Wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung sind die Bestände der Forschungsbibliothek sowie die auf ostmitteleuropäische Kunst- und Kulturgeschichte fokussierten Sammlungen des Bildarchivs, der Karten- und Dokumentensammlung. Sie stehen für eigene Forschungen und Projekte in Kooperation mit institutionellen Partnern in Europa zur Verfügung und werden in zahlreichen Zusammenhängen im interdisziplinären Kontext, wie auch aus Sicht der einzelnen Disziplinen betrachtet.
Ein wichtiger Arbeitsbereich ist die Wissensvermittlung im Zeitalter der Digital Humanities, beginnend mit der Digitalität eigener Ressourcen und Dokumentationen, über die Vernetzung mit externen Infrastrukturen bis hin zur Erarbeitung und Umsetzung von Vermittlungsstrategien sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch für ein breites Publikum. Dabei beeinflussen sich im Sinne eines Reallabors die digitale Dauererschließung eigener Bestände, zahlreiche Forschungsprojekte sowie eine aktive Teilnahme an den Konsortien der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI4Culture, NFDI4Memory) gegenseitig. Ein Beispiel dafür ist der digitale DEHIO, der mittlerweile als Dauervorhaben des Herder-Instituts aus den Ergebnissen mehrerer DEHIO-Teilprojekte schöpft. Es wird von einem Teilprojekt zur Qualitätssicherung von Fachthesauri im Rahmen des NFDI4C begleitet.
Das DEHIO-Handbuch der Kunstdenkmäler ist ein Beispiel für ein seit über 100 Jahren etabliertes Nachschlagewerk, wobei eine gezielte Auswahl der Bau- und Ausstattungsobjekte sowie eine Vermittlung gut strukturierter und aktueller Informationen zu den wichtigsten Bestandteilen zählen. Neben der ältesten Reihe zu deutschen Kunstdenkmälern, die heutzutage von der Wissenschaftlichen Vereinigung zur Fortschreibung des kunsttopographischen Werkes von Georg Dehio e.V. (kurz: DEHIO-Vereinigung) fortgesetzt wird, sowie einer weiteren Reihe zu Österreich, die wieder im Bundesdenkmalamt gepflegt wird, gibt das Herder-Institut seit 20 Jahren Handbücher der Kunstdenkmäler für Ostmitteleuropa in einer Reihe zu Kulturregionen in Polen heraus (bisher sind Bände zu Schlesien und Kleinpolen erschienen) und seit 2017 in einer Reihe zu den baltischen Ländern (mit der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung). Die einzelnen Projekte werden mit institutionellen Partnern und Autorenteams aus der Bearbeitungsregion durchgeführt und erschienen bislang als gedruckte Publikationen in jeweils zwei Sprachfassungen. Derzeit laufen Projekte zu Nordostpolen sowie Estland und Lettland.
Begleitend zum Handbuchprojekt zu Estland wurde 2017 dank der Unterstützung der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius ein Prozess in Gang gesetzt, den DEHIO von der materiellen/analogen Publikationsform als "Handbuch" zu entkoppeln und in eine Wissensinfrastruktur zu überführen. Seit 2020 kooperieren wir dabei mit dem "Schwesterprojekt" zur deutschen Handbuchreihe, die gemeinsam von der Dehio-Vereinigung und dem Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte Foto-Marburg geführt wird. Die gesetzten Ziele entsprechen mehreren Herausforderungen der Transformation von Wissensressourcen: Beginnend mit der Überführung der Texte aus analogen Schriftmedien über die Gestaltung der digitalen Rahmen für kollaborative Zusammenarbeit, der Herstellung eigener Forschungsdaten entsprechend der FAIR-Prinzipien bis hin zur Erarbeitung der Vermittlungsstrategien für eine maximale Reichweite und Vernetzung mit weiteren Ressourcen. Die Erfassungsstrategie wird im Rahmen des digiCULT-Verbundes erarbeitet und umgesetzt, die Vermittlungsstrategie zusammen mit der Firma Outermedia aus Berlin als externer Dienstleister.
Es wurde ein Konzept der zusammenwirkenden Web-Instanzen erarbeitet, welches eine Bereichsaufteilung der Hauptakteure zwischen Geschichte und Tätigkeit der DEHIO-Vereinigung sowie zwei weiteren Instanzen zur Vermittlung der Informationen aus den DEHIO-Texten vorsieht, eine für Deutschland und eine für Ostmitteleuropa.
Im Zentrum der Betrachtung stehen die Katalogtexte zu Bauensembles und einzelnen Bauwerken, die Informationen zu weiteren Bauten und Bauteilen sowie Verweise zu Provenienz und Ideentransfer liefern und die in semantisch dicht aufgeladenem, sogenanntem DEHIO-Staccato sogar Spezialisten zu wiederholter Lektüre herausfordern. Im Gegensatz zu den sehr detaillierten Dokumentationen, die sich auf eine bestimmte Fragestellung konzentrieren, versuchen die DEHIO-Texte den allgemeinen Eindruck zu Gebäuden basierend auf dem Forschungsstand zu vermitteln. Dabei werden sie nicht zu tief gegliedert und Informationen zu bestimmten Bereichen werden über mehrere Stellen gestreut. Für die Überführung der analogen Texte wurde im Rahmen des Projektes Dehio Deutschland ein TEI-unterstütztes Verfahren für eine halbautomatisierte Auszeichnung der Individuen (Personen, Objekte) angewendet, welches die Erstellung der Metadaten erleichtert.
