Liisa Malkki schreibt in ihrer anthropologischen Studie von 1995 über die Flucht der Hutu aus dem zentralafrikanischen Burundi nach den Massentötungen 1972 und ihre Situation im Exil in Tanzania: “[U]nderstanding displacement as a human tragedy and looking no further can mean that one gains no insight at all into the lived meanings that displacement and exile can have for specific people." [1] Malkki sieht den Wert des Erzählens einer Geschichte von Vertreibung und Exil in der Möglichkeit, Prozesse der Identitätsfindung und Vergemeinschaftung ausfindig zu machen. Dies beinhaltet, den Wandel und die Bedeutung von Identitäten und moralischen Gemeinschaften, die erst durch die Erfahrung von Entwurzelung und Exil ausgelöst würden, zu beschreiben.
Dorota Sula hat in ihrer 2013 erschienenen Studie nun den Versuch unternommen, die Geschichte der Flüchtlinge im sowjetischen Russland nach dem Ersten Weltkrieg und ihre Umsiedlung nach Polen bis 1937 zu untersuchen. Dabei verengt sie jedoch den Blick auf die sogenannte „Rückkehr“ der polnischen Bevölkerung und lässt zugleich die Komplexität der dramatischen, tragischen und zugleich faszinierenden Gemengelage außer acht, in der sich ebenso die jüdische, ukrainische, weißrussische und russische Bevölkerung des alten Russischen Zarenreichs im Verlauf des Ersten Weltkriegs und danach befanden.
Die Umsiedlungen und Vertreibungen spielten sich in den weitläufigen Gebieten des zerfallenen Russischen Zarenreichs zwischen Polen und der Sowjetunion und zu einer Zeit ab, in der die beiden Staaten sich zunächst offen kriegerisch gegenüber standen (1919-1921). Bis zum Abschluss des Friedensvertrags von Riga wurden nicht zuletzt die zukünftigen und (bis 1939) weitestgehend gültigen Prinzipien des Umgangs der westlichen Welt mit dem kommunistischen Russland ausgehandelt. Für die Realisierung der Umsiedlung von polnischen Staatsbürgern aus Russland nach Polen stellte der Vertrag Sula zufolge einen Durchbruch dar, beschloss er doch die Erarbeitung einer Umsiedlungspolitik im Rahmen einer „Gemeinsamen Polnisch-Russisch-Ukrainischen Kommission“ mit Sitz in Warschau und Moskau (S. 310). Dies hatte vor allem für die polnischen Flüchtlinge Folgen, denn sie mussten sich nun endgültig entscheiden, ob ihre Loyalität dem polnischen (antikommunistischen) oder dem sowjetischen Staat gelten sollte. [2]
Es ist wohl eines der herausstechenden Spezifika polnisch-sowjetischer Migrationspolitik, dass der Kontakt zwischen polnischen und sowjetischen Verhandlungspartnern in der Zeit des Polnisch-Sowjetischen Krieges und darüber hinaus nicht abriss. Über das Drama der Flucht und Vertreibung, sowie über den Austausch von politischen Gefangenen eröffnete sich ein Erfahrungsfenster, das beiden Seiten einen exklusiven Blick in das Innere des jeweils Anderen bot. Hier bietet die Arbeit von Sula lohnenswertes Material, doch sie deutet lediglich an, welche Motive die sowjetische und die polnische Seite bewegten, in gemischten Kommissionen über den Austausch der polnischen und der sowjetischen Bevölkerung zu beraten, wiederholt Spione oder politische Gefangene (auf sowjetischer Seite waren dies oft Geistliche) festzusetzen und diese dann als Verhandlungsmasse im Dialog miteinander einzusetzen.
Sulas Erzählung ist denn auch weniger eine Geschichte der polnischen Kriegsflüchtlinge, von Exil, Einwanderung und (Re-)Integration in der Polnischen Republik, als vielmehr eine gut dokumentierte sowie detailreich und konkret beschriebene Sozial- und Institutionengeschichte der „gesamten Remigrations- und Repatriierungsaktion“ (S. 14) des im Entstehen begriffenen polnischen Staates. Damit liefert sie wertvolle Einblicke in die fragilen polnisch-sowjetischen Beziehungen in den Jahren 1918-1937.
