Die kommunistischen Systeme haben verschiedenartigste Materialien hinterlassen, die heute der historischen Forschung dienen können. Ein besonderer Quellentyp steht im Mittelpunkt der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes: die Ergebnisse von Meinungsforschungsuntersuchungen. Die Aufsätze untersuchen die Genese, die politische Funktion(en) von Meinungsforschung in diktatorischen Regimen und stellen die Frage nach der Reliabilität dieser Umfragen als Quellen für die Forschung. Gerade Letzteres erweist sich als schwierig, müssen doch die Umfrageergebnisse entweder anhand konkreter historischer Ereignisse (Unruhen aufgrund von Unzufriedenheit etc.) oder auch retrospektiver Betrachtungen kontextualisiert werden. Der Band enthält daher nicht nur geschichtswissenschaftliche Analysen, sondern auch Einblicke (ehemaliger) Mitarbeiter in (zeitgenössische wie aktuelle) Arbeitsweisen der Institute.
Auf eine kurze Einleitung der Herausgeber folgen insgesamt zehn Beiträge. Ein regionaler Schwerpunkt ist das kommunistische Polen (mit insgesamt vier Beiträgen), aber auch Ostmittel- sowie Südosteuropa werden in den Blick genommen. Allen Beiträgen gemeinsam ist die Betonung des besonders komplizierten Verhältnisses zwischen den Instituten und den politischen Eliten im (post-)kommunistischen Raum. Teilweise gingen die Institutsgründungen – wie etwa im Falle der DDR oder der Volksrepublik Polen – von der Parteiführung aus, mit durchaus verschiedenen Zielsetzungen und Aufgabenbereichen, vgl. in der DDR das Institut für Meinungsforschung (IfM) und das Zentralinstitut für Jugendforschung. Deutlich wird auch in allen gezeigten Fällen die Abhängigkeit der Einrichtungen von der jeweiligen (Innen-)Politik, vgl. die Gründungen des polnischen Ośrodek Badania Opinii Publicznej (OBOP) im Jahre 1957 und des Centrum Badań Opinii Społecznej (CBOS) im Jahre 1982. Letzteres hatte das Ziel, die gesellschaftliche Rezeption der Einführung des Kriegsrechts vom Dezember 1981 zu untersuchen. Ein weiteres Beispiel ist die durch Honeckers Misstrauen bewirkte Schließung des IfM im Jahre 1979. Beredt ist auch der Fall des (staatlichen) tschechoslowakischen Meinungsforschungsinstitutes Československý ústav pro výzkum veřejného mínění, das sich in den 1940er Jahren durch die genaue Vorhersage der Wahlergebnisse vom Mai 1946 einen besonderen Ruf erarbeitet hatte (s. Jíří Šubrt, S. 27). Nach dem kommunistischen Machtantritt im Februar 1948 geriet das Institut in die Defensive, so konnten unter anderem die Ergebnisse bis 1950 nicht veröffentlicht werden; im gleichen Jahr wurde es aufgelöst (S. 36 f.).
Auch im Beitrag von Dragomir Pantić und Zoran Pavlović zur Meinungsforschung in Serbien nach 1945 wird das komplizierte Verhältnis zwischen Machthabern und Meinungsforschern veranschaulicht. Das Institut drustvenih nauka war eines von zahlreichen (interdisziplinär ausgerichteten) Instituten, das im föderativen Jugoslawien nach 1956 entstand. Daneben gab es auch verschiedene universitäre Zentren sowie Meinungsforschungsabteilungen beim Rundfunk und Fernsehen (S. 43 f.). Durch Jugoslawiens „eigenen Weg zum Sozialismus" waren internationale Kooperationen möglich, die u.a. in einer außergewöhnlichen Studie – gemeinsam mit der Columbia University – gipfelten, in der die Elite des kommunistischen Staates befragt wurde (S. 46). Wie im tschechoslowakischen Fall war auch hier das Institut von der politischen Großwetterlage abhängig: Einerseits wurde die Finanzierung im Zuge der Föderalisierung Jugoslawiens in den 1970er Jahren auf das Land Serbien übertragen, andererseits wurde Meinungsforschung in Zeiten zunehmender politischer Repression problematischer (S. 47). Institute wie das Centar za politikološka istraživanja i javno mnjenje überlebten den Fall des Kommunismus und agieren seit 1991 als Dienstleister für private wie staatliche Auftraggeber (z.B. politische Parteien).
