Vom 3. bis 5. Dezember 2015 fand am Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut am Collegium Polonicum in Słubice die internationale und interdisziplinäre Tagung
Deutscher und polnischer Katholizismus seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Bilanz und Perspektiven statt. Die Tagung wurde in Kooperation der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, des Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz und des katholischen Studentenzentrums
Parakletos in Słubice veranstaltet. Gefördert wurde das Vorhaben wurde von
Renovabis, von der
Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und vom Erzbistum Berlin.
Anlass der Tagung war der 50. Jahrestag des Briefwechsels zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen im Herbst 1965. Der Briefwechsel führte zu einem Umbruch im Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl er zunächst im kommunistisch regierten Polen und in den beiden deutschen Staaten auf Kritik stieß. Heute gilt der Briefwechsel unstreitig als Meilenstein in der Erneuerung der Beziehungen zwischen den beiden Völkern. Ziel der Tagung war die wissenschaftliche Reflexion über den Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Polen. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach Erfolgen, Schwierigkeiten und Zukunftsperspektiven der deutsch-polnischen Nachbarschaft im kirchlichen Bereich. Es handelte sich somit nicht nur um eine Rekonstruktion der Ereignisse von vor 50 Jahren, sondern um die Wirkung des Briefwechsels in einem breiteren Kontext des deutsch-polnischen Kulturtransfers im religiösen Raum. Die Tagung bildete eine Fortsetzung von zwei im Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut bereits realisierten Forschungsprojekten. Deren Ergebnisse wurden 2014 in zwei Bänden veröffentlicht: Mäander des Kulturtransfers. Polnischer und deutscher Katholizismus im 20. Jahrhundert und Religion im transnationalen Raum. Raumbezogene, literarische und theologische Grenzerfahrungen aus deutscher und polnischer Perspektive.
Die Tagung bestand aus drei thematischen Teilen. Der erste Teil widmete sich dem Briefwechsel und dessen Bedeutung im historischen Kontext; der deutsch-polnische Versöhnungsprozess wurde hier auch in jüdischer, evangelischer und europäischer Perspektive betrachtet. Im Fokus des zweiten – zentralen – Teils stand der deutsch-polnische Kulturtransfer im religiösen Raum. Der dritte Teil bot Einblicke in die Praxis der deutsch-polnischen Beziehungen. Die Tagung war international und interdisziplinär besetzt. Die Referentinnen und Referenten kamen aus der Geschichtswissenschaft, aus der evangelischen und katholischen Theologie, der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie der Soziologie.
Den Auftakt des ersten Teils bildete der Vortrag von Severin Gawlitta (Essen), der den Briefwechsel der Bischöfe im Jahre 1965 aus historischer Sicht beleuchtete. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen standen die Erwartungen des polnischen Episkopats bei der Abfassung der Versöhnungsbotschaft.
Den Rahmen des Vortrags von Lothar Quinkenstein (Poznań) über die jüdische Perspektive bildete Jerzy Ficowskis Gedicht Miriams Himmelfahrt von der Straße im Winter 1942. Nach der Darstellung einiger prägnanter Beispiele aus Literatur und Film konstatierte der Referent, dass der Briefwechsel aus dem Jahre 1965 eine theologische Lücke enthalte, denn die Schoah sei dort zwar kurz erwähnt, das polnisch-jüdische und deutsch-jüdische Verhältnis würden aber nicht weiter erörtert.
Ulrike Link-Wieczorek (Oldenburg) betrachtete den Briefwechsel aus protestantischer Sicht, wobei den Ausgangspunkt des Vortrags persönliche Erfahrungen der Referentin darstellten. Vor diesem Hintergrund beleuchtete sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den evangelischen und katholischen Versöhnungsinitiativen. Zum Schluss nahm die Referentin Bezug auf das heutige Europa. Nach ihrer Einschätzung benötige das heutige Europa eine kirchliche Initiative, die zeigen würde, dass Grenzen zwischen den Völkern durch Solidarität und Vergebung im Rahmen einer ökumenischen Gemeinschaft überwindbar seien.
Im anschließenden Vortrag betrachtete Urszula Pękala (Mainz) deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zur deutsch-französischen Aussöhnung und stellte territoriale, politische, wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Gründe der Asymmetrie zwischen den beiden Versöhnungsprozessen dar.
Der zweite Themenblock widmete sich dem deutsch-polnischen Kulturtransfer im religiösen Raum. Anna Kochanowska-Nieborak (Poznań) zeigte, wie das Problem der Stereotypisierung die Entwicklung positiver Kontakte zwischen Polen und Deutschen beeinflusst und nicht selten beeinträchtigt. Die negative Auswirkung von Stereotypen und Vorurteilen werde durch die Medien gefestigt.
Gregor Feindt (Bremen) zeigte am Beispiel der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung der Erinnerung für den Versöhnungsprozess. Diese sei von den in der jeweiligen sozialen Gruppe herrschenden Narrationen determiniert und spiele eine wichtige Rolle für die Nachgeborenen, denen die ursprüngliche Konflikterfahrung fehle.