Die Autorin kann darüber hinaus herausarbeiten, dass die polnischen Flüchtlinge in Russland bereits während des Ersten Weltkriegs über einen hohen Organisationsgrad verfügten und so Voraussetzungen (institutionelle und personelle Strukturen) für eine spätere staatliche polnische Migrationspolitik schufen. Dass die Komitees und Organisationen dabei als Motoren nationaler Mobilisierung (nicht nur im polnischen Fall) fungierten, wird von ihr kaum beleuchtet. [3] Weiter stellt sie fest, dass die „wilden“ Umsiedlungen besonders in der frühen Phase ab 1918 von katastrophalen Umständen geprägt waren. Es fehlte an Krankenhäusern, Transportmitteln, Geld und darüber hinaus zunehmend an der Bereitschaft der lokalen Bevölkerung, die Ankömmlinge aufzunehmen und zu versorgen. Von einer staatlich organisierten Umsiedlung von Polen aus Russland (unter nur wenig besseren Bedingungen) kann erst nach dem Ende des Polnisch-Sowjetischen Kriegs 1921 gesprochen werden. Erschwert wurden die Umsiedlungen durch ständiges Misstrauen auf sowjetischer und polnischer Seite. Nach 1924 nahm der Siedlungsstrom nach Polen deutlich ab, und beide Seiten schienen an einer massenhaften Umsiedlung der Flüchtlinge nach Polen kaum noch interessiert.
Leider hinterlässt die Arbeit konzeptionell einen unfertigen Eindruck. Der Zentralbegriff der Rückkehr bleibt denn auch Endpunkt und nicht Ausgangspunkt ihrer Erzählung (das letzte Kapitel behandelt die Situation der Ankömmlinge in den polnischen Auffanglagern). So fragt Sula zwar danach, wie die potenziellen Remigranten und Repatrianten – die Begrifflichkeit ist auf die beiden Gruppen von Polen im Zarenreich, nämlich Vorkriegspolonia und Kriegsflüchtlinge, zurückzuführen – nach Russland gekommen waren. Weiter fragt sie, unter welchen Bedingungen sie dort lebten, und schließlich, wer die Akteure hinter der Repatriierungskampagne waren und wie der polnische Staat mit dem „Problem der Repatrianten aus dem Osten“ umging (S. 14). Zur Integration der Rückkehrer in die polnische Gesellschaft, oder der späteren Deutung der Erfahrung von Exil und Vertreibung durch die Protagonisten selbst kann die Arbeit aber nur wenig beitragen. Als wichtigstes Motiv zurückzukehren macht die Autorin gleich zu Beginn die Hoffnung auf ein Leben in der nun unabhängig gewordenen Polnischen Republik aus (S. 11). Ebenso fehlen Fragen zu den politischen Motiven und Interessenlagen polnischer Flüchtlingswerke, sowie eine systematische Betrachtung des Anteils internationaler und staatlicher Hilfsorganisationen (erwähnt seien hier die zahlreich vertretenen amerikanischen und japanischen Organisationen wie auch etliche Initiativen der amerikanischen Polonia).
Letztlich hätte der Arbeit ein Blick auf die internationale Literatur zu diesem oder ähnlichen Themen gutgetan. Bereits 2004 hat Peter Gatrell in einem Sammelband zur Problematik der Massenumsiedlungen nach dem Ersten Weltkrieg treffend festgestellt: „The refugee voice emerges only rarely in the documentary record.“ [4] Die Flüchtlinge würden in der Geschichtsschreibung zu einer passiven, hilfsbedürftigen Masse umgearbeitet und bildeten letztlich das zu erzählende Gegenstück einer per se notwendigen (nationalen) humanitären Hilfe. Dorota Sulas Arbeit zeigt dieses Dilemma auf anschauliche Weise.
[1] Liisa H. Malkki, Purity and Exile. Violence, Memory and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania (Chicago: University of Chicago Press, 1995), S. 16.
[2] Konrad Zieliński hat darauf hingewiesen, dass eine antikommunistische Gesinnung ausschlaggebend sein konnte, auch ethnischen Polen die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Diese Tendenz verstärkte sich im Verlauf des Polnisch-Sowjetischen Krieges und blieb über die gesamte Zwischenkriegszeit dominierend. Darüber hinaus war die Einbürgerungspolitik in Polen von Korruption und einem behörden-inhärentem Antisemitismus geprägt. Vgl. Konrad Zieliński, Population Displacement and Citizenship in Poland, 1918-24 In Homelands. War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia 1918-1924, ed. Nick Baron and Peter Gatrell (London: Anthem Press, 2004), S. 98–119, hier 103, 110.
[3] Auf das Phänomen der humanitären Initiativen und ihren Zusammenhang mit der Entstehung eines nationalisierten Expertenethos von Doktoren, Psychiatern, Juristen und Sozialarbeitern hat Peter Gatrell aufmerksam gemacht. Vgl. Peter Gatrell, War, Population Displacement and State Formation in the Russian Borderlands 1914-1924 In Homelands. War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia 1918-1924, ed. Nick Baron and Peter Gatrell (London: Anthem Press, 2004), S. 10–34, hier 14.
[4] Ibid., S. 31.