Begriffe Brain Trust oder Think Tank anbieten. Die Bandbreite der Themen und Persönlichkeiten, die in den dicken Heften der Kultura Platz fand, muss hier nicht nacherzählt werden. Für eine Kontextualisierung sei auf den Vortrag von Basil Kerski verwiesen, der vor einigen Monaten hier veröffentlicht wurde und die Aktualität der Kultura-Beiträge für die polnisch-ukrainischen Beziehungen in der derzeitigen Situation hervorhebt.
Die Relevanz der Kultura für ein junges, deutsches Publikum liegt darin begründet, dass die Ideen, die dort publiziert und besprochen wurden, in Polen nach wie vor einen Widerhall finden. Die Rezeption der programmatischen Artikel aus der Kultura in Polen nach 1989 ist mitunter ein Grund, warum sich der polnische Blick auf die Nachbarn im Osten sowie insbesondere auf die Ukraine und die Tradition des russischen Imperialismus stark vom deutschen Blick unterscheidet. Und ein Perspektivwechsel im deutschen Kontext tut nicht erst seit der Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine Not.
In Polen Teil des Kanons, in Deutschland wenig wahrgenommen
Warum hat Deutschland die Warnungen aus den baltischen Staaten und Polen nicht berücksichtigt? Dieses Mantra war nach dem 24. Februar 2022 in der deutschen Öffentlichkeit häufig zu hören. Auch wenn eine Deckungsgleichheit der Perspektiven kaum je erreicht werden kann, sollte eine Schlussfolgerung aus den Versäumnissen und der Naivität deutscher Regierungspolitik in Osteuropa sein: Nehmt Analysen aus Ostmitteleuropa in Bezug auf Russland ernst! Und damit auch deren ideengeschichtliche Traditionen.
Die Kultura ist dafür ein gutes Beispiel.
Einer der vermutlich meistzitierten Texte aus der Kultura in Bezug auf Polens Rolle in Osteuropa ist der programmatische Artikel "Der russische ‚Polenkomplex‘ und das Gebiet ULB" (Rosyjski ‚kompleks polski‘ i obszar ULB) Juliusz Mieroszewskis aus dem Jahr 1974. Die hier vorgeschlagene Umorientierung für eine zukünftige polnische Ostpolitik enthielt den wichtigen Gedanken, dass es im polnischen Interesse liege, die staatliche Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine, Litauens und Belarus' (daher das später verwendete Kürzel "koncepcja ULB") zu unterstützen und sich im Umgang mit Russland für selbige einzusetzen. Mieroszewski wies in diesem Kontext auch auf die Notwendigkeit hin, sich der eigenen imperialistischen Traditionen in Polen gegenüber den östlichen Nachbarn bewusst zu sein. Eine Grundlage für die Entwicklung dieser Linie war der Verzicht auf revisionistische Forderungen in Bezug auf die ehemaligen polnischen Ostgebiete (kresy wschodnie), wofür sich die Kultura bereits seit Beginn der 1950er Jahre öffentlich ausgesprochen hatte – gegen den Widerstand von weiten Teilen der polnischen Emigration rund um die Exilregierung in London.
Der Einsatz von Giedroyc und der Kultura für eine polnisch-ukrainische Verständigung wird an den Bemühungen deutlich, direkt nach dem Krieg ukrainische Autor:innen zu gewinnen – trotz nicht verarbeiteter Konflikte wie etwa den ukrainischen Pogromen an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien. Eine wichtige ukrainische Stimme aufseiten der Kultura war Bohdan Osadczuk, der nicht nur für die Rubrik "Kronika ukraińska" schrieb, sondern als "Berlińczyk" auch die deutsche Politik von Westberlin aus einordnete. Der frühere Hochschullehrer an der Freien Universität erreichte im deutschsprachigen Raum eine beachtliche mediale Präsenz als Publizist zu Fragen des Ostblocks u.a. für die Neue Zürcher Zeitung und den Tagesspiegel. Heute ist er in Deutschland kaum mehr bekannt.
