Das Buch ist der zweite Band, der im Rahmen der seit 2006 bestehenden Projektgruppe „Ostmitteleuropa transnational" am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) veröffentlich wurde. Es basiert auf zwei Workshops aus dem Herbst 2010 und besteht aus einer Einleitung, acht Beiträgen und einem Gespräch zur Rolle der internationalen Organisationen im historischen Kontext. Seine beiden Hauptthemen sind Territorialität und Internationalisierung, die im transnationalen historischen Kontext behandelt werden, ohne dabei theoretisch streng voneinander abgegrenzt zu werden. Diese Themen sprechen bereits aus dem als Titelbild treffend ausgewählten farbigen Werbeplakat von Rafael de Ochoa y Madrazo von 1900, wo die Begriffe „universelle", „internationale" und „Transsibérien" sofort ins Auge fallen. Der zeitliche Rahmen der Artikel erstreckt sich von der zweiten Hälfte des 19. bis zum Ende des 20. Jh.
In der Einleitung wird die Untersuchung der transnationalen Dimension Ostmitteleuropas als Ziel genannt, unter besonderer Betonung der Entwicklung von politischen und gesellschaftlichen Räumen, Territorialität und der Rolle der Agrarfrage als Beispiel der Internationalisierung. Die Hrsg. bezeichnen „Ostmitteleuropa" als eine „nicht scharf umgrenzte, vielmehr variable und sich durch ihre Verflechtungen nach innen und außen abzeichnende Region" (S. 27).
Die Beiträge sind in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil „Vielschichtige Territorialisierungen" setzt sich aus vier Beiträgen zusammen. Ulrike Jureit eröffnet den Band mit ihrem Beitrag zu politischen Raummustern als Elemente expansionistischer Ideologien in Deutschland von der Gründung des Kaiserreichs bis in die Zwischenkriegszeit. Jörn Happel behandelt am Beispiel des Russischen Kaiserreichs die komplexen räumlichen Prozesse und Instrumente einer Kolonialmacht. Frank Hadler zeigt, wie der Neoslawismus in Österreich-Ungarn und Russland im späten 19. und frühen 20. Jh. zu einem transnationalen Territorialisierungsprojekt wurde, das versuchte, alte slawische Nationalismen transnational zu bündeln. Der Beitrag von Anna Veronika Wendland beschließt diesen Teil. Sie stellt theoretische Überlegungen zur Rolle von Städten und urbanen Räumen als Zentren komplexer Ereignisse an, in denen sich verschiedene Territorialisierungskonzepte, gesellschaftliche Prozesse und Identitäten herausbildeten, miteinander konkurrierten und einander überlappten.
Auch der zweite Teil unter dem Titel „Vielfältige Internationalisierungsprojekte" enthält vier Beiträge. Heléna Tóth versucht, am Beispiel der internationalen Netzwerke der Exilungarn einen gemeinsamen Handlungsraum für die Revolutionen von 1848 auf dem europäischen Kontinent zu skizzieren, und konstatiert die Existenz einer „gemeinsamen europäischen Revolutionskultur" (S. 139). Was die Autorin konkret unter „Europa" versteht, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Dietlind Hüchtker behandelt die polnische und ukrainische Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jh. und ihre transnationalen Verbindungen. Die Auswirkung der Bewegungen und ihre internationale Dimension werden am Beispiel der Übersetzungen der Erzählung Marta von Eliza Orzeszkowa in mehrere Sprachen dargestellt. Die beiden weiteren Beiträge von Nikolay Kamenov und Adrian Zandberg behandeln die Anti-Alkoholbewegung im frühen 20. Jh. in Bulgarien und die Rolle der Guttempler in Polen, deren „internationaler Aktionsradius" (S. 197) charakteristisch war. Das Buch wird mit einem Gespräch der Hrsg. mit Susan Zimmermann, Marcel van der Linden und Matthias Middell zum Thema „Internationale Organisationen und das Prinzip des Nationalen: Bündnispartner oder Gegenspieler?" abgerundet. Als Fachleute für transnationale Geschichte diskutieren sie über die Rolle internationaler Organisationen in Ostmitteleuropa im historischen Kontext nationaler Ordnung.
Die Beiträge zeigen, dass Internationalisierung einerseits als ein Teil der Globalisierung zu verstehen ist und andererseits auch aus lokalen und nationalen Komponenten bestehen kann, d.h. auf konkreten Prozessen und Räumen basiert. Hierbei spielt Territorialität eine besondere Rolle. Alle Studien nehmen einen spezifischen Raum oder Ort in Mitteleuropa als Ausgangspunkt. Es fehlen allerdings historisch-theoretische Überlegungen zu den Konzepten „Transnationalität" und „Internationalisierung". Waren diese Begriffe im späteren 19. und frühen 20. Jh. tatsächlich in Gebrauch? Ist es legitim, sie im historischen Kontext zu verwenden? Diese Fragen bleiben offen.
Der Band behandelt ein auch heute aktuelles Thema. Internationale politische und juristische Organisationen, globale ökonomische Institutionen und internationale Bewegungen sind heutzutage im Zeitalter der Globalisierung bedeutender als je zuvor. Die Vernetztheit der Welt wird gewöhnlich mit den Begriffen „Transnationalität" und „Internationalisierung" beschrieben, die mit Ideen von Transnationalismus, Universalismus, Multikulturalismus und Kosmopolitismus konnotiert sind. Die globale Weltordnung erlebt nicht nur im wirtschaftlichen (transnationale Korporationen), politischen (internationale Organisationen) und gesellschaftlichen (Bewegungen) Kontext eine Blütezeit, sondern es wird auch ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte erforscht – ein Beispiel dafür ist dieser Sammelband. Insgesamt behandelt der Band eine interessante Facette in der Geschichte des Transnationalismus, dem bisher in Bezug auf Ostmitteleuropa nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) H. 3.