Eine monographische Gesamtdarstellung des politischen Systems der Republik Polen suchte man bislang vergebens. In deutscher Sprache lag nichts mit gängigen politologischen Einführungen zu westeuropäischen Staaten oder dem politischen System der Bundesrepublik vor. [1] Dieses Desiderat ist nun behoben. Zwar bleibt auch nach einer Lektüre von Klaus Ziemers „Das politische System Polens. Eine Einführung" die polnische Politik für Überraschungen und Rätsel gut, jedoch ist dies keinesfalls dem Buch sondern vielmehr dem Profil seines Gegenstandes zuzuschreiben. Den Anspruch, die Spezifika der komplexen politischen Wirklichkeiten polnischer Politik verständlicher zu machen, löst das Buch durch eine Darstellung von geradezu enzyklopädischer Genauigkeit und Informationsdichte ein.
Die Einführung, die von dem Erkenntnisinteresse geleitet ist, die Bestimmungsfaktoren zu identifizieren, die für das spezifische Profil polnischer Politik seit 1989 und ihrem Konsolidierungsgrad verantwortlich zeichnen, kann aber nicht nur als überblicksartiges Wissenskompendium gelesen werden. Das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit Polen und unmittelbarer Präsenz in Warschau, wo Prof. Klaus Ziemer nach seiner Emeritierung in Trier an der Kardinal-Wyszyński-Universität lehrt und von 1998 bis 2008 Direktor des Deutschen Historischen Instituts war, geht weit über eine Darstellung der institutionellen Rahmenbedingungen und Funktionsweisen des politischen Systems in Polen hinaus. Auf eine kurze historische Einführung in die Verfassungsgeschichte der Dritten Republik (S. 17-36) folgen in der ersten Hälfte des Buches ausführliche Kapitel zu den Verfassungsorganen. Neben Parlament (S. 37-92), Regierung und Verwaltung (S. 93-108) und Staatspräsident (S. 109-128) werden auch das Justizwesen (S. 129-144), die territoriale Selbstverwaltung (S. 145-158) sowie direktdemokratische Elemente besprochen (S. 159-168). Die zweite Hälfte des Buches widmet sich Parteien und Wahlen (S. 169-244), Interessengruppen (S. 245-260), Massenmedien (S. 261-272), der katholischen Kirche (S. 273-290), der politischen Kultur (S. 291-310) und der Außenpolitik mit besonderem Augenmerk auf die deutsch-polnische und europäische Dimension (S. 311-336). An jedes Kapitel schließt sich eine hilfreiche Bibliographie mit Lektüreempfehlungen zur Vertiefung an. Eine Stärke des Buches liegt darin, in jedem Teilkapitel nicht nur auf institutionelle Gegebenheiten, sondern auch auf Probleme der politischen Praxis, soziokulturelle Rahmenbedingungen und die historische Genese der jeweiligen Institutionen, Akteure oder Politikfelder einzugehen. Über illustrative Beispiele und wichtige Ereignisse werden Verfassung und Verfassungswirklichkeit miteinander verknüpft. Alle zwölf Kapitel funktionieren aufgrund der Kontextualisierungen als selbstständig verständliche Sinneinheiten. In Verbindung mit der internen Verweisstruktur erlaubt dies unterschiedliche Lesewege und schnelle Einstiege in einzelne Teilaspekte – auch für mit Polen nicht vertraute Leser_innen.
Exemplarisch für diese Perspektive ist die Erörterung des Gesetzgebungsprozesses. Verfassungsbestimmungen und die Geschäftsordnungen von Sejm und Senat sowie deren Evolution werden ebenso betrachtet, wie ihre Ausführung und dabei aufgetretene Konflikte. Die wichtigsten Materien und Konfliktlinien gesetzgeberischer Tätigkeit der letzten 25 Jahre werden skizziert – von der Änderung der Verfassung und der wirtschaftlichen Transformation über die großen, umstrittenen Reformprojekte der Regierung Jerzy Buzeks 1997 (Verwaltung, Bildung, Gesundheit, Sozialversicherung) bis hin zur Dekommunisierung und weltanschaulichen Fragen (vgl. S. 75-87). Nicht bei allen Details wird angesichts ihrer Vielzahl die Relevanz für das politische System im engeren Sinne ersichtlich. Manches Beispiel kann nicht vertieft werden. Ziemer wird aber dem Anspruch gerecht, weiterführende Forschung anzustoßen und zu ermöglichen, da die historische Tiefenschärfe der Einführung über die Erwartungen an eine klassische politologische Gesamtdarstellung hinausgeht. So kann das Buch mit Gewinn auch als politische Geschichte der Dritten Republik gelesen werden.
