Katyń sei ein verfluchter Ort und ein schreckliches Symbol, das einen bis ins Knochenmark hinein erschaudern ließe. [1] Mit diesen Worten kommentierte der ehemalige polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski noch am selben Tag den Absturz der Präsidentenmaschine im April 2010, bei dem der damalige Präsident Lech Kaczyński zusammen mit 95 weiteren Insassen bei Smolensk in der Nähe von Katyń ums Leben kam. Dieser Ort, an dem sich wohl eines der bedeutendsten historischen Ereignisse in der polnischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zutrug, die Massenerschießungen polnischer Soldaten und Zivilisten durch das sowjetische NKWD im Sommer 1940, hat sich durch den Flugzeugabsturz ein zweites Mal in die polnische Erinnerung eingebrannt – war doch der Anlass von Kaczyńskis Reise ausgerechnet ein Besuch der Gedenkveranstaltung Katyń anlässlich des 70. Jahrestages der Erschießungen. Kwaśniewskis sprachliche Parallele und der von verschiedenen Seiten geäußerte Vorwurf einer russischen Mittäterschaft am Flugzeugunglück von 2010 sind in nationalkonservativen Kreisen der polnischen Öffentlichkeit bis heute ein gern verwendetes Narrativ.
Für die sieben Autorinnen und Autoren dieser besonderen Monographie ist der Flugzeugabsturz bei Smolensk und die Reaktion darauf ein weiteres Beispiel für die zentrale Bedeutung der Erschießungen von Katyń im polnischen Erinnerungsdiskurs, vor allem aber für die widersprüchliche und selektive Wahrnehmung der historischen Ereignisse um Katyń in den im Buch behandelten Gesellschaften. Das Buch ist das Arbeitsergebnis einer Forschungsgruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Cambridge, Greenwich und Tartu, die im Rahmen des internationalen HERA JRP-Projekts Memory at War Project: Cultural Dynamics in Poland, Russia and Ukraine Fragen der Erinnerung und der Entwicklung einer dafür angemessenen Methodologie am Beispiel der Gesellschaften Osteuropas nachgingen.
Das Buch bündelt die Forschungsergebnisse des Projekts. Eine der zentralen Thesen des siebenköpfigen Schreibkollektivs um Alexander Etkind lautet, dass Katyń als historisches Ereignis und als Erinnerung in den verschiedenen untersuchten Ländern keinesfalls deckungsgleich blieb: Zum einen symbolisiere bereits der Name eine Vielzahl an Orten von Massakern und Erschießungen, zum anderen trage die Chiffre „Katyń" in den Gesellschaften Polens, Russlands, Belarus, der Ukraine und im Baltikum durchaus unterschiedliche, teils überlappende oder widersprüchliche Bedeutungsebenen in sich (2). Hier endet die Argumentation dieser gelungenen Studie jedoch nicht. Im Sinne einer kritischen Betrachtung nationenzentrierter Historiographie suchen die einzelnen Beiträge nicht nur in den jeweiligen postkommunistischen Gesellschaften nach Formen der Erinnerung an Katyń, – mehr noch geht es ihnen darum, die Verflechtungen und komplexen Wechselbeziehungen sowie die parallel verlaufenden Schichten der Katyń-Erinnerung zwischen den einzelnen Gesellschaften zu bestimmen. Letztlich, so die Autorinnen und Autoren, sei die Erinnerung an Katyń ähnlich wie die Erinnerung an andere stalinistische Verbrechen oder an den Holocaust Gegenstand eines globalen, kosmopolitischen Erinnerns geworden (12).