Nicht so im polnisch-ukrainischen Verhältnis. Als der ukrainische Präsident Selenskyj seinen polnischen Amtskollegen Duda im Mai 2022 in der Werchowna Rada empfing, enthielt seine Rede einen expliziten Verweis auf den Einsatz von Osadczuk und Giedroyc für die polnisch-ukrainische Verständigung: „Es ist die Zeit gekommen, von der Jerzy Giedroyc und Bohdan Osadczuk geträumt haben.“
Die Aktualität des antiimperialen Kurses in der Kultura
Der Schulterschluss, den die polnische und ukrainische Regierung als enge Verbündete gegen die russische Aggression demonstrieren, beschränkt sich bekanntlich nicht auf symbolische Gesten. Die massive Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit wird von der polnischen Gesellschaft mitgetragen. Und dies trotz der konflikthaften polnisch-ukrainischen Geschichte, die noch nicht gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet ist.
Wer die Traditionen des polnischen politischen Denkens kennt, kann dies einordnen. Die Texte der Kultura können hier auch für deutsche Beobachter:innen als Schlüssel fungieren. Und das nicht nur in Bezug auf die Zeit des Kalten Krieges, sondern auch auf die ostpolitischen Traditionen aus der Zeit der Zweiten Republik. Denn insbesondere in den frühen Ausgaben der Kultura wird deutlich, dass sich hier einige Vertreter (in diesem Kontext handelte es sich ausschließlich um Männer) der sogenannten prometheistischen Bewegung zu Wort meldeten. Der Prometheismus folgte dem Grundgedanken, dass die Unterstützung von Nationalbewegungen innerhalb des russischen bzw. sowjetischen Herrschaftsbereiches zur Überwindung des Imperialismus führen würde. Das Ziel der polnischen Prometheisten war die "Befreiung der unterjochten Völker", an welchem sie gemeinsam mit der antisowjetischen Emigration etwa aus der Ukraine oder dem Kaukasus und unterstützt durch polnische Regierungsstellen arbeiteten.
Die Kultura nahm diese Einflüsse einer antiimperialen Programmatik auf, wobei es ihr gelang, sie in Einklang mit den Ausgangsbedingungen und Erfordernissen ihrer Zeit zu bringen. Mieroszewski vertrat den Anspruch, einen realistischen Kurs zu verfolgen und forderte angesichts der sowjetischen Übermacht einen Ansatz der evolutionären Veränderung, an deren Ende ein unabhängiges Polen und das Ende des sowjetischen Imperiums stehen sollten. Ein Kurs, der auch beinhaltete, den damals herrschaftskritischen russischen Stimmen Gehör zu verleihen, was sich unter anderem in der von der Kultura übersetzten und nach Polen geschmuggelten Fassung von Archipel Gulag zeigte.
Die evolutionäre Strategie sollte sich im Fall Polens als erfolgreich erweisen. Und es ist wohl auch diese Weitsicht, die zur Popularität der Kultura im Polen der Nachwendezeit beitrug und Maisons-Lafitte zu einer Pilgerstätte für die neuen Eliten des polnischen Staates machte. Eine nationale Ehrung, die eine gewisse Ironie birgt, wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Kultura gerade durch den Widerspruch gegenüber Autoritäten – beispielsweise der polnischen Exilregierung – intellektuell profilierte.
Der identitätsstiftende Charakter der Kultura für mindestens eine Generation polnischer Intellektueller wird auch in jüngeren Debatten deutlich. Beispielsweise in den zahlreichen kritischen Reaktionen auf einen Debattenbeitrag von Wojciech Konończuk (Leiter des Warschauer Think Tanks Ośrodek Studiów Wschodnich) von 2018 in der Zeitschrift Nowa Europa Wschodnia, in dem dieser eine "Post-Giedroyc-Doktrin" forderte. Konończuk begründet in seinem Beitrag stichhaltig, dass es nicht ausreiche, an der Giedroyc-Doktrin festzuhalten, um einen nachhaltigen Ausbau der bilateralen Beziehungen der Ukraine und Polens zu erreichen. Dieser müsse auch belastende Themen und Konflikte in den Blick nehmen.
