Witold Mȩdykowski, ein in Israel und Polen ausgebildeter Historiker und Politologe, ist mutmaßlich einer der besten Kenner der Archive des Genozids an den polnischen Juden. Seit beinahe zwei Jahrzehnten erforscht er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Yad Vashem in Jerusalem die Primärquellen zum Schicksal von rund 3 Millionen polnischen Juden, von denen nur etwa zehn Prozent die Verfolgung und die Vernichtung durch die deutsche Besatzungsverwaltung überlebten. Das vorliegende Buch kann als „Opus magnum Mȩdykowski" bezeichnet werden, da es die Ergebnisse seiner minutiösen Archivrecherchen zusammenfasst und Generationen von Historikern des Holocaust ein wichtiges Nachschlagewerk sein wird.
Der Autor verspricht im Klappentext, das Buch sei die „überhaupt erste Studie, die jüdische Zwangsarbeit im Generalgouvernement (GG) in komplexer Weise darstellt". Um dieses Versprechen einzulösen, referiert er in zwei großen Buchabschnitten chronologisch die Geschichte der polnischen Juden seit dem Beginn der deutschen Besatzung im Herbst 1939 bis zur Ermordung der letzten überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter im Rahmen der sog. „Aktion Erntefest" im November 1943. Schon in seiner Gliederung folgt das Buch der traditionellen Sichtweise der Forschung über die Shoah in Polen, die von einer Radikalisierung der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ausgeht. Insofern folgt der Autor gewissermaßen der „deutschen Schule" der Täterforschung und argumentiert in aller Regel fast ausschließlich nicht aus der Perspektive der jüdischen Opfer. Dennoch nutzt er durchaus die einschlägigen Nachlässe jüdischer Institutionen im GG, etwa die Akten der sog. Judenräte oder der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, die von den deutschen Besatzern dazu berufen worden waren, ihre Befehle auszuführen. Wird diese Quelle nur in dieser einen Dimension ausgewertet, wie zum Beispiel in Kapitel 3 („Forced Labor in the Ghettos and Labor Detachments"), so wird zwar die genozidale Intention, die der jüdischen Zwangsarbeit deutscherseits zugrunde lag, rekonstruiert; der Leser erfährt jedoch relativ wenig darüber, welche unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die polnisch-jüdische Gesellschaft die deutschen Forderungen zum „Arbeitseinsatz" an die jüdischen Institutionen hatten. [1]
Traditionell folgt diese Studie dem Forschungsstand auch insofern, als sie voraussetzt, dass der sog. jüdische Arbeitseinsatz aus Sicht der Täter ökonomische Zweckmäßigkeit verfolgt habe. Daran lässt bereits die Einleitung keine Zweifel, die grundsätzlich von einem positivistischen Verständnis von Arbeit ausgeht und den Einsatz jüdischer Arbeiter in der deutschen Besatzungswirtschaft als eine extreme Variante der klassischen Lohnarbeit versteht: „[…] our reseach aims to understand the role that forced labor played in the economic policies of the German authorities in the General Government. […] in the ghettos of the General Government there existed a particular economic system, which could be described as forced economy". [S. VIII] Die mutmaßte Wirtschaftlichkeit jüdischer Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft kann die empirisch eindrucksvolle Studie letztlich nur in einigen wenigen Ansätzen belegen. Auch konstatiert der Autor in der Zusammenfassung nur einschränkend: „Forced labor was rather used in concentration camps and at the end of the war, first of all, to achieve certain economic goals and not in order to exterminate the prisoners." [S. 318]
In der Analyse der jüdischen Zwangsarbeit aus dem Blickwinkel der klassischen Ökonomie ist Mȩdykowskis Studie eher die Regel denn die Ausnahme in der Forschungsliteratur zum Thema. Allein schon der provokative Titel des Buches („Macht Arbeit frei?") jedoch regt dazu an, die Wirtschaftlichkeit der deutschen Verfolgungspraxis im Kontext des sog. jüdischen Arbeitseinsatzes zu hinterfragen. So sah bereits die Anordnung zur Umsetzung der „Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung" vom 12. Dezember 1939 vor, dass dieser Arbeitszwang einen „erzieherischen Zweck" haben sollte und außerdem zwei Jahre oder so lange dauern sollte, bis der erzieherischen Zweck erreicht worden sei. Berücksichtigt man dazu, dass die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Regel nicht entlohnt wurde, dass sie weder über angemessene Arbeitsausrüstung noch Unterbringung verfügten, waren die eigentlichen Regeln klassischer Lohnarbeit eigentlich seit Beginn des Holocaust von den deutschen Besatzern bewusst außer Kraft gesetzt worden.
