In Golden Harvest folgen Jan und Irena Gross wiederum Themen, die sie durch die vergangenen Jahrzehnte beschäftigt haben: die deutsche Besatzung in Polen, der Holocaust und seine Folgen und die Dimensionen polnischer Kollaboration mit nationalsozialistischen Verbrechen.
Als Ausgangspunkt dient eine Photographie, die erstmals 2008 in der Gazeta Wyborcza erschien. Sie entstand in der unmittelbaren Nachkriegszeit und zeigt eine Gruppe polnischer Bürger, Frauen und Männer, einige uniformiert, in der Nähe des früheren Vernichtungslagers Treblinka. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter die Brisanz des leicht unscharfen Bildes: Vor der Gruppe türmen sich Knochen und Totenschädel, die sterblichen Überreste der Ermordeten. Die Gruppe, die freundlich vor der Linse eines unbekannten Photographen posierte, bestand aus Plünderern, die in den killing fields von Treblinka nach Wertsachen stöbert. Gemeinsam durchwühlten sie die Massengräber, um Zahngold oder Schmuck an das Tageslicht zu bringen.
Die Verfasser beschränken sich nicht auf die Interpretation dieser außerordentlichen Bildquelle. Sie nehmen sie vielmehr zum Anlass, um Geschichten rund um den Holocaust in Polen zu erzählen. Es geht ihnen darum, zu erklären, wie sich die soziale Beziehung zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung unter deutscher Besatzung entwickelte. Dabei lenken sie den Blick nicht auf die Wenigen, die jüdischen Bürgern Schutz gewährten, sondern um die große Masse der Vielen, die von der Verfolgung auf verschiedene Weise profitierten. Sie erklären den Judenmord nicht als Projekt der nationalsozialistischen Elite – von ihr ging selbstverständlich der Anstoß aus. Nein, die Verfasser zeigen, dass weniger Hass und Antisemitismus als vielmehr Profitstreben, Gier und Niedertracht das Motiv für Exklusion, Verfolgung und Mord bildeten. Auf lokaler Ebene – in den Kleinstädten und Dörfern der polnischen Provinz – erscheint der Holocaust als gigantische Umverteilung von Besitz. Höfe, Wohnung, Möbel, Kleidung und Wertsachen werden ihren jüdischen Eigentümern gestohlen. Es gelang den Besatzern keinesfalls, den gesamten jüdischen Besitz ins Reich zu transportieren. Im Gegenteil: der Holocaust bot zahlreiche Möglichkeiten, die eigenen Nachbarn zu berauben.
Die Autoren schildern plastisch wie die jüdische Bevölkerung ihren Platz in der polnischen Gesellschaft verlor und „vogelfrei“ wurde. In zahlreichen kurzen Kapiteln beleuchten die Autoren verschiedene Dimensionen der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und der Teilhabe polnischer Stellen – etwa der „blauen Polizei“ oder der freiwilligen Feuerwehr – und anderer polnischer Bürgerinnen und Bürger an Denunziation, Raub und Mord. In dieser Perspektive ist der Judenmord nicht mehr ein exklusives Anliegen der Besatzer; er wird vielmehr als Teil des gewaltsamen Wandels der polnischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung begriffen. Die Täter und die Profiteure sind nicht nur die „ganz normalen Männer“ der Einsatzgruppen, der SS oder der Besatzungsverwaltung. Es sind auch jene „Nachbarn“, deren mörderisches Verhalten Gross bereits in seiner epochalen Studie über Jedwabne beschrieben hatte. Wiederum interessiert sich Gross für das Verhalten der einfachen Leute, wiederum versucht er aus den Quellen eine dichte Beschreibung einzelner Situationen, Ereignisse, Schicksale, aus denen er die Lage der jüdischen Bevölkerung rekonstruiert. Diese Methode – exemplarisch mit dem Coverphoto begonnen – wenden die Verfasser im gesamten Text an. Vor dem Auge des Lesers entstehen dabei zahllose Situationen der Willkür und der Rechtlosigkeit, der Demütigung und der physischen Gewalt. Doch nicht nur das Erleben der Opfer, sondern auch das Handeln der Täter wird verständlich. Sie, die auch unter dem harschen Besatzungsregime lebten, wollten von der Entrechtung der Juden profitieren – vor allem materiell, aber auch sozial. Besonders eindringlich ist die Schilderung jener Mikroökonomie rund um die Vernichtungslager, deren Grundlage Raub und Ausplünderung der Deportierten war. Hier entstanden mitten im Kriege gespenstische Inseln des Wohlstandes.