Im anschließenden Referat nahm Rafał Żytyniec (Ełk) die Kulturlandschaft Masurens als Teil der „Wiedergewonnenen Gebiete" in den Blick. Masuren sei schon seit der Reformation stark von einem Mosaik verschiedener Konfessionen und Religionen geprägt. Die territorialen Verschiebungen und damit verbundenen Umsiedlungen nach 1945 stellten eine Grundlage für den Kulturtransfer in diesem Bereich dar.
Fragen des kulturellen Austausches im religiösen Bereich wurden im Rahmen des nächsten Panels in den beiden nachfolgenden Vorträgen fortgesetzt. Marek Jakubów (Lublin) schilderte seine Beobachtungen zu Unterschieden zwischen religiöser Lyrik sowie ihrer Rezeption in Polen und in Deutschland. Dem historischen Hintergrund sowie der konfessionellen Lage in den beiden Ländern komme dabei eine entscheidende Bedeutung zu.
Am Beispiel der Publizistik nach 1989 stellte Szymon Bojdo (Słubice) die deutsch-polnischen Beziehungen als einen wichtigen und immer noch aktuellen Gegenstand der Debatte dar. Im Mittelpunkt der Analyse standen die polnische katholischen Zeitschriften „Tygodnik Powszechny" und „Więź".
Der Kulturtransfer aus literarischer Sicht wurde in den drei letzten Referaten dieses Teils weiter thematisiert, die sich nun schwerpunktmäßig der Prosa und dem Drama zuwandten. Aleksandra Chylewska-Tölle (Słubice) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf den Spruch „Ecclesia semper reformanda" im Kontext der polnischen und deutschen Gegenwartsprosa. Die von ihr angeführten Beispiele zeigten die Kirche als eine Institution, die stets reformbedürftig sei, und zwar nicht nur in struktureller Hinsicht, sondern auch im Bereich der geistlichen Erneuerung.
Im Fokus des anschließenden Vortrages von Christian Heidrich (Heidelberg) stand das Pilgern – umschrieben mit dem Motto „Niemand kommt unverändert zurück". Literarische Darstellungen von Pilgerwegen, unter anderem nach Santiago de Compostela, Częstochowa, Jerusalem, Medjugorje und Zabłudów, belegten die große Popularität von Wallfahrten im heutigen Europa.
Die Analyse der Rezeption des Dramas Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth (1963) in Polen und in Deutschland war Gegenstand des Vortrags von Anna Szyndler (Częstochowa). Die kritisierte passive Haltung von Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkrieges stand dabei im Mittelpunkt. Die Referentin beleuchtete historische und politische Faktoren, die zu Überinterpretationen und Verunstaltungen des Dramas geführt hatten.
Den Referaten folgte am Abend des zweiten Konferenztages ein Podiumsgespräch. Die Diskussionsteilnehmer (Vertreter drei christlicher Konfessionen und der Medien) konzentrierten sich auf Herausforderungen, vor die sich gegenwärtig Katholiken aus Polen und Deutschland gestellt sehen (z.B. die Säkularisierung). Die Teilnehmer sprachen u.a. über Formen des Dialogs der katholischen Kirche mit anderen Kirchen und mit religiös indifferenten Kreisen.
Am dritten und letzten Tag der Konferenz befassten sich die Referentinnen und Referenten mit den praktischen Aspekten der deutsch-polnischen Annäherung im religiösen Bereich. Justyna Kijonka (Katowice) konzentrierte sich auf die Erfahrungen von Aussiedlern und Spätaussiedlern aus Oberschlesien mit der Polnischen Katholischen Mission in Deutschland einerseits und dem deutschen Katholizismus andererseits. Die Referentin schilderte ihre Forschungsergebnisse zu den Unterschieden zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Polen hinsichtlich religiöser Praktiken.
Jörg Lüer (Berlin) thematisierte die Geschichte und Aktivitäten der Maximilian-Kolbe-Stiftung sowie ihre Rolle in Versöhnungsprozessen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und nach anderen Konflikten (z.B. nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien). Dabei betonte er, dass in der Versöhnungsarbeit die Erfahrungen aus den deutsch-polnischen Beziehungen für andere Völker fruchtbar gemacht werden können.
Manfred Deselaers (Oświęcim) stellte die Rolle des Zentrums für Dialog und Gebet in Oświęcim im trilateralen deutsch-polnisch-jüdischen Gespräch vor. Das Ziel des Zentrums sei es, das Vertrauen zwischen den sich einst im Konflikt befindenden Parteien wiederaufzubauen, wobei das gegenseitiges Kennenlernen, die vertiefte Reflexion sowie das Gedenken an die Opfer von zentraler Bedeutung seien.
Adam Kalbarczyk (Poznań) präsentierte die Geschichte und Aktivitäten der Seelsorge für polnische Katholiken in Deutschland.
Anschließend schilderte Andrzej Draguła (Szczecin) den wissenschaftlichen Austausch im Bereich der Theologie zwischen Polen und Deutschland.