In der Erfassungsdatenbank digiCULT.web wurde ein Datenmodell weiterentwickelt, das die Regeln von CIDOC CRM – einer Standardontologie im Bereich der Kunstgeschichte – aufgreift. Es trennt die Informationen zu Kunst- und Bauobjekten sauber von den beschreibenden Texten und verbindet sie anhand der Relationen wieder. Anhand der Texte werden die Metadaten zu den Objekten als komplexe, großenteils ereignisorientierte Datenstrukturen abgelegt – und zwar als "Spiel" zwischen dem Objekt, dem Raum und dem Akteur (Künstler) unter Berücksichtigung der zeitlichen Dimension des gesamten Lebenszyklus eines Objekts (von Ideentransfer und Herstellung über Modifikation bis hin zu Verfall und Rekonstruktion). Für formal korrekte semantische Beziehungen werden die Metadaten in mehrere Entitäten aufgeteilt (als Haupt- und Teilobjekte, Vorgänger- und Nachfolgebauten). Um den direkten Einfluss der Geschehnisse aus der allgemeinen Geschichte aufzuzeigen und damit auch die Anbindung auf weitere externe Online-Ressourcen zu gewährleisten, müssen auch objektfremde Ereignisse (Kriegshandlungen, Festakte usw.) erfasst und referenziert sowie das Netzwerk der Akteure um weitere historische Personen ergänzt werden.
Für die formale Beschreibung im Bereich der Taxonomien wird begleitend zu den Dehio-Projekten ein mehrsprachiger Anwendungsthesaurus zum materiellen Kulturerbe in Zusammenarbeit mit DDK Foto Marburg aufgebaut. Die Begriffe stammen aus Datenbanken des DDK und wurden mithilfe der Textauswertung der Dehio-Bände ergänzt. Ein gemeinsamer Redaktionsschluss sorgt für die Qualitätssicherung und Anbindung an die Normvokabulare (wie Art & Architecture Thesaurus AAT).
Begleitend zur Erfassungsdatenbank wurde mit Outermedia ein Frontend-Konzept der geplanten Web-Instanzen entwickelt. Im November 2022 startete mit einem Softlaunch das vom Herder-Institut betreute Portal DEHIO OME Kunstdenkmäler in Ostmitteleuropa; die weiteren Instanzen sowie eine Dachseite sollen im Laufe dieses Jahres folgen. Es wurden dabei die ersten Objekte für das Projekt zu Estland und ein Vorprojekt zu Lettland erfasst. Zum Jahresende kommen die Inhalte aus den vergangenen Projekten zu den polnischen Regionen Schlesien und Kleinpolen sowie der Hauptteil zu Estland hinzu.
Um den Einstieg zu erleichtern, wurden Elemente der geführten Nutzung integriert – sowohl in der Visualisierung als auch unter den angewandten Features, die auf der allgemeinen digitalen Erfahrung des Nutzers basieren. Die Einstiegsseite vermittelt Grundinformationen zum räumlichen Konzept und den Contenttypen wie auch seinen Entstehungskontext, der für Interessierte vertieft auf einzelnen Unterseiten eruiert wird. Darüber hinaus ist über Suchschlitz und Hauptmenü ein direkter Sucheinstieg möglich.
Auch im Frontend wird das Hauptmerkmal auf die DEHIO-Texte als zentrales Vermittlungsmedium für die Objektinformationen gelegt, was in der Kunstgeschichte längst als Erfassungsstandard etabliert ist. Sie werden zur zentralen Vermittlungsebene auf den Objektseiten und erscheinen als Teaser auf der Einstiegseite sowie in der Suche. Die Metadaten dagegen dienen dem Information Retrieval (u.a. Facetten- und Kartensuche). Integriert in die Texte erleichtern sie den Leseeinstieg bei den Teilobjekten (Highlighter) wie auch die Initiierung der Personensuche (Hyperlinks). Eine Auswahl der Metadaten unterhalb des Textes ermöglicht Interessierten den Einblick in die Datenstruktur und lässt die Seite mit Permalink und Zitationsempfehlung eindeutig als Online-Quelle referenzieren.
Mit dem Portal wird das größte Manko der analogen Handbücher behoben – das Bildmaterial wird direkt eingebunden: sowohl als über einen IIIF-Viewer präsentierte Musterfotos für die Objekte in ihrem räumlichen Kontext als auch als externe Links erfasste Abfragen weiterer Bilddatenbanken (wie zum Beispiel der Bildkatalog des Herder-Instituts) mit historischen Bildquellen oder Foto-Dokumentationen aus dem Bereich der Denkmalpflege.
Die handliche Form der analogen Bücher kommt auf kleineren Geräten zur Geltung. Dank des Responsive Designs wird das Layout an die Auflösung und Bedienmöglichkeiten von Tablets und Smartphones angepasst, sowohl in der Suche als auch in der Präsentationsebene.
Die Entwicklung des digitalen DEHIO als Wissensinfrastruktur ist noch lange nicht beendet. Bei der Weiterentwicklung geht nicht nur um weitere technische Features (z.B. Versionierung, Linked Open Data), sondern auch um die Etablierung einer dauerhaften Contentpflege im Sinne des ursprünglichen DEHIO-Handbuchs unter Einbindung der Möglichkeiten von Common Science/Citizen Science.
Wir wünschen den Besuchern des Online-Portals interessante Entdeckungen und freuen uns über Ihre Rückmeldungen zu Inhalten und technischen Aspekten genauso wie über allgemeine Anregungen und Hinweise zum Portal unter der Adresse: dehio.redaktion@herder-institut.de.