Die im Gießener Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse“ entstandene Dissertation stellt eine breit angelegte Analyse der medialen Kontroversen dar, die zwischen 1989 und 2008 in Deutschland und Polen rund um die Begriffstrias Flucht, Vertreibung und Umsiedlung geführt wurden. Maren Röger beschreibt die Kontinuitäten und Brüche, die in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehformaten auftraten. Akteure, Argumentationsstrategien und Darstellungsweisen werden in den nationalen und transnationalen Zusammenhängen erläutert.
Die Monographie verortet sich zwischen Zeit-, Medien- und osteuropäischer Geschichte sowie den Kultur- und Kommunikationswissenschaften (S. 15). Mit der aufwändig recherchierten Materialbasis [1] und den multiperspektivischen Analysen zentraler Medienereignisse markiert sie im Bereich der Forschungen zu den deutsch-polnischen Beziehungen einen zukünftigen Ausgangspunkt. Die produktive Verknüpfung text- und bildanalytischer Verfahren bleibt unbedingt zu berücksichtigen und eröffnet neue Perspektiven. Dies wird insbesondere durch die vielen Anschlussfragen deutlich, die Röger stets zu stellen vermag. Die vorgeschlagene Verbindung von „Methoden der Verflechtungs- und Vergleichsgeschichte sowie [...] einer Diskursanalyse“ (S. 13) erscheint jedoch bisweilen problematisch, worauf zurückzukommen sein wird.
Im einleitenden Kapitel kreuzen sich zwei Beobachtungen historiographischer und methodologischer Natur. Zunächst sei es, so Röger, mittlerweile Konsens, nicht mehr von Erinnerungskultur im Singular ausgehen zu können. Vielmehr gelte es, den Begriff zu pluralisieren und von Erinnerungskulturen zu sprechen, die nicht mittels geschlossener Kategorien (Nation, Ethnie, Religion usw.) voneinander abgegrenzt werden könnten. Ferner diagnostiziert Röger eine Schieflage in der Quellenauswahl. So hätten Studien zu Erinnerungsorten im klassischen Sinne zwar neue Erkenntnisse zutage gefördert, dabei aber meist enge Korpora definiert. Als „Träger von Erinnerungskulturen“ (S. 17) würden häufig auch in bilateralen Konstellationen nur Institutionen, Regierungen, Personen usw. behandelt. Medien aber seien nicht als neutraler Kommunikationsraum zu verstehen, sondern müssten als geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Akteure einbezogen werden. Mit diesem Programm gelingt es Röger, Entwicklungen zu beobachten, die in früheren Untersuchungen unsichtbar bleiben mussten.
Einführend skizziert das zweite Kapitel den Fortgang von Flucht/Vertreibung/Umsiedlung in Deutschland und Polen und die Erinnerung bis ins Jahr 1989 in ihrer wechselseitigen Verflechtung (S. 55). Offizielle polnische Darstellungen verwiesen auf die deutsche Kriegsschuld, die alliierten Entscheidungen auf der Potsdamer Konferenz und die polnische Geschichte der „wiedergewonnenen Gebiete“. In der BRD erzählten die einflussreichen Vertriebenenverbände von Leid und Unrecht, was in Polen und der DDR als Revisionismus verurteilt wurde. Auch bezüglich der Opferzahlen gab es heftige Kontroversen.
Für die erste Zeit nach 1989 identifiziert Röger (3. Kapitel) „nationale Monologe“ (S. 56), also eine nationale Selbstbezogenheit der Mediendiskussionen ohne breite gegenseitige Wahrnehmung. In Polen habe eine sachliche Diskussion, welche die Begriffstrias Flucht/Vertreibung/Umsiedlung neu akzentuierte, stattgefunden. Dies bezeichnet die Autorin als „erste Vertreibungsdebatte“ (S. 60), die in den späten 1990er Jahren hinter andere zurücktrat. [2] In Deutschland hätten sich die Konflikte nivelliert, da sich weder konservative Medien in vormaliger Schärfe zur Oder-Neiße Grenze positionierten, noch etwa das Magazin Der Spiegel den Bund der Vertriebenen (BdV) in bekannter Manier angegriffen habe. Für beide Länder konstatiert Röger in dieser Zeit ein wachsendes Interesse an Formaten der Spurensuche, also Portraits von Herkunftsorten.
