Bereits 2011 wurde das polnische Original eines Sammelwerkes herausgegeben, das ein gemeinsames, deutsch-polnisch-tschechisches wissenschaftliches Unternehmen besiegelte. [1] 2015 erschien die deutschsprachige Ausgabe in der Schriftenreihe des Oldenburger Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa unter dem Titel Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Das Projekt erstreckte sich über zehn Jahre und durchlebte immer wieder folgenreiche Veränderungen, und der nun mehrere Kilo schwere Band erinnert eher an einen Ausstellungskatalog bzw. einen aufwendigen Bildband. Die ursprüngliche Idee, ein Handbuch der Geschichte Oberschlesiens für Schulen mit entsprechenden didaktischen Hinweisen bzw. ein Werk der „eigenen" Regionalgeschichte für die Vertreter der deutschen Minderheit in den heutigen Woiwodschaften Oppeln und Schlesien zu schaffen, wurde verworfen. Stattdessen entstand ein Geschichtsband, an dem sich mehr als zwanzig Historiker aus Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik beteiligten. Durch ihn gehört nun die Geschichte Oberschlesiens zum Kreis „moderner multilateraler und multidisziplinärer europäischer Regionalgeschichten" (Thomas Wünsch: Zum Geleit, S. 8); möglicherweise hat der Band auf diesem Gebiet sogar eine Musterfunktion inne.
Das innovative Konzept dieses Bandes liegt erstens darin, dass nach 1989 zum ersten Mal die Chance bestand, die Geschichte dieser Region von den bisherigen national geprägten Einzelsichtweisen zu lösen und so eine exklusive Betrachtungsweise zu überwinden. Zweitens gelingt es dem Band und damit der historischen Schlesienforschung, den cultural turn der modernen Geisteswissenschaften der letzten Jahrzehnte für sich in Anspruch zu nehmen. Dies bedeutet nicht nur die Beherrschung wissenschaftlicher Instrumente, sondern vor allem die Verortung Oberschlesiens in der modernen Wissenschaftslandschaft als Region, die an verschiedenen – etwa dynastischen, staatlichen, ethnischen, sprachlichen oder konfessionellen – Kulturtraditionen einen lebendigen Anteil hat, „in der sich mehrere kulturelle Substrate überlagern – und wo es deshalb zu ungewöhnlich vielen Neukombinationen kultureller Art kommt" (S. 8). Drittens betont der Passauer Historiker Thomas Wünsch in seinem Geleitwort, dass eine internationalisierte (Ober-)Schlesienforschung mit dem Band zwar ihren Anfang nimmt, weiterhin aber noch ein Postulat der Wissenschaft bleibt. Umso wichtiger ist das vorliegende Werk, als „es den ersten ernsthaften Versuch darstellt, die dreifach verflochtene Geschichte Oberschlesiens – als Teil der deutschen, polnischen und tschechischen Kultur – auch als Resultat der drei quasi zuständigen nationalen Historiografien erscheinen zu lassen" (S. 9).
Die drei Projektleiter – Joachim Bahlcke, Dan Gawrecki und Ryszard Kaczmarek – verweisen in ihrer Einführung auf die Gegebenheiten des Umbruchs in Oberschlesien nach 1989, die es überhaupt erst möglich machten, in den drei beteiligten Ländern ein derart umfangreiches Forschungsprojekt durchzuführen, an dem zahlreiche Institutionen, vor allem das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gliwice und die historischen Institute der Universitäten Stuttgart, Katowice und Opava, mitwirkten.
Bei einem solchen Mammutprojekt (über 700 großformatige Seiten) ist es nicht einmal möglich, alle Autoren und Artikel zu nennen, geschweige denn ihre Beiträge einzeln zu würdigen. Den größten Teil des Werkes nimmt die „politische Geschichte" der Region ein, wichtige Bestandteile sind aber auch die Wirtschafts- und Kulturgeschichte, darunter wegweisende Artikel über die oberschlesische Kunstgeschichte, Alltagskultur und Literatur. Ferner wird auf die unterschiedlichen Perspektiven bei der Bewertung historischer Kontroversen eingegangen – so z.B. auf die polnische und deutsche Sicht zum Stichwort „Germanisierung und großpolnische Agitation im 19. Jahrhundert" oder auf den polnischen und tschechischen Standpunkt im Konflikt um das Teschener Schlesien. Mehrere Artikel in diesem Teil wurden von deutschen und polnischen Autoren gemeinsam verfasst, etwa der zur Bedeutung des St. Annaberg oder zum Themenkomplex „Flucht, Vertreibung, Umsiedlung", womit das Werk dem Anspruch einer „gemeinsamen Sicht" auf die Geschichte gerecht wird.