Letztlich ist es nicht sinnvoll, eine theoretische Schule auf ein Podest zu stellen, ohne sie weiterzuentwickeln. Und dies lässt sich sicher auch von den Ideen des Kultura-Kreises sagen. Mieroszewski, der 1976 verstarb, befasste sich in der Nachkriegszeit noch mit den Optionen eines neutralen Blocks in Ostmitteleuropa und möglichen Bündnissen Polens mit seinen Nachbarn. Doch bereits damals stand die – wenn auch wenig konkrete – Vision eines vereinten, föderalen Europa als fernes Ziel im Raum. Ausgehend von der heutigen Situation dürfte ein Realist wie Mieroszewski die Möglichkeiten zur Kooperation in NATO und EU pragmatisch betrachten, anstatt viel Zeit auf ideelle Neukonzeptionen regionaler Bündnissysteme unter polnischer Führung zu verwenden. Letztere scheinen immer wieder in der Rhetorik der aktuellen polnischen Regierung auf, die sich als Wortführerin einer Koalition der ostmitteleuropäischen Staaten präsentiert.
Polnische Traditionen des politischen Denkens ernstnehmen
Es gibt aus deutscher Perspektive einiges darüber zu lernen, wie in Polen über das Auftreten Russlands in seiner "Einflusssphäre" nachgedacht wird. Die Wahrnehmung der russischen Aggression gegen die Ukraine unterscheidet sich in Polen und Deutschland nicht nur aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen und einer anderen geopolitischen Bedrohungslage.
In Polen existiert eine Tradition, über den russischen Imperialismus nachzudenken, und seit dem 19. Jahrhundert eine Debatte über die Rolle, die der polnische Staat bei der "Befreiung der unterjochten Völker" spielen sollte. Dabei handelt es sich keineswegs ausschließlich um plumpes "antirussisches Ressentiment", das man aus deutscher Perspektive häufig in Polen wittert. Selbst innerhalb der prometheistischen Bewegung wurde zwischen dem russischen Staat und dem russischen Volk, das von diesem unterdrückt wurde, differenziert. Auch die Kultura steht in dieser Tradition, wobei sie sich für eine an den Realitäten der Nachkriegszeit ausgerichtete Strategie in Bezug auf die Sowjetunion einsetzte.
Eine Tradition, die wir in Deutschland in dieser Form nicht haben, da neben Desinteresse an Ostmitteleuropa und einem unsäglichen "Russland-Kitsch" (Karl Schlögel) wenig Platz für eine kritische Auseinandersetzung mit dem russischen imperialen Erbe bleibt.
Man sollte die polnischen Traditionen des politischen Denkens im Sinne einer polnischen Ideengeschichte oder Theoriebildung ernstnehmen und nicht als "interessantes Kuriosum" abtun. Dies geschieht im internationalen Kontext bereits. Timothy Snyder hat beispielsweise den intellektuellen Beitrag der Kultura und ihren Umgang mit den Traditionen der polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit der 1920er Jahre in seiner Monografie über Henryk Józewski hervorgehoben.
Neben einer Lektüre der Texte der Kultura dürfte die Beschäftigung mit den Traditionslinien der polnischen Osteuropaforschung und deren Etablierung in den 1920er Jahren unter dem Vorzeichen des Prometheismus für deutsche Studierende und (angehende) Forschende ein spannendes Feld darstellen. Nicht im Sinne einer Parteinahme, sondern als kritische, wissenschaftliche Lektüre von Texten, die in einem spezifischen historischen und politischen Kontext entstanden sind.