Zwischen 1911 und 1950 entstanden in Russland, Polen Österreich und den USA Filme, die sich gezielt an ein osteuropäisch-jüdisches Publikum wandten. Es handelt sich hierbei um etwa 140 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme, denen zunächst nur in Jiddisch [1] und seit 1980 auch in anderen Sprachen [2] wissenschaftliches Interesse geschenkt wurde. Die frühere Forschung vertrat dabei die Ansicht, dass das Jiddische Kino vordergründig dem jüdischen Anderssein huldigte und somit eine Stellung gegen die Assimilation an das nicht-jüdische Umfeld bezog. [3]
Die Filmwissenschaftlerin Chantal Catherine Michel zeigt nun dieses Kulturerbe der Aschkenasim in einem anderen Licht. In ihrer auf die Dissertation zurückgehenden Arbeit
verortet sie das Jiddische Kino im Spannungsverhältnis zwischen „Schtetl und American Dream“, zwischen der osteuropäisch-jüdischen Identität und der vollständigen Anpassung an die US-amerikanische Gesellschaft. Diese gehe in den Filmen weit über eine bloße Akkulturation hinaus und wird daher durch die Autorin bewusst als Assimilation bezeichnet. (S. 253).
Ihre Entscheidung begründete sie zunächst mit einer groben quantitativen Auswertung des Filmbestandes, den sie themenbezogen in „Schtetl-„ und in „Brückenfilme“ unterteilt. Die Autorin findet dabei heraus, dass Filme, die ausschließlich in den Schtetln in Russland, Österreich-Ungarn und später in Polen spielten und eine völlig autarke, in sich geschlossene jüdische Welt suggerierten, in der Minderzahl sind. (Hier wären exakte Zahlen wünschenswert gewesen.)
Die Mehrzahl der Produktionen handelte dagegen von dem Verlassen der alten Heimat und dem Neuanfang in Amerika, vorzugsweise um die Zeit der großen Immigrationswellen zwischen 1881 und 1924. In allegorischer Anlehnung an die Reise, die etwa 2,3 Millionen jüdische Einwanderer unternahmen, schlagen die Filme eine kulturelle Brücke zwischen dem alten und dem neuen Kontinent.
Für die Autorin sind es insofern die „Brückenfilme“, die das Jiddische Kino quantitativ ausmachen.
Thematisch greifen sie ausnahmslos das wichtige Anliegen der jüdischen Immigranten auf, nämlich den Wunsch nach sozialem Aufstieg. Dieser war allerdings – so die zentrale These der Arbeit – „nur durch (einen gewissen Grad von) Assimilation herbeizuführen“ (S. 24). Das Jiddische Kino zeigt in dem Sinne eine Brücke zwischen der ursprünglichen osteuropäisch-jüdischen Identität, der yidishkayt und dem American Dream, mit dem assimilationsbedingte Veränderungen der Lebensweise einhergingen. (S. 24)
Michel setzt sich zum Ziel, diese spannungsgeladene und konfliktreiche Wechselbeziehung zwischen dem erwünschten sozialen Aufstieg und der damit verbundenen Aufgabe der jüdischen Identität filmanalytisch zu erschließen. Ihre Untersuchung erfolgt ausschließlich anhand von Filmproduktionen. Sekundärquellen wie Filmkritiken oder Interviews mit Regisseuren ließ sie außer Acht mit der Begründung, dass sie in unzureichendem Umfang vorhanden seien.
Ihre Arbeit gliedert sie nach den drei relevanten soziologischen Phänomen „Sozialer Aufstieg“, „Identität“ und „Assimilation“, die folglich als Ziel, Start und Weg verstanden werden. Innerhalb dieser drei Kapitel werden zwölf Filmproduktionen untersucht, die wiederum in vier Unterkategorien unterteilt sind.
Die „Assimilationsfilme“ zeichneten eine optimistische Aussicht auf den sozialen Aufstieg der jüdischen Protagonisten. Die Assimilation wurde dabei nicht kritisiert oder bedauert, sondern begrüßt. (Beispiele: MIZREKH UN MAYREV von Sydney M. Goldin, YIDL MITN FIDL von Joseph Green und AMERIKANER SHADKHEN von Edgar G. Ulmer.)
In den „Barrierefilmen“ wird der jüdische Protagonist durch das antisemitisch eingestellte Umfeld daran gehindert, sozial aufzusteigen und kehrt zu seinen religiös-kulturellen Wurzeln zurück. (Beispiele: YIZKOR von Sydney M. Goldin, DER VANDERNDER YID von George Roland und TEVYE DER MILKHIGER von Maurice Schwartz.) „Wunschtraumfilme“ zeigen hingegen, dass der soziale Aufstieg mit Yidishkayt vereinbar sei. (Beispiele: DER PURIMSHPILER und MAMELE, beide von Joseph Green.) In den „Albtraumfilmen“ gibt der jüdische Protagonist seine Identität für den American Dream auf. (Beispiele: ONKL MOZES von Sidney M. Goldin, MOTL DER OPREYTER von Joseph Seiden, DER VILNER BALEBESL von George Moskov und Max Nossek.)
Michel beweist an diesen nachvollziehbar gewählten Beispielen überzeugend, dass das Jiddische Kino „keineswegs bloß eine Form jüdischer Autozelebration“ (S. 355) darstelle. Diese Filmproduktionen setzten sich vielmehr intensiv mit dem nicht-jüdischen Umfeld und dem konflikthafte Aufgeben der jüdischen Identität auseinander.
Ihre Arbeit ist gut recherchiert und historisch sowie soziologisch hinreichend fundiert. Allerdings wäre zu bemängeln, dass die theoretischen Einleitungen, die den drei Kapiteln vorangestellt wurden, zulasten der eigentlichen Filmanalysen etwas zu lang ausfallen. Mehr analytische Tiefe hätte auch durch das geschicktere Verbinden von Theorien und Filmbesprechungen erreicht werden können. Die wiederholten Vergleiche der einzelnen Filmsequenzen wirken mit der Zeit darüber hinaus etwas ermüdend. Eine tabellarische Zusammenstellung hätte hier für mehr Übersicht sorgen und den wissenschaftlichen Wert des Buches steigern können.
Bedauerlicherweise entschied sich die Autorin auch dagegen, die Wirkung dieser Filme zu besprechen, da keine Interviews mit Zeitzeugen durchgeführt werden können. Hierfür hätte sie jedoch Rezensionen heranziehen können, die in der jüdischen Presse in mehreren Ländern erschienen sind und in Archiven einzusehen sind.
Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist es ein durchaus lesenswertes und empfehlenswertes Buch. Dieses filmwissenschaftliche Werk zeigt, dass dem Jiddischen Kino mit innovativen Fragestellungen durchaus neue Aussagen zu entlocken sind. Diese bereichern unser Wissen über die Befindlichkeiten der Juden auf dem Alten und dem Neuen Kontinent und sind als solche für die jüdischen Studien vom besonderen Wert.
[1] DAVID MATIS, Cu der geszichte fun jidisze films, 1961, aus: NATAN GROSS, Film żydowski w Polsce, Kraków 2002, S. 13. Orginal: Taldot ha-kolnoa ha-jehudi be-Polin 1910-1950, Jerusalem 1990.
[2] JUDITH N. GOLDBERG, Laughter through tears. The Yiddish cinema, Rutherford/, London 1983; ERIC A. GOLDMAN, A world history of the Yiddish cinema, New York 1979; Ders., Visions, images, and dreams. Yiddish film past and present, Michigan 1983; JIM HOBERMAN, Bridge of light. Yiddish Film between Two Worlds, Philadelfia 1995; HILMAR HOFFMAN und WALTER SCHOBERT (Hrsg.), Das jiddische Kino, Frankfurt am Main 1982; RONNY LOEWY (Hrsg), Das jiddische Kino, Frankfurt 1982; GERTRUD KOCH, Die Einstellung ist die Einstellung – Visuelle Konstruktionen des Judentums. Frankfurt am Main 1992, SYLVIA PASKIN (Hrsg.), When Joseph Met Molly – A Reader on Yiddish Film, London 1999.
[3] Goldman, Visions..., S. 81.