Deren Verfassung, so Ziemers Fazit, bilde heute „ein tragfähiges Fundament für die Regulierung des politischen Prozesses in Polen" (S. 338) und das Land kann „nach einer Phase institutionellen Lernens in der ersten Hälfte der 1990er Jahre heute als weitgehend konsolidierte Demokratie gelten" (S. 337). Vor allem in der zweiten Hälfte des Buches benennt Ziemer jedoch selbst die Problembereiche, die er als „Schönheitsfehler" (S. 337) der dritten Republik bezeichnet: Die geringe Verankerung politischer Parteien und Interessengruppen in der Gesellschaft etwa, Defizite innerparteilicher Demokratie und Vetternwirtschaft, die Politisierung der Medienlandschaft oder auch die Ausprägung zivilgesellschaftlichen Engagements, bei dem Polen „eine[n] Jahrzehnte langen Rückstand" (S. 258) aufzuholen habe. Man kann diese implizit an einem Idealbild von Demokratie orientierte Perspektive problematisch finden, muss jedoch zugestehen, dass die Einführung ihr verschwindend selten nachgibt. Vergleichende Seitenblicke sind eher selten. Bis in Details des politischen Diskurses, wie z. B. den Streit um die korrekte weibliche Form des Wortes „Premierministerin" (S. 225 f.), wird das Buch dafür der komplexen und historisch gewachsenen Einzigartigkeit polnischer Politik gerecht.
In dieser Hinsicht besonders hervorzuheben sind die Kapitel zum Parteiensystem und zur politischen Kultur. Ersteres besticht durch besondere Anschaulichkeit und strukturiert die polnische Parteienlandschaft entlang unterschiedlicher „Parteifamilien" (S. 193-219). Es zeigt sich dabei einmal mehr, wie schwierig es ist, die aus dem westeuropäischen Kontext stammenden Kategorisierungen in den post-kommunistischen und polnischen Kontext zu übertragen. Offen bleibt nämlich bei der Darstellung der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteifamilie die Frage, warum es bislang in Polen niemandem gelungen ist, eine nicht-post-kommunistische Linke zu etablieren. Die Zuordnung der Bürgerplattform (PO) zur liberalen Parteienfamilie kann Ziemer, abgesehen von einem Hinweis auf ihre pragmatische Reformorientierung, nicht durch parteiprogrammatische Inhalte begründen (vgl. S. 201-203). Die Vielzahl an nicht unbedeutenden Parteien außerhalb des Dreierschemas Sozialdemokratie-Liberale-Konservative, wie beispielsweise die Bauernpartei (PSL) oder „unkonventionelle" Parteien wie die Palikot-Bewegung machen deutlich, dass es besondere Konfliktlinien sind, die das polnische Parteiensystem strukturieren.
Diesbezüglich unterstreicht Ziemer die Dominanz soziokultureller gegenüber sozioökonomischen Konfliktdimensionen (S. 191), worauf auch das kurze Kapitel zur politischen Kultur hinausläuft. Anders als in einer klassischen Engführung politischer Kultur mit staatsbürgerlichen Einstellungen evaluiert Ziemer dabei nicht nur Umfrageergebnisse. Er entfaltet auch die zentralen Konfliktlinien politischer Diskurse jenseits der überkommenen Leitdifferenz von „wir" (My) und „die anderen" (Oni), wie etwa den im jüngsten Wahlkampf wieder hochaktuellen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern eines liberalen Gesellschaftsmodells. Wenngleich die Einführung diesbezüglich relativ kursorisch bleibt, deutet sie mit Beispielen für die gängigsten historischen Topoi der politischen Auseinandersetzung ein in der deutschsprachigen politologischen Literatur noch viel zu wenig erkundetes Terrain an.
Die unmittelbar einleuchtende Feststellung, dass Polens Politik von mehreren politischen Kulturen geprägt sei (S. 309), weist schließlich darauf hin, dass es das Buch trotz seiner umfassenden Darstellung nicht versäumt, auf bestehende Forschungsdesiderate hinzuweisen: Etwa die Rolle politischer Lobbyarbeit (S. 85), die Professionalisierung der polnischen Parlamentarier_innen (S. 62) oder die Hintergründe für das erstaunlich schwach ausgeprägte soziale Engagement der katholischen Kirche im Kontext der Systemtransformation (S. 287) sind nur einige explizite Anregungen. Weitere Forschung kann und sollte bei diesem detailgenauen Wissenskompendium ihren Ausgangs- und Anhaltspunkt finden – zumal das Buch neben jeweiligen Originaldokumenten auch politik-, rechts- und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur in deutscher, englischer, französischer und polnischer Sprache einbezieht. Für weitere Auflagen bliebe angesichts der Fülle an historischen Fallbeispielen einzig ein Personenregister zu wünschen.
Dem substanziellen Beitrag zum Verständnis politischer Entwicklungen in Polen durch die ausgewogene Gesamtdarstellung tut dies jedoch keinen Abbruch. Die Lektüre hilft, bei allen Peripetien und Unberechenbarkeiten polnischer Politik(er) den Überblick zu bewahren. So kann man beispielsweise die Tragweite des Wahljahres 2015 vor dem Hintergrund, dass in der Dritten Republik „Präsidentschaftswahlen […] mehrfach als Katalysator für eine nachfolgende Umstrukturierung des Parteiensystems gewirkt [haben]" (S. 119) besser einschätzen. Um über die gegenwärtigen Umstrukturierungen der politischen Landschaft und bevorstehende Verfassungsumbauten aus politikwissenschaftlicher, zeitgeschichtlicher aber gerade auch journalistischer