Im Fokus des Sammelbandes „Rok 1966. PRL na zakręcie" stehen Nationalismus und Geschichtsbilder in der Volksrepublik Polen während der 1960er-Jahre. Der Verdienst der Autorinnen und Autoren besteht vor allem darin, sich dieser Thematik aus einer ganz anderen Perspektive anzunähern, als dies in den einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen geschieht. Die Beiträge des Bandes sind dabei nicht von Historikern verfasst, sondern von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturwissenschaftlichen Instituts (Instytut Badań Literackich) der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN). Sie ziehen primär zeitgenössische Literatur und Filme zur Analyse heran. Vor allem aber brechen sie mit der – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen – immer noch weit verbreiteten Schwarz-Weiß-Dichotomie, wonach sich in der Volksrepublik Polen Partei und Bevölkerung konfrontativ gegenüberstanden (My i Oni).
Mehrfach betonen die Autorinnen und Autoren dagegen, dass der Nationalismus in der Volksrepublik nicht nur von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgegangen und auch nicht nur instrumentalisierend eingesetzt worden sei (S. 395). Damit grenzen sie sich u. a. von dem Historiker Marcin Zaremba ab, der mit seinem Buch „Komunizm, legitymizacja, najconalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce" eine wichtige Pionierarbeit zur Erforschung des Nationalismus in der PRL leistete (Deutsch: Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944–1980). Wie der vorliegende Band zeigt, ist aus Sicht der Autorinnen und Autoren mit Zarembas mittlerweile zum Standardwerk gewordenen Buch aber noch längst nicht das letzte Wort zu diesem Thema gesprochen.
Besonders pointiert bringt Mitherausgeber Grzegorz Wołowiec seine Kritik an der polnischen Geschichtswissenschaft auf den Punkt. Er bemängelt, der Großteil der PRL-Historiker erblicke lediglich in den Kommunisten die Träger des zeitgenössischen Nationalismus, nicht aber in den Akteuren der Opposition. So werde der Name Kardinal Wyszyńskis in Zarembas Buch nur ein einziges Mal erwähnt. Die polnischen Historiker ordneten den März 1968, so Wołowiec, vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, als eine Episode in der Geschichte des Kommunismus ein. Wołowiec ist zuzustimmen, wenn er schreibt, man mache es sich reichlich bequem und weiche den Problemen aus, wenn man suggeriere, der immense Antisemitismus des Jahres 1968 habe nichts mit Akteuren wie der Kirche oder dem nationalen Lager zu tun. Hier zeige sich, dass die polnische Geschichtsschreibung selbst in einem „nationalen Paradigma gefangen" sei und daher nicht die Kraft aufbringe, sich gewissen Fragen zu stellen. (S. 40–41, 44)
Die Rolle der Kirche analysiert Tomasz Żukowski in seinem Aufsatz über den Konflikt zwischen Partei und Kirche anlässlich der 1000-Jahrfeier der Christianisierung Polens im Jahr 1966. Er meint, die Auseinandersetzung zwischen Parteichef Gomułka und Kardinal Wyszyński sei nicht nur ein Kampf zweier Akteure mit unterschiedlichen Weltanschauungen um die geistige Vorherrschaft im Land gewesen, sondern sie hätten letztendlich in den gleichen nationalen Kategorien gedacht. Beide hätten zunehmend ein exklusives Nationalverständnis entwickelt. Für die Kirche hätten die Kommunisten nicht zur Nation gehört und umgekehrt und beide hätten ihr Nationalverständnis klar auf ein Feindbild ausgerichtet. Dieses Denken in Feindbildern und vom Ausschluss des anderen sei eine Steilvorlage für die Eruption des Antisemitismus 1968 gewesen. (S. 17–18)
Aber zur Analyse des Nationalismus in der PRL wird nicht nur die Kirche ins Visier genommen. Drei Aufsätze untersuchen den publizistischen Werdegang der Oppositionellen Leszek Kołakowski, Jacek Kuroń und Karol Modzelewski. Michał Czaja schreibt, linke Oppositionelle hätten sich in den 1960er-Jahren vom Internationalismus ab- und der nationalen Frage in Form des Diskurses über die polnische Unabhängigkeit zugewandt. Bestes Beispiel sei Karol Modzelewski, der schon vor dem März 1968 glaubte, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass Kuroń und er in ihrem offenen Brief an die Partei keinerlei nationale Aspekte angesprochen hatten. Modzelewskis Wende zum Nationalismus zeige sich auch noch an seiner Autobiographie aus dem Jahre 2013. In ihr fehle nicht nur jegliche Reflexion über den Antisemitismus von 1967/68, sondern Gomułka und Moczar seien laut Modzelewski sogar falsche Patrioten (S. 162–163, 167).
Ein weiterer Strang des Buchs ist die Geschichtspolitik bzw. sind die Geschichtsbilder der 1960er-Jahre. Besonders interessant ist der Aufsatz von Aránzazu Calderón Puerto und Tomasz Żukowski über Kinofilme, in denen der Zweite Weltkrieg verarbeitet wird. Bei der Lektüre dieses Aufsatzes entsteht der Eindruck, als seien alle Aspekte, um die in Polen in Fragen des Antisemitismus in den letzten Jahrzehnten gerungen wurde, im Kino der 1960er-Jahre schon einmal präsent gewesen: vom Verhalten der Polen gegenüber den Juden im Holocaust, von der geleisteten Hilfe und den Erpressungen, dem Raub jüdischer Wertgegenstände bis hin zur Tötung; oder von der Attraktivität des kommunistischen Ideals für einige polnische Juden, die dem Antisemitismus entfliehen wollten.