Die Kapitel vier und fünf beschreiben eine wechselseitige Dynamisierung der Debatten in beiden Ländern. In Deutschland habe seit der Jahrtausendwende ein „Erinnerungsboom“ (S. 79) eingesetzt, als dessen Katalysatoren mehrteilige Dokumentationen in ARD und ZDF sowie die Veröffentlichung der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass (2002) ausgemacht werden. Diese habe vor allem die „Tabuthese“ (ebd.) in den Fokus gerückt, also das wahrgenommene Verbot, deutsches Leid (etwa ,Vertreibung') vor und nach 1945 zu thematisieren. In Polen wurde die deutsche Debatte nun stark rezipiert und verband sich mit einer allgemein verschärften Rhetorik zwischen linkem und rechtem Lager, die vor allem Opfer- und Täternarrative thematisierte (sog. „zweite Vertreibungsdebatte“, u.a. S. 139). Damals habe auch die vom BdV vorgeschlagene Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibung (ZgV) an Relevanz gewonnen. Röger zeigt mediale Eigenlogiken auf, unter anderen der Selbstbezug und die Orientierung an Leitmedien. Die Autorin macht deutlich, dass sowohl Medien, als auch Politiker großen Einfluss auf den Debattenverlauf zu nehmen suchten, mit verschiedenen Intentionen und in unterschiedlichen Allianzen.
Im zweiten Teil der Studie werden Akteure und Darstellungsformen analysiert. Für die „Betroffenen“ (S. 141) macht die Autorin in Kapitel sechs zwei Grundtendenzen aus: die polnischen Medien argumentierten weiter polemisch gegen ein ZgV und deutsche Opfernarrative, wobei sich der Fokus vom BdV auf dessen Vorsitzende Erika Steinbach verengte, die zum „Feindbild“ (S. 156) pars pro toto wurde. Im Zuge der gezeigten Nivellierung der deutschen Debatte wurde es dem Magazin Der Spiegel durch die Mäßigung gegenüber dem BdV möglich, eine eher historiographisch anmutende Haltung gegenüber dem Schicksal der Vertriebenen anzunehmen. Der Zeitzeuge habe an Bedeutung gewonnen. Als „sekundäre Deutungsinstanzen“ (S. 178) identifiziert Röger vornehmlich Historiker und Journalisten, was sie mit dem Umfragen zufolge hohen sozialen Prestige dieser Berufsgruppen erklärt. Diese würden befragt, wenn es darum gehe, Argumente als historische Wahrheiten festzustellen. Röger beschreibt hier zentrale Personen und beobachtet, dass einige – etwa Władysław Bartoszewski – offensichtlich verschiedene „Rollen“ (S. 183) einnahmen, was meist von der Inszenierung der Medienbeiträge abhängig war. Solche Zuschreibungen konnten jedoch in manchen Fällen durch gewisse Attribute (deutsch/polnisch, konservativ/liberal usw.) ins Gegenteil verkehrt werden.
Das achte Kapitel zeigt, dass die Narrative von Flucht/Vertreibung/Umsiedlung in polnischen Darstellungen mit einer Kontextualisierung im Jahr 1939 einsetzten, während deutsche Erzählungen mit dem Vormarsch der Sowjetarmee beginnen. Emotional diskutiert wurden Betroffenen- und Todeszahlen. Die Erzählung der Ereignisse blieb auf beiden Seiten etablierten Mustern treu, wobei sich seit Mitte der 1990er Jahre eine vorsichtige Parallelisierung deutscher und polnischer Schicksale im Moment der West-Bewegung ausmachen lasse. Das neunte Kapitel ist schließlich der Ästhetik der Darstellung von Flucht/Vertreibung/Umsiedlung gewidmet. Sofern von einer deutschen Bildsprache die Rede sein könne, werde diese durch Mutter-Kind-Motive und Flüchtlingstrecks bestimmt. Frappierend der Hinweis, ein großer Teil der visuellen Materialien stamme aus deutschen Wochenschauen. In propagandistischen Zusammenhängen entstandene Bilder würden nun neutral-dokumentarisch verwendet. Röger führt dies auf die Knappheit historischer Aufnahmen und mangelnde Reflexion zurück. Häufiges Motiv seien Naturaufnahmen, besonders im Genre der Spurensuche. Außer in Opfererzählungen finden sich Bilder auch häufig in Polemiken. Das zehnte Kapitel systematisiert schließlich die Ergebnisse der Studie, wobei vor allem die Scharnierfunktion der Medien in deutsch-polnischen Debatten betont wird.