Ähnliches lässt sich auch für die Institute in Ostmitteleuropa nachweisen: Deren Aufgaben umfassten – neben der Medienrezeption in der Anfangsphase wie beim OBOP oder beim IfM – die Erforschung der Gründe für soziale Unzufriedenheit und dienten somit der politischen Elite als „Frühwarnsystem". Zugleich misstrauten die Machthaber der Demoskopie. Grund hierfür war vor allem die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der kommunistischen Eliten, durch die marxistische Ideologie die grundlegenden historischen Gesetzmäßigkeiten zu kennen, und der Notwendigkeit, die Stimmung in der (im Sinne von Alf Lüdtke: eigen-sinnigen) Bevölkerung zu erforschen. In besonderem Maße betraf dies die spätsozialistische Phase in Polen und auch in der DDR, wo die Riege um Erich Honecker der Ansicht gewesen sei, besser als Meinungsumfragen zu wissen, was die Bevölkerung wolle (S. 11 f.). Dies verdeutlicht die unterschiedliche Gewichtung, die der Meinungsforschung seitens der Machthaber beigemessen wurde.
Eine einfache Rekonstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit anhand der Umfrageergebnisse sei – so die Herausgeber – nicht möglich, stattdessen müssten die verschiedenen Akteure und ihre jeweiligen „mindsets" untersucht werden, um das in den Umfragen liegende „surplus of information" handhabbar zu machen (Bachmann/Gieseke, S. 9). Gieseke macht dies in seinem Beitrag zur DDR deutlich, in dem er seine an Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardts Öffentlichkeitsmodellen orientierten Überlegungen an die Umstände im real existierenden Sozialismus anpasst (S. 60). Die Meinungsforschung in der DDR habe im Vergleich zu anderen Ländern des „Ostblocks" verhältnismäßig spät eingesetzt, es gab tabuisierte Themen, und es sei methodisch unsauber gearbeitet worden, etwa durch eine Überrepräsentation von Arbeitern unter den Befragten in der Anfangszeit. Ein zweites Merkmal waren die Bemühungen um Abgrenzung zur westdeutschen Meinungsforschung, die u.a. auf ostdeutsche Flüchtlinge zurückgriff. Die Fragen der Forscher galten dabei der Zufriedenheit mit dem politischen System, den Partizipationsmöglichkeiten sowie den sozioökonomischen Bedingungen in der DDR (S. 62 ff.). Gieseke vergleicht diese Erhebungen mit einem anderen, hochgradig problematischen Quellenkorpus: den Berichten des MfS über die Stimmungen in der Bevölkerung. Er verweist auf die darin fehlende Quantifizierung der Einstellungen (S. 65) und die „magische Grenze" (S. 68f.) für die Weiterleitung bestimmter Ergebnisse zur System(un)zufriedenheit an die Machthaber, was zu einer verzerrten Wahrnehmung geführt habe.
Auch Michael Meyen verdeutlicht in seinem Artikel die besondere Situation in der DDR, die stets in (medialer) Konkurrenz zur BRD stand. Trotz der raschen Professionalisierung der Institutsmitarbeiter wurden ihnen vonseiten der Partei Steine in den Weg gelegt, etwa dadurch, dass alle Umfragen abgesegnet werden mussten. Die von Meyen ausgewerteten Erhebungen der 1980er Jahre verdeutlichen das wechselseitige Misstrauen zwischen Regime und Bevölkerung (S. 208).
Oleg Manaev zeigt hingegen die aktuellen Probleme der Meinungsforschung im autoritär regierten Belarus. Der Autor konstatiert ein tiefes Misstrauen zwischen Regime und Opposition, wodurch die Reliabilität von Erhebungen von beiden Seiten in Frage gestellt werde (S. 91). Auch spiele politischer Druck eine besondere Rolle und könne dazu führen, dass sich Meinungsforscher insbesondere der Regimeseite zuwendeten und so in oppositionellen Kreisen als „Verräter" gälten (S. 93).
Die letzten vier Beiträge des Bandes widmen sich der Meinungsforschung im (post-)kommunistischen Polen.
Klaus Bachmann zufolge gab es in der Erinnerung an den Warschauer Aufstand verschiedene Intensivierungsstufen, etwa durch die Rehabilitation der einfachen AK-Soldaten in den 1960er Jahren sowie die tiefgehenden erinnerungspolitischen Konflikte seit den 1980er Jahren. Diese schlügen sich jedoch in dieser Dekade nicht in Umfragen zum erinnerungskulturellen Stellenwert des Aufstandes nieder, da solche nicht durchgeführt worden seien (S. 110 ff.). Für die Zeit nach 1990 wertet Bachmann verschiedene Erhebungen aus, wonach der Aufstand in der Erinnerung immer wichtiger wurde. Insbesondere die nach 1989 Sozialisierten hielten den Aufstand für gerechtfertigt – im Gegensatz zu den älteren Generationen. Für diese interessante Beobachtung liefert Bachmann jedoch leider keinen Erklärungsansatz. Seine These allerdings, dass der Warschauer Aufstand erst zu Beginn des neuen Jahrtausends den Status eines nationalen Mythos erhalten habe (S. 101), ist zu hinterfragen. Gerade hinsichtlich der Auseinandersetzungen zwischen der offiziellen und der oppositionellen Geschichtspolitik in der Spätphase der kommunistischen Herrschaft sei hier auf die hervorragende Dissertation von Florian Peters verwiesen, in der der Disput um die „korrekte" Erinnerung an den Aufstand eines der zentralen Themen ist. [1]
Der Frage nach der Akzeptanz bzw. Ablehnung der Einführung des Kriegsrechts geht Piotr Tadeusz Kwiatkowski nach und zeigt, dass sich in diesen Umfragen vor allem jüngere Befragte radikal gegen das Kriegsrecht aussprachen. Die Schuld an der Eskalation habe eine Mehrheit Interessanterweise sowohl der Regierung als auch der Solidarność zugewiesen (S. 155 ff.). Zudem habe die Armee durch die Einführung des Kriegsrechts nicht an Ansehen verloren. Zu anderen Ergebnissen kamen Umfragen der Opposition, deren Umstände indes problematisch gewesen seien: So mussten die Oppositionellen im Untergrund agieren und konnten ihre Fragebögen nicht offen verteilen, was zu einer Beschränkung führte, da nur vertrauenswürdige Personen befragt wurden. In dem Beitrag vermisst man genauere Quellenangaben, in Kwiatkowskis Ausführungen zu den interessanten Erhebungen des Komitet Obrony Społecznej fehlen sie völlig.