Die beiden Autoren untersuchen unter anderem die Verfilmung von Zofia Nałkowskas Erzählung „Przy torze kolejowym" durch Andrzej Brzozowski (1963). Der Film zeigt in der Schlussszene eine schwer verletzte Jüdin, um die polnische Bürger herumstehen. Die Kameraeinstellung ist dabei so gewählt, dass der Kinozuschauer die „Bystander" (Raul Hilberg) aus der Perspektive des Opfers betrachtet. Er schaut auf eine gaffende und distanzierte Menge. Niemand der Umstehenden blickt das Opfer direkt an, einige reichen der Frau eine Zigarette oder Milch, aber niemand entschließt sich wirklich, ihr zu helfen und keiner spricht mit ihr. Es ist kein Deutscher im Bild zu sehen, die Menge fürchtet und kontrolliert nur sich selbst. Einer der Umstehenden erschießt die Frau schließlich auf ihr Bitten hin.
Brzozowski hielt, wie die Autoren betonen, den polnischen Kinobesuchern damit einen Spiegel vor, und zeigte ihnen, wie sich die Zuschauer des Holocausts verhielten. Dies konfrontierte die polnischen Betrachter des Films mit ihrem Selbstbild von sich als Opfer und Helden. Doch die polnische Zensurbehörde verhinderte durch ein Filmverbot überhaupt die Möglichkeit zur öffentlichen Auseinandersetzung damit. Der Film wurde nicht zugelassen und erst im Oktober 1992 im Spätprogramm des öffentlichen Fernsehens ausgestrahlt (S. 247–251).
Die Analyse von Kinofilmen erweist sich methodisch als Volltreffer. Sie zeigt, was zumindest einige Menschen in den 1960er-Jahren bereits (oder vielleicht besser: noch) über die polnisch-jüdischen Beziehungen im Krieg wussten. Wir sollten darüber nachdenken, welche anderen Quellen das ebenfalls leisten könnten. Die Untersuchung verdeutlicht außerdem, dass der Film ein mögliches Mittel ist, sich dieses komplizierten Themas anzunehmen und sie belegt, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Geschichtsbildern zu jener Zeit nicht erwünscht war. Last but not least lässt sich konstatieren: Wer die nationalistische Geschichtspolitik im Polen der Gegenwart verstehen will, muss ihre Ursprünge in den 1960er-Jahren untersuchen.
Weitere Filme, die den polnischen Antisemitismus behandeln, wie zum Beispiel Andrzej Wajdas „Samson" (1961), kamen ins Kino. Kritiker griffen Wajda jedoch dafür heftig an, weil er die Feindseligkeiten von Polen gegenüber Juden im Krieg bis hin zu den Erpressungen durch die „Szmalcowniks" zeigt (S. 238). In „Naganiacz" (1963) zeigen Ewa und Czesław Petelski die polnische Gesellschaft nicht einfach als stumme Zeugen des durch die Nazis begangenen Holocausts, sondern als „Zeugen der eigenen kollektiven Beteiligung" (S. 244).
Der Film „Długa noc" von Janusz Nasfeter (1967) behandelt Feindseligkeiten polnischer Bürger gegenüber versteckten Juden und deren Helfern. Als Motiv wird der Versuch angegeben, jüdisches Gold zu rauben. Auch dieser Film wurde nicht zugelassen, weil er für die Gesellschaft „wenig schmeichelhaft" gewesen sei und „unsere Illusionen zerstört" hätte, wie der Leiter der Kulturabteilung im Zentralkomitee anführte (S. 251). Besser hätte man es nicht auf den Punkt bringen können. Dieser Satz liest sich wie ein Schlüssel zu der gesamten Problematik. Er belegt erstens, dass man von feindlichen Einstellungen der Polen gegenüber Juden nichts hören wollte, und zweitens, dass diese Zensurentscheidungen nicht auf die die Anschauung der zentralen Parteifunktionäre zurückging, sondern dass die Partei in Kenntnis vorherrschender Stimmungen den Film ihrer Bevölkerung schlichtweg nicht zumuten wollte. Der Film lief 1989 und wurde bezeichnenderweise nicht rezipiert. Ebenso erging es „Przy torze kolejowym".
Mit der vorliegenden Studie geben die Autorinnen und Autoren einen immens wichtigen Anstoß, die Geschichte der Volksrepublik neu zu denken. Als Fazit lässt sich aus der Lektüre festhalten, dass es in Polen noch eine Geschichtsschreibung gibt, die bisherige Sichtweisen radikal in Frage stellt. Allerdings wird diese Geschichtsschreibung nicht von Historikerinnen und Historiker betrieben, sondern die Impulse kommen von außen. Es sind Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, denen es gelingt, eine andere Sicht einzunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich mit der Literatur- und Filmanalyse anderer Methoden bedienen als die Historiker.