Zudem wirft Mȩdykowskis wichtiger Hinweis auf die Situation sowjetischer Kriegsgefangener zur parallel laufenden jüdischen Zwangsarbeit ein Schlaglicht auf das Spannungsfeld, in dem sich die Studie befindet. So könnte man fragen, warum die deutschen Stellen die mittellosen Soldaten der Roten Armee einfach haben verhungern lassen, während sie die jüdische Bevölkerung erst sozial marginalisierten und sie doch gleichzeitig in einem System nutzloser Arbeitsverhältnisse dezimierten? Es gehe darum, so heißt es auf einer Besprechung von Vertretern der deutschen Polizei und Verwaltung mit Generalgouverneur Hans Frank am 30. Mai 1940, „bei den Juden gewissermaßen den Rahm abzuschöpfen". Schließlich könne man nicht Millionen von Juden einfach verhungern lassen. [2] Soll heißen: In den ersten beiden Jahren der Besatzung verschwendete die deutsche Verwaltung die Arbeitskraft der jüdischen Bevölkerung und erpresste – unter Androhung gesundheitsgefährdender Lagerarbeit – Gelder von den jüdischen Institutionen, um sich daran persönlich zu bereichern. Genau solche nichtökonomischen Motive der Arbeit, die jenseits der Zweckmäßigkeit des Genozids an den polnischen Juden zu erforschen sind, thematisiert Mędykowski nicht. [3]
Dass die Studie auf Grund des zweiten Abschnitts – über die jüdische Zwangsarbeit unter der Verwaltung der SS – zu dem Schluss kommt, gleichermaßen ideologische und ökonomische Ziele hätten ab dem Frühjahr 1942 zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den Vernichtungslagern im GG geführt, ist bereits Stand der Forschung. Den Fachwissenschaftlern ist dieses Buch, das gerade in der ersten Hälfte von einem gründlicheren Englischlektorat hätte profitieren können, dennoch unbedingt zu empfehlen. So legt Mȩdykowski zwar nicht die Monographie über die Komplexität der Zwangsarbeit und deren Bedeutung für den Holocaust vor, dennoch sucht das Buch in seiner Fülle an Primärquellen seinesgleichen. Gerade die zahlreichen Statistiken und thematischen Karten sowie die Bilder jüdischer Frauen und Männer, die zur Arbeit gezwungen wurden, sind für die weitere Forschung zum Thema sehr inspirierend.
[1] Zu den sozialen Konflikten im Rahmen des Arbeitszwangs innerhalb der polnisch-jüdischen Gesellschaft u.a.: Andrea Löw/Agnieszka Zajączkowska-Drożdż, Leadership in the Jewish Councils as a Social Process: the Example of Cracow, in: Frank Bajohr/Andrea Löw (Hg.), The Holocaust and European Societies: Social Processes and Social Dynamics, London: Palgrave Macmillan 2016, S. 189–205; Katarzyna Person, Assimilated Jews in the Warsaw Ghetto. 1940-1943. New York: Syracuse University Press 2014.
[2] Klaus-Peter Friedrich (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 4, Polen: September 1939 — Juli 1941. München: Oldenbourg 2011, S. 302.
[3] Dazu wird demnächst eine Studie am Beispiel jüdischer Arbeit in Lagern der deutschen Wasserwirtschaftsverwaltung im Generalgouvernement erscheinen: Frank Grelka, Genocidal Luxury – Consumerism and Victimization in the General Government at the Outset of the Holocaust.