Dazu liefert die Publikation eine überzeugende Methodologie, die sich mit dem Begriffspaar history / memory insofern auseinandersetzt, als dass sie der Erinnerung als geschichtsformendem Prozess größere gesellschaftliche Bedeutung zukommen lässt: „Memory, meanwhile, is history spoken performatively" (7). Die performative Qualität des Erinnerns, ob als Akt oder als Prozess, wird also im Buch betont. Die Kategorie des „memory event" (10) beschreibt den Autorinnen und Autoren zufolge erst die neuralgischen Punkte, die zu neuerlichen Bewertungen oder Revisionen in der Erinnerung an Katyń führen. Zu kurz greifen ihnen zufolge Kategorien wie die lieux de mémoire Pierre Noras, die die temporale Dimension des gesellschaftlichen Erinnerns vernachlässigten.
Dieser Methodologie nur in Teilen folgend, ist das Buch in acht Kapitel gegliedert, die sich dem Thema Katyń in den jeweiligen nationalen Gesellschaften in Polen, der Ukraine, im Baltikum und in Russland sowie dessen Repräsentationen in Andrzej Wajdas gleichnamigem Spielfilm von 2007 und in der Gedenkstätte Katyń bei Smolensk widmen. Das erste inhaltliche Kapitel zu Polen zeigt, dass die Erinnerung an Katyń bis heute von der fehlenden Zeitzeugenschaft der eigentlichen Erschießungen geprägt ist und in den Katyń-Repräsentationen mindestens bis 1990 Motive der Emotionalisierung vorherrschten. Die divergierenden Formen von offizieller und gesellschaftlicher Erinnerung in Volkspolen werden ebenfalls dargelegt, Wechselwirkungen zwischen Exil und Polen überzeugend aufgedeckt, wie bspw. die komplexe Publikations- und Zirkulationsgeschichte von Józef Mackiewicz' Zbrodnia Katyńska w świetle dokumentów [dt. Titel: Katyń, ungesühntes Verbrechen] von 1948 zeigt. [2] Dessen Dokumentensammlung – in Krakau nach dem Krieg zusammengestellt – wurde 1948 in England veröffentlicht und verbreitete sich wiederum schnell im polnischen Untergrund.
Mit dem Problem der fehlenden Zeitzeugenschaft setzt sich auch das anschließende Kapitel zum Spielfilm Katyń auseinander, in dem der Zuschauer zum nahen Zeugen der Erschießungen gemacht wird. Das Kapitel beleuchtet, dass Wajdas Spielfilm in der polnischen Öffentlichkeit mittlerweile die Qualität eines Dokuments zugeschrieben wird und Eingang in den Schulunterricht gefunden hat. Wenngleich der Film sich vor allem an ein polnisches Publikum richtet, ist umso erstaunlicher, dass Katyń auch in der Ukraine, dem Baltikum und in Russland große Resonanz erfuhr.
Wie aus den Kapiteln zur Katyń-Rezeption in der Ukraine und im Baltikum hervorgeht, erneuerte der Film dort lediglich das Wissen um den ‚eigenen' Opferstatus. So verglich man bereits im ukrainischen Exil und in Kreisen der Dissidenz eine Reihe von Massakern des NKWD an sogenannten „Volksfeinden" in Winnyzja 1937/1938 mit den Erschießungen von Katyń und verlieh beiden Ereignissen eine vorherrschende nationale Rahmung, wenngleich auch ukrainische Täter bei den Erschießungen von Katyń zu finden waren. Im Baltikum dient die Erinnerung an Katyń der Solidarisierung mit Polen als Opferstaat zweier Terrorregime. In der Ukraine selbst bleibt die Frage nach der ukrainischen Verantwortung an den Erschießungen polnischer Soldaten – auch Charkiv war einer der Orte der Hinrichtung von polnischen Offizieren – nach den Tätern und Mitwirkenden und somit nach der nationalen Verantwortung für die stalinistische Gewaltherrschaft weitestgehend unangetastet.
