Pfarrererinnerungen sind literarische Zeugnisse, die oftmals spannendes Material zur Kirchen-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte liefern. Die vorliegenden Lebenserinnerungen von Johannes Staemmler (geb. 1860 in Duschnik, gest. 1946 in Bad Kösen) sind über weite Strecken ein Musterbeispiel dafür. Mit großer Tiefenschärfe und Ausführlichkeit sind in Staemmlers Lebensrückschau besonders die frühen Präge- und Berufsjahre des Theologiestudenten, Pfarrers und Superintendenten beschrieben, der schließlich Oberkonsistorialrat in der unter preußischer Verwaltung stehenden Provinz Posen wurde. Der Alltag in den von Staemmler begleiteten evangelischen Gemeinden und Erziehungseinrichtungen in Duschnik, Bromberg, Gnesen und Posen wird aspektreich beleuchtet bis hin zu Fuhrkosten, Bräuteseminaren, Kindergottesdienstkreisen, kirchenpolitischer Fahnensymbolik und interkonfessionellen Begegnungen. Standesperspektive, konservative Orientierung, Leistungs- und Nationalbewusstsein sowie lutherische Frömmigkeits- und Familienkultur durchziehen das Manuskript. Es handelt sich um eine ausgesprochen mitteilungsfreudige Quelle, die als Altersprodukt nach dem Eintritt in den Ruhestand offenbar über einen längeren Zeitraum entstand. In gepflegter, nuancenreicher Sprache schildert der Verfasser den von ihm erlebten und verantworteten Berufsalltag thematisch breit bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein. Der von Staemmler als Bruch erlebte Übergang des Gebietes unter polnische Verwaltung ab 1918 spiegelt sich dann auch formal in einem Darstellungswechsel auf einzelne Jahreshorizonte wieder, die zugleich inhaltlich in scharfem Kontrast zur Erzählbreite der vorausgehenden Kapitel stehen: Die Jahre 1920 bis 1930 bieten zumeist wenig mehr als eine Aufzählung familiär wichtiger Daten, gestützt auf Staemmlers Kalendernotizen.
Beigefügt ist der Edition ein Vorwort Johannes Staemmlers, des Erfurter Urenkels des Autors. Initiator und Herausgeber des Bandes ist der Posener Historiker Olgierd Kiec, der mit seiner umfänglichen Einleitung auf 50 Seiten detaillierte Informationen zur Biographie Staemmlers zusammenträgt. Diese gehen teilweise weit über den Lebensbericht hinaus und zeigen die Vertrautheit des Editors mit der Geschichte der Posener Provinz und den kulturellen Eigenheiten dieses deutsch-polnischen Grenzraums. Der Herausgeber weist auch auf bemerkenswerte Erinnerungslücken bzw. bewusste Aussparungen des Autors hin und verfolgt abschließend die beruflich-biographischen Geschicke von Staemmlers begabten Kindern. Die Wege seiner Söhne unterschieden sich infolge des „Dritten Reiches" in bemerkenswerter Weise. Wolfgang Staemmler (1889–1970) gehörte zum Leitungskreis der Bekennenden Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen und blieb auch in der DDR ein wichtiger Kirchenmann. Martin Staemmler (1890–1974) zählte zu den prominenten Medizinprofessoren (u.a. 1938–1942 Rektor der Universität Breslau), die sich der nationalsozialistischen Rassenideologie öffneten, ihren beruflichen Weg aber nach 1945 in Westdeutschland nahezu ungebrochen fortsetzen konnten. Siegfried Staemmler (1892–1939) geriet als politisch ambitionierter Bromberger Klinikdirektor unter die ersten deutschen Zivilopfer der polnischen Armee zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der offensichtlich unangepasste deutsch-polnische Grenzgänger Gerhard Staemmler (1898–1939) schließlich gehörte zu den politisch Verzweifelten – er nahm sich noch vor Kriegsausbruch in einem Danziger Gefängnis das Leben. Erwähnenswert ist auch einer der Enkel des Autors der Lebenserinnerungen: Klaus Staemmler (1921–1999) war ein bekannter Übersetzer polnischer Literatur ins Deutsche.
Zahlreiche Bilddokumente, Kartenausschnitte, Dokumentenfotos sowie eine Stammbaumtafel bereichern den Text der Memorialerzählung illustrativ. Ein exaktes Abbildungsverzeichnis, ein deutsch-polnisches Ortsregister und ein solides Personenregister beschließen den Band. Sie zeigen die Sorgfalt des Herausgebers, der in detektivischer Kleinarbeit auch fast alle im Originaltext weggelassenen Vornamen nachrecherchiert hat. Leider ist der Name seines Übersetzungshelfers in der Einleitung auf S. 56 ausgefallen („Dr. 9"). Bedauerlich sind auch mehrere – offenbar computerbedingte – Dittographien von Wörtern, Wortgruppen, halben oder ganzen Zeilen (vgl. u.a. S. 236 oben), die den Lesefluss stören. Ob man in Johannes Staemmler einen „der bedeutendsten" Männer der Posener Kulturelite sehen muss, wie Olgierd Kiec herausstellt, erscheint mir fraglich. Auf jeden Fall aber bietet das Erinnerungsbuch Staemmlers vielseitige Einblicke in die Zeitwahrnehmung eines aktiven Protagonisten der evangelischen Kirche vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Für die Posener Kirchen-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte erweist sich das Manuskript als eine historische Fundgrube hohen Ranges. Umso lobenswerter ist es daher, dass die Lebenserinnerungen nahezu zeitgleich auch in polnischer Sprache erschienen sind, übersetzt und herausgegeben von Olgierd Kiec.