Aber die Umwälzungen beschränkten sich keineswegs auf das engere Umfeld der Lager. Sie betrafen das gesamte Land. Viele Polen zogen in eine Wohnung oder ein Haus, das Juden gehört. Andere stiegen in Positionen auf, die vor dem Krieg von jüdischen Bürgern besetzt waren. So war das nationalsozialistische Mordprogramm zugleich ein Anstoß für die Veränderung des sozialen Gefüges in Polen. Der Holocaust, so verstehen wir, war weit mehr als die großen Pläne, die beispielsweise am Wannsee geschmiedet wurden. Er war, so die These von Irina und Jan Gross, auch eine Serie lokaler Improvisation derjenigen, die den „Besatzern entgegenarbeiteten“, wie die Verfasser unter Bezug auf Ian Kershaw argumentieren.
Abschließend zeigen die Autoren, dass das Wissen um die Verbrechen der Besatzungszeit – nicht nur die Verbrechen der Besatzer, sondern auch der polnischen Bevölkerung – an den Juden bis heute weit verbreitet ist. In den Dörfern und Kleinstädten wird das Schicksal der früheren Bewohner ebenso erinnert wie der rasche Aufstieg derjenigen, die von Mord und Verfolgung profitierten. Und es gibt auch in der Gegenwart noch Institutionen, die sich weigern, ihre Rolle kritisch zu beleuchten.
Die Verfasser prangern das Schweigen der katholischen Kirche Polens in den Jahren der Besatzung ebenso an wie ihre Weigerung, die Archive zu öffnen. Selbst zentrale Ereignisse wie der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 fanden kein Echo in der Kirchenhierarchie. Laut Gross entschied sich die katholische Kirche bewusst, nicht zugunsten der jüdischen Bevölkerung zu intervenieren. Er zitiert vielmehr aus einem internen Bericht der Kirche vom Juni 1941, in dem die Judenverfolgung als Teil göttlicher Vorsehung interpretiert und begrüßt wurde. So ließ sich der Holocaust auch als Heilsgeschichte lesen.
Der Holocaust fand in der Mitte europäischer Gesellschaften statt; er war nicht nur ein Verbrechen einer gesonderten Kaste überzeugter Nationalsozialisten. An ihm beteiligte sich eine Mehrheit der Besetzten in den Ländern des nationalsozialistischen Imperiums. Kleiner sei der Teil derjenigen gewesen, die den Verfolgten Hilfe leisteten. So erklären die Autoren auch den Hass, der den Überlebenden häufig entgegenschlug. Längst existierte eine neue soziale Ordnung, die nun verteidigt wurde. Die Sympathie von Teilen der polnischen Bevölkerung mit dem Holocaust wurde zeitgenössisch häufig bekundet. Die Juden verloren unter der Besatzung ihr Leben und darüber hinaus auch ihren ökonomischen und sozialen Platz in der Gesellschaft; dies erklärt auch die Konflikte, die ausbrachen, wenn sie nach dem Krieg unerwartet zurückkehrten, und ihre Stellung und ihr Eigentum einforderten.
Im Krieg wurden die Juden auf ihren Besitz reduziert, sie waren selbst nicht mehr als Ware, die man sich nach Belieben aneignen konnte. Die große Plünderung machte selbst vor ihren Körpern und ihren Leichen nicht halt – das ist die Aussage des Bildes und von Golden Harvest insgesamt.
Doch die Studie wirft auch zahlreiche Fragen auf. Da ist zunächst die Frage danach, wie wir als Historiker das Verhalten im Ausnahmezustand von Krieg und Besatzung bewerten. Gross betont die Normalität der Täter; ihre ganz gewöhnliche Stellung in der Mitte der Gesellschaft. Dennoch werfen ihre Verbrechen die Frage nach den moralischen Grundlagen unserer Gesellschaften auf: Sind wir immer nur einen Schritt entfernt vom Leben im Hobbessianischen Raum?
Des Weiteren fällt es uns schwer, die verschiedenen Erzählungen über die polnische Gesellschaft unter deutscher Besatzung zusammenzudenken. Wie lassen sich die kulturelle „Selbstbehauptung einer Nation“ (Chr. Kleßmann) im Untergrund und ihre schamlose Teilhabe am Massenmord zusammendenken? Wie viel Heroismus, wie viel Widerstand und wie viel Kollaboration gab es und warum? Welche Entscheidungsspielräume existierten für den Einzelnen? Einige dieser Fragen scheinen offener denn je. Und sie stellen sich selbstredend nicht nur in Polen.
Am Ende beschreiben die Verfasser einen möglichen Weg aus der Schuld. Sie erzählen die Geschichte eines Stettiner Geschäftsmannes, der einen goldenen Ring aus seinem Familienbesitz, der jüdisches Eigentum ist, in der Gedenkstätte Majdanek abgibt. Der Mann hatte sich entschieden, dass er nicht mehr Profiteur des großen Raubes sein wollte, an dem seine Eltern teilnahmen. Wir können uns von jüdischem Besitz, der doch nie unser Eigentum werden kann, wieder trennen.