Über die methodischen Herausforderungen, den Raum Oberschlesien zu definieren, schreibt Joachim Bahlcke in seinem Beitrag: „Oft bleibt dabei […] ungeklärt und auch ungefragt, wie der Untersuchungsraum Oberschlesien eigentlich abgegrenzt wird, ob er historischen, politischen, administrativen, wirtschaftsgeografischen oder anderen Vorgaben folgt und in welchem Maße die Bewohner dieses Raumes tatsächlich in oder auch außerhalb dieses Gebietes agierten und interagierten. Das ist insofern kritisch zu sehen, weil das jeweilige Raumkonzept nicht nur zwangsläufig die Fragestellung, die Auswahl des Quellenmaterials und die Einzelanalyse beeinflusst, sondern in aller Regel auch über die tatsächlichen Befunde und Ergebnisse entscheidet." (S. 27). Sein Beitrag fasst die wichtigsten, vor allem politischen Grenzentwicklungen des oberschlesischen Raumes seit dem Mittelalter zusammen und stellt die unterschiedlichen national-historischen Perspektiven hierauf vor. Besonders spannend wird es im 19. und 20. Jahrhundert mit den zahlreichen Grenzverschiebungen und kürzeren oder längeren territorialen Zusammenhängen bis in die Gegenwart. Bahlcke schreibt: „Was unter Oberschlesien jeweils verstanden wurde bzw. was Menschen als spezifisch oberschlesisch empfanden, war zu unterschiedlichen Zeiten etwas anderes. […] Oberschlesien ist ein gutes Beispiel für eine Grenzregion im Spannungsfeld mehrerer Mächte, die allesamt gegenüber ihren Nachbarn Territorialforderungen erhoben und dazu auch eine entsprechende Sprachpolitik betrieben – durch das Ausklammern des Begriffs Oberschlesien einerseits, mit dem man die Integration von Neuerwerbungen mental unterstreichen wollte, oder umgekehrt durch das Festhalten an älteren Raumbegriffen, obwohl bestimmte Gebiete gar nicht mehr zum eigenen Herrschaftsbereich gehörten." (S. 43) Besonders markante Beispiele dafür liefert die jüngste Geschichte Polens, in der nach 1945 der oberschlesische Raum mehrmals politisch-administrativ neu geordnet wurde, bis der historische und kulturelle Begriff „Oberschlesien" in der Zeit der Volksrepublik Polen (1945–1989) fast vollständig verschwand. Besonders schwerwiegend für die Region war die 1945 getroffene Entscheidung, sie mit dem sog. Dombrowaer Industriegebiet zusammenzuschließen, die bis heute Bestand hat. Oberschlesische Spuren können so gegenwärtig nur noch von Spezialisten identifiziert werden, die sich gut in der Regionalgeschichte auskennen. Für die meisten Polen gehören heute Dąbrowa Górnicza, Będzin oder Sosnowiec ebenso zum „Oberschlesischen Industrierevier" wie Gliwice, Bytom oder Katowice. Daran hat auch die letzte Territorialreform von 1998 nichts geändert.
Auch bleibt der Begriff „Oberschlesien" bis heute labil: Während er in Deutschland nur noch im historischen Kontext gebraucht wird, sprechen die Tschechen in der Regel vom Teschener Schlesien und die Polen von „Schlesien", auch – und vor allem – wenn sie Oberschlesien meinen (etwa in den Bezeichnungen Woiwodschaft Schlesien – Województwo śląskie, Schlesisches Museum – Muzeum Śląskie, Schlesische Oper – Opera Śląska). Oberschlesien als „Górny Śląsk" wird im Alltagsgebrauch langsam wieder lebendig, seitdem es die Bewegung zur Autonomie Schlesiens (sic!) gibt, die seit etwa 15 Jahren versucht, die angestammte oberschlesische Bevölkerung auf ihre regionale Identität einzuschwören, sie politisch zu organisieren und kulturell von Deutschen und Polen (und auch Tschechen) abzugrenzen. Auf eine ähnlich spannende Grenzgeschichte können auch die kirchlichen Territorialeinheiten, die Diözesen, zurückschauen: Die letzte Änderung vollzog sich 1992, als in Katowice eine kirchliche Provinz geschaffen wurde, zu der das Erzbistum Katowice und die Bistümer Opole und Gliwice gehören.
In diesem thematischen Zusammenhang sei hier noch auf den Text von Ryszard Kaczmarek verwiesen, der sich der Bevölkerung Oberschlesiens in seiner demografischen Entwicklung, aber auch der nationalen wie konfessionellen Identität annähert. Dan Gawrecki schließlich ergänzt Kaczmareks Ausführungen um die historischen und zeitgenössischen Mäander der kollektiven oberschlesischen Identitäten.
Das Werk führt insgesamt nicht nur Forschungsergebnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte zusammen, es enthält darüber hinaus auch zahlreiche interdisziplinär angelegte Artikel zur Geschichte und Gegenwart der gesamten oberschlesischen Region. Aufgrund ihrer Ausführlichkeit und ihres Detailreichtums verdienen die weiteren Bereiche, etwa zu den politischen, sozialen, gesellschaftlichen oder kunstgeschichtlichen Entwicklungen der Region, aber eigene Besprechungen durch andere Rezensenten.
Anmerkungen:
[1] Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hrsg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu. Gliwice: Dom Współpracy Polsko-Niemieckiej 2011.
Weiterführende Literatur:
Marcin Wiatr: Literarischer Reiseführer Oberschlesien. Fünf Touren durch das barocke, (post)industrielle, grüne, mystische Grenzland. Potsdam 2016.
Marcin Wiatr: Oberschlesien und sein kulturelles Erbe. Erinnerungspolitische Befunde, bildungspolitische Impulse und didaktische Innovationen. Göttingen 2016.
Bernard Linek, Andrzej Michalczyk: Leksykon mitów, symboli i bohaterów Górnego Śląska XIX – XX wieku. Opole 2015.
Sebastian Rosenbaum: Górny Śląsk i Górnoślązacy: wokół problemów regionu i jego mieszkańców w XIX i XX wieku. Katowice 2014.
Norbert Conrads: Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien. Berlin 1994.
Citation:
Dr. Andrzej Kaluza: Review for: Joachim Bahlcke, Dan Gawrecki, Ryszard Kaczmarek (Hg.):: Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2015, in: https://www.pol-int.org/en/node/3383#r8247.