Patryk Wasiak untersucht die Wirkungsmacht von Erhebungen verschiedener Institute auf die politischen Entscheidungsprozesse der kommunistischen Machthaber. Er kommt zu dem Schluss, dass die Erhebungen in den 1980er Jahren einerseits ein politisches Ritual innerhalb des autoritären Politikstils der Regierung Jaruzelski darstellten. Andererseits zeigt der Beitrag Auseinandersetzungen innerhalb der PZPR und der Staatsverwaltung um die Informationsgewinnung und betont die besondere, neutrale Rolle des CBOS bei den Erhebungen (S. 143).
Michał Wenzel zeigt in seinem Artikel die Probleme bei der Ermittlung der Mitgliederzahlen der Gewerkschaft Solidarność, da diese über kein zentrales Register verfügt habe und insbesondere die Unterscheidung zwischen Mitglied und Unterstützer nicht eindeutig sei (S. 184). Die Prozentangaben schwankten daher zwischen 22% und 28% an der werktätigen Bevölkerung. Wenzels Ausführungen verdeutlichen auch den massiven Mitgliederschwund der Gewerkschaften nach 1990, der dazu geführt habe, dass heute der Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer in Polen EU-weit zu den niedrigsten gehöre (S. 190 ff.).
Insgesamt lassen sich in allen Beiträgen des Bandes verbindende Themen erkennen: Zum einen ist dies die problematische Stellung der Meinungsforschungsinstitute in (post-)kommunistischen Staaten und ihre Abhängigkeit von der politischen Elite und der jeweiligen Einstellung zur Funktion der Meinungsforschung (Honecker auf der einen Seite, Jaruzelski auf der anderen). Andererseits wird in den Beiträgen das Ethos der Mitarbeiter der Institute deutlich, die sich größtenteils aus professionellen Soziologen zusammensetzten, wobei in der Nachkriegszeit auch Lehrer anzutreffen waren. Ein weiteres zu beobachtendes Phänomen ist die internationale Vernetzung der Forscher, auch wenn sich die Blockkonfrontation negativ auf die Zusammenarbeit auswirkte. Hinsichtlich der Nutzung der Erhebungen für die historische Forschung kann in einigen Fällen konstatiert werden, dass die reichhaltigen Quellen bisher selten bis gar nicht ausgewertet worden sind (etwa im serbischen Fall). Der Band thematisiert methodische Implikationen und Probleme in Bezug auf die Nutzung des Materials. Er zeigt sowohl dessen komplizierten Ursprung als auch die heute teils schwer nachweisbare Reliabilität der Erhebungen und illustriert dies an konkreten Beispielen. Diese Reflexion über die Schwierigkeiten im Umgang mit den Quellen kann daher als Wegweiser dienen. Denn einen methodischen Königsweg sucht man (hier, aber auch anderswo) vergebens. Gleichwohl können diese Materialien sinnvoll eingesetzt werden, etwa wenn sie komplementär zu den Stimmungsberichten der Sicherheitsorgane an die Parteiführungen gelesen werden (wie von Giesecke gezeigt). Die Einbeziehung der Materialien könnte die Perspektive auf diktatorische Systeme erweitern, so dass neben die Top-Bottom- auch eine Bottom-Top-Beziehung träte, die für das Verstehen der Funktionsweise der Regime von Bedeutung ist.
[1] Florian Peters: Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, Berlin 2016 (Kommunismus und Gesellschaft, 2).
Citation:
Dr. Michael Zok: Review for: Klaus Bachmann, Jens Gieseke (Hg.): The Silent Majority in Communist and Post-Communist States. Opinion Polling in Eastern and South-Eastern Europe, 2016, in: https://www.pol-int.org/en/publications/silent-majority-communist-and-post-communist-states-opinion#r8354.