Dass die Debatte in Russland um die Verantwortung für die Massenerschießungen durchaus aktuell ist, ist wiederum Wajdas Katyń zu verdanken. Dort nämlich erfuhr der Film nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk eine gewaltige Resonanz und trug dazu bei, weniger relativierende und revanchistische Lesarten des Massakers zuzulassen. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage nach den Tätern und der nationalen Verantwortung, wie im Kapitel zur Erinnerung in Russland deutlich wird, eine Leerstelle im öffentlichen Diskurs. Überdies bleibt abzuwarten, wie sich der aktuelle Ukraine-Konflikt auf die russische Erinnerung an Katyń auswirkt.
Als besonders aufschlussreich kann das Kapitel zur Katyń-Gedenkstätte bei Smolensk gelten. Nicht zuletzt aufgrund der vielschichtigen Bedeutung des Ortes – der dortige Wald diente der Hinrichtung und dem Verscharren von tausenden Polen, aber auch einer weit größeren Zahl sowjetischer Opfer, deren Identität nur in den wenigsten Fällen geklärt werden konnte – zeigt sich anhand der Repräsentationen vor Ort die Schwierigkeit, die Komplexität der stalinistischen Gewalt abzubilden. Letztlich werden separate nationale Opfernarrative abgebildet, ohne dass diese aufeinander Bezug nehmen. Dabei kam es wiederholt zu Konflikten, bspw. zwischen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche und polnischen Opferorganisationen nach der Errichtung einer Kirche gleich neben dem Gedenkstättengelände. Dennoch gilt die Gedenkstätte nach wie vor als eindrucksvollster und architektonisch interessantester Erinnerungsort stalinistischer Gewaltherrschaft in Russland.
Das anschließende letzte Kapitel ist der Versuch, die Ereignisse von Smolensk, ihre Rezeption in Polen und Russland und deren Bedeutung für die Erinnerung an Katyń einzuordnen. Der Flugzeugabsturz führte demzufolge nicht einfach zu einer erneuten Erinnerungskonjunktur. Stattdessen galt Katyń nun als Gradmesser für die Schwere der Katastrophe von Smolensk. Bezeichnungen des Absturzes als Verbrechen, als Verschwörung, oder gar als „Katyń-2", so die Autorinnen und Autoren, nahmen beiden Ereignissen ihre Singularität und kündigten die zeitliche und historische Distanz dazwischen auf (150). Das Kapitel macht deutlich, dass die Vereinnahmung des Flugzeugsabsturzes von Smolensk als zweites Katyń durch die polnische Rechte zu einer ikonenhaften Verehrung der Opfer von Smolensk führte. Nicht zuletzt diese suggerierte Verflechtung beider Ereignisse verschärfte die ohnehin fortgeschrittene Polarisierung des politischen Diskurses erneut.
Abschließend betrachtet, präsentiert sich das Buch als kompaktes, erstaunlich homogenes und lesbares Produkt eines siebenköpfigen Schreibkollektivs und bietet eine gelungene Einführung in die Thematik der Katyń-Erinnerung. Leider konnte der selbstgesetzte Anspruch, eine globale Erinnerungsgeschichte Katyńs zu schreiben, nur bedingt eingelöst werden. Wenngleich die Betrachtung der Erinnerung an Katyń im polnischen Exil und in der ukrainischen Dissidenz neue Einblicke liefert, hätte eine Untersuchung des Erinnerungsdiskurses in den USA, in Großbritannien und nicht zuletzt in der Bundesrepublik – ähnlich wie bei Claudia Webers jüngst erschienener Habilitation – ein vollständigeres Bild ergeben. [3] Stattdessen bleibt der Blick auf die Gesellschaften östlich des ehemaligen eisernen Vorhangs beschränkt.
[1] Aleksander Kwaśniewski, Katyń to przeklęte miejsce, Dziennik, 10. April 2010, Zugriff am 27.08.2015, http://www.wiadomosci.dziennik.pl/artykuly/115477,kwasniewski-Katyń-to-przeklete-miejsce.html.
[2] Józef Mackiewicz, Zbrodnia Katyńska w świetle dokumentów, (Londyn: Gryf, 1984).
[3] Claudia Weber, Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń (Hamburg: Hamburger Edition, 2015).