Im letzten Referat berichtete Tadeusz Kuźmicki (Gościkowo-Paradyż) über die ökumenische Zusammenarbeit und die grenzüberschreitenden Kontakte Studierender aus Słubice und Frankfurt (Oder).
Zum Abschluss fasste Aleksandra Chylewska-Tölle die Themen der Tagung zusammen. Angeregte Diskussionen, häufig auch während der Kaffeepausen, bestätigten die Aktualität und Komplexität religiöser Fragestellungen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen.
Eine Publikation der Tagungsergebnisse wird vorbereitet.
Konferenzübersicht:
Donnerstag, 3. Dezember
Aleksanda Chylewska-Tölle (Deutsch-Polnisches Forschungsinstitut am Collegium Polonicum, Słubice), Urszula Pękala (Leibniz Institut für Europäische Geschichte, Mainz): Einführung in die Tagung
Teil I: Der Briefwechsel und seine Wirkung im historischen Rückblick I
Panel 1
Severin Gawlitta (Bistumsarchiv, Essen): Geschichte der Korrespondenz der polnischen und deutschen Bischöfe aus der Perspektive neuester Forschungen
Lothar Quinkenstein (Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań): Jerzy Ficowskis "Miriams Himmelfahrt von der Straße im Winter 1942" – Überlegungen zum Fokus des "deutsch-polnischen" Paradigmas aus jüdischer Perspektive
Freitag, 4. Dezember
Der Briefwechsel und seine Wirkung im historischen Rückblick II
Panel 2
Ulrike Link-Wieczorek (Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg): Deutsch-polnische Versöhnung aus protestantischer Perspektive
Urszula Pękala (Leibniz Institut für Europäische Geschichte, Mainz): Deutsch-polnische und deutsch-französische Versöhnung im europäischen Kontext
Teil II. Deutsch-polnischer Kulturtransfer im religiösen Raum
Panel 3
Anna Kochanowska-Nieborak (Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań): Zur Rolle von Stereotypen im Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen
Gregor Feindt (Universität Bremen): „Vergeben, nicht Vergessen": Erinnerung als Ressource der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen
Rafał Żytyniec (Historisches Musem, Ełk): Der Kulturtransfer im religiösen Bereich im spezifischen Kontext der „Wiedergewonnenen Gebiete"
Panel 4
Marek Jakubów (Katholische Universität Lublin): Religiöse Schriftsteller in Deutschland und Polen
Szymon Bojdo (Deutsch-Polnisches Forschungsinstitut am Collegium Polonicum, Słubice): Polnische katholische Publizisten über die deutsch-polnische Versöhnung nach 1989
Panel 5
Aleksandra Chylewska-Tölle (Deutsch-Polnisches Forschungsinstitut am Collegium Polonicum, Słubice): Ecclesia semper reformanda als Motiv der deutschen und polnischen Gegenwartsprosa
Christian Heidrich (Heidelberg): "Unterwegs im Namen des Herrn" – Das Pilgermotiv in neuer deutscher und polnischer Literatur
Anna Szyndler (Jan-Długosz-Akademie, Częstochowa): Die Shoah als ein deutsch-polnisches Problem am Beispiel der Rezeption des Dramas „Der Stellvertreter" (1963) von Rolf Hochhuth im kirchlichen Kontext
Podiumsdiskussion: Deutsche und polnische Katholiken angesichts der Herausforderungen der Gegenwart
Weihbischof Matthias Heinrich (Erzbistum Berlin), Tomasz Kycia (Rundfunk Berlin Brandenburg), Zbigniew Nosowski (Quartalschrift „Więź", Warszawa), Pastor Wolfgang Iskraut (Cottbus/Frankfurt O.), Pater Georg Langosch (Russisch-Orthodoxe Gemeinde, Frankfurt O.)
Moderation: Andrzej Draguła (Universität Szczecin)
Samstag, 5. Dezember
Teil III. Berichte aus der Praxis der deutsch-polnischen Annäherung im religiösen Bereich
Panel 6
Justyna Kijonka (Schlesische Universität, Katowice): Aussiedler und Spätaussiedler aus Oberschlesien zwischen der Polnischen Katholischen Mission und der katholischen Kirche in Deutschland
Jörg Lüer (Maximilian-Kolbe-Stiftung, Berlin): Die Maximilian-Kolbe-Stiftung im Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung
Manfred Deselaers (Zentrum für Dialog und Gebet, Oświęcim): Zentrum für Dialog und Gebet im deutsch-polnischen und jüdisch-christlichen Dialog
Panel 7
Adam Kalbarczyk (Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań): Seelsorge für polnische Katholiken in Deutschland
Andrzej Draguła (Universität Szczecin): Deutsch-polnischer wissenschaftlicher Austausch im Bereich der Theologie
Tadeusz Kuźmicki (Priesterseminar, Gościkowo-Paradyż): Katholische Studierendengemeinde im deutsch-polnischen Grenzraum