Die vorliegende Studie ist eine umfangreiche Arbeit. Methodologisch betrachtet sind aber einige Momente hervorzuheben, die der Argumentation hinderlich sind. Nun ist Theorie alleine nicht entscheidend, in diesem Falle jedoch lässt der Begriff der Diskursanalyse Fragen offen. Der Hinweis, es gebe dazu eine „weitverzweigte – und oft sehr kritische – Literatur“ (S. 13) ist über jeden Zweifel erhaben, aber gerade die Polyvalenz des Begriffs ,Diskurs' macht eine Eingrenzung notwendig. In diesem Zusammenhang scheinen manche Einteilungen wie ,Qualitäts- vs. Boulevardpresse' oder ,Zeitzeugen vs. Historiker' bzw. ,Laien- vs. Historiker' (S. 268) hinsichtlich der Glaubwürdigkeit zu starr konzipiert, was durchaus beobachtete Zwischenpositionen und Übergangsszenarien eher als Kuriosität denn als Prinzip erscheinen lässt. So muss etwa das Lob einer Sendung des stets missbilligend als „ZDF-Haushistoriker“ bezeichneten Guido Knopp an einer Stelle die Argumentation schwächen (S. 269-1). Auch die Bewertung Bartoszewskis (S. 183) oder etwa Karl Schlögels (S. 180) ließe sich schärfen, würden die von den Akteuren gespielten „Rollen“ weniger hermetisch verstanden werden (etwa S. 184, 277-8). Das Prestige der Historiker bzw. Wissenschaftler im Allgemeinen sollte nicht vorschnell mit einem tatsächlich wahren Sprechen enggeführt werden. Angesichts dessen wäre zu prüfen, ob es nicht eher lohne mehr Gewicht auf die Untersuchung von ,Figuren' zu legen, etwa die des ,Wissenschaftlers' oder des ,(Boulevard)journalisten'. [3] Weder Geschichtsfernsehen à la Guido Knopp, noch Sensationsjournalismus à la Bild und Fakt bedürfen besonderen Schutzes. Prinzip jeder (historischen) Diskursanalyse müsste aber sein, den Ort der Äußerungen (wissenschaftliche, journalistische, literarische usw.) ohne vorgängige, normative Einteilung zu bestimmen. Die Idee, Medien als selbstständige Akteure zu begreifen, verliert an Kraft, wenn solchen Kategorisierungen zu starker Einfluss eingeräumt wird und schließlich einigen Medien lediglich „politische Sekundan[z]“ (S. 314) attestiert werden kann. Die sehr spannenden Erkenntnisse, die Maren Röger vorstellt, würde das keineswegs widerlegen, womöglich aber weiter schärfen. In der Erweiterung des Akteursbegriffs stellt die Arbeit jedoch einen innovativen Beitrag zur zeitgeschichtlichen Erforschung transnationaler Debatten dar. Die vielfältigen Überschneidungen, wie auch getrennt verlaufende Trends nationaler und deutsch-polnischer Diskussionen werden fortan nicht mehr in engerer Anlage untersucht werden können, Überlegungen zu weiteren möglichen Beteiligten – etwa zivilgesellschaftlichen Initiativen – stellen sich beinahe von selbst an. Zudem eröffnen sich Perspektiven für Fragen zur Bedeutung von Gender, Ökonomie, des Rechts oder Konzeptionen der Wahrheit in kommunikativen Situationen. Die detailreiche Materialsammlung wird außer für Historiker auch für soziologische oder politologische Zwecke interessant sein. Dafür spricht auch die übersichtliche Bibliographie, die jedoch die in Fußnoten zitierten Zeitungsartikel leider nicht noch einmal zum Nachschlagen versammeln kann. Anschlussfähig ist das Buch auch für medienwissenschaftliche Arbeiten, wozu unter anderem acht Farbabbildungen und deren mediensoziologische Analysen beitragen.
[1] Folgende deutsche Presseerzeugnisse wurden für den gesamten Zeitraum ausgewertet: Der Spiegel, Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Bild. Das polnische Sample wurde aus Polityka, Wprost, Newsweek Polska, Rzeczpospolita, Gazeta Wyborcza, Dziennik und Fakt sowie Super Express gebildet. An einigen Kulminationspunkten der Debatten wurde die Auswahl um regionale Titel erweitert. Ferner wurden etwa fünfzig deutsche und dreißig polnische TV-Beiträge ausgewertet. In beiden Ländern fehlten umfassende Programmdatenbanken, Teilarchive seien nur schwer zugänglich. Dies – und die Beobachtung, historisch-dokumentarische Inhalte würden vornehmlich in staatlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Sendern ausgestrahlt – führte zu einer Konzentration auf die polnischen Kanäle TVP 1 und TVP 2 bzw. die deutschen Anstalten ARD und ZDF. Materialien aus dem Internet, sowie Sachbücher und Romane wurden ergänzend hinzugezogen.
[2] Besonders prominent die Debatte um das Buch Nachbarn. Der Mord an den Juden in Jedwabne von Jan T. Gross, München 2001.
[3] Vgl. etwa Martin Kohlrausch, Katrin Steffen, Stefan Wiederkehr (Hg.), Expert Cultures in Central Eastern Europe: The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück 2010.