Mit ihrer Analyse von Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg fragt Michaela Kipp aus einer lebensweltlichen Perspektive, wie „ganz normale Männer" (Christopher Browning) zu Massenmördern werden konnten. Sie untersucht, in welcher Weise Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen als kulturelle Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sich auf die Brutalisierung des Verhaltens von Wehrmachtsangehörigen während des Krieges gegen die Sowjetunion auswirkten. Der Innovationswert der Studie liegt also in der Auslotung der Zusammenhänge zwischen Mentalitäten, nationalsozialistischer Ideologie und Gewalt. Entsprechend ihrem Erkenntnisinteresse wählte K. Briefe von solchen Soldaten aus, die an Massenvernichtungen beteiligt waren. In einem umfangreichen Textkorpus von 18 Briefserien, fünf Tagebüchern sowie 1250 losen Briefen und Briefexzerpten aus verschiedenen Sammlungen bzw. Archiven verfolgt sie binäre Schlüsselbegriffe wie „schmutzig/sauber" („Säuberung"), „geordnet/chaotisch" („Ordnung schaffen"), Worte aus dem konnotativen Umfeld dieser beiden Oppositionen („Ekel", „Dreck") sowie den Seuchen- und Ungezieferdiskurs („Durchkämmen" von Gebieten, die von vermeintlicher Partisanentätigkeit „verseucht" waren, „Parasiten", „Läuse"). So kann sie zeigen, wie das Reinlichkeitsdenken den Soldaten in einer Situation, in der für sie selbst hygienische und ethische Normen außer Kraft gesetzt waren, der Selbstvergewisserung und zugleich der Dehumanisierung des militärischen Gegners diente, wie es schließlich die brutale Kriegsführung und die Morde an der Zivilbevölkerung legitimierte. Mithilfe des Ordnungsdenkens wiederum wurde kulturelle Alterität als chaotisch und regellos herabgesetzt und versucht, die Angst vor einem Kontrollverlust im besetzten Feindesland in den Griff zu bekommen. Die sehr detaillierte Analyse ausgewählter Fallbeispiele verdeutlicht, dass solche Reaktionen nicht ausschließlich auf der nationalsozialistischen Ideologie basierten, sondern etwa auch vom bürgerlich-protestantischen Arbeits- und Pflichtethos geprägt sein konnten. Zugleich exemplifiziert die Vf., dass einzelne Briefschreiber sowohl auf die Kriegserlebnisse wie auch auf die Differenzen zwischen der deutschen und den osteuropäischen Kulturen Antworten gaben, die von den genannten Mustern abwichen, und dass sie dabei u.a. mit Respekt und Sympathie, Scham, Depression und Autoaggression reagierten.
Die Befunde der Feldpostanalyse betrachtet K. vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen, von denen hier nur die „Rassenhygiene" und die geplante Neuordnung Europas unter deutscher Herrschaft genannt seien. In einem nächsten Schritt verortet sie die Rechercheergebnisse in mehreren gesellschaftlichen Kontexten, die ihr eine Ausdifferenzierung und eine multiperspektivische Deutung der Befunde ermöglichen. Die gewählten Interpretationsrahmen sind 1) die Kriegspropaganda, für deren Zwecke die Feldpostbriefe benutzt wurden, 2) der durch die Empfänger geschaffene individuelle und gesellschaftliche Resonanzraum der Briefe, 3) das Bild des Ostens in Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg, mit dem die Ergebnisse der Brieflektüre verglichen werden, 4) Geschlechternormen, die das Reinlichkeitsdenken mitprägen, sowie 5) nationale, soziale und religiöse Identifikationsmuster in ihrer Bedeutung für die Intensität und Wirkung des Reinlichkeits- und Ordnungsdiskurses.
Anhand der Briefe und der nationalsozialistischen Feindpropaganda sowie unter Einbeziehung von Befehlen und Berichten aus dem Fronteinsatz untersucht K. Aktualisierungen des Reinlichkeits- und Ordnungsdiskurses in unmittelbaren Kampfhandlungen, primär aber bei Massakern an der Bevölkerung und hier vor allem an Juden. Abschließend wirft sie einen Blick auf die Wahrnehmung Osteuropas in Feldpostbriefen italienischer Soldaten und auf den sowjetischen Diskurs über die deutschen Besatzer und die besiegte deutsche Bevölkerung, um so die Notwendigkeit weiterer Forschungen zu begründen. Erst diese würden eine Antwort auf die Frage ermöglichen, inwiefern der Topos vom „schmutzigen Osten" und die Diffamierung des politischen und militärischen Gegners über den Hygiene- und Ordnungsdiskurs ein „gemeinsames Erbe der europäischen Mentalitätsgeschichte" seit der Aufklärung seien und inwiefern sie ein spezielles deutsches Gepräge erfahren hätten (S. 429).
Insgesamt zeigt die Studie, dass in den Briefen vor allem dann mit „Ordnungsmaßnahmen" argumentiert wurde, wenn eine militärische „Zweckmäßigkeit" von Gewaltaktionen nicht erkennbar war (S. 459), und dass diese Denkmuster den Wehrmachtsangehörigen „das Tötungshandwerk erleichterten, es vor- und nachbereiteten, mit Sinn versahen und insofern ermöglichten" (S. 457). Noch das Nachkriegsbild der „sauberen Wehrmacht" sieht K. von diesem Reinlichkeitsdiskurs geprägt. Ihre Auswertung der Feldpost belegt zudem, welch große Bedeutung koloniales Denken und der Topos der deutschen Kulturmission im Osten für einzelne Militärangehörige hatten. Insofern ist es etwas bedauerlich, dass sich die Studie im Wesentlichen auf den Krieg gegen die Sowjetunion beschränkt und der Polenfeldzug als „Auftakt zum Vernichtungskrieg" (Jochen Böhler) nur am Rande betrachtet wird. Bei einer Erweiterung der Fragestellung um den Polenfeldzug und die deutsche Okkupation in Polen hätte sich manche missverständliche Äußerung vermeiden lassen – so strebten die Nationalsozialisten, anders als K. (S. 171) schreibt, durchaus die „Helotisierung" von Völkern an, wofür Polen ein Beispiel ist – und der Publikation mehr historische Tiefendimension verliehen werden können. Prägten die Reinlichkeits- und Ordnungsvorstellungen doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit dem Bild von der „polnischen Wirtschaft" (vgl. z.B. die sogenannte „Ostmarkenliteratur") den in Deutschland verbreiteten Polendiskurs, der die preußisch-deutsche Herrschaft über einen Teil von Polen rechtfertigen sollte. Anders als von K. angenommen, reichen „die historischen Wurzeln der aggressiven Reinlichkeitsrhetorik gegen den ‚schmutzigen Osten'" (S. 264 f.) daher weiter zurück als bis zum Ersten Weltkrieg. Dieser Einwand verringert aber keineswegs das Gewicht der Publikation, die in sehr differenzierter und anschaulicher Weise die Wirkungsmacht alltagsweltlicher Überzeugungen für die Brutalisierung der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg herausarbeitet.
Diese Rezension erschien zuerst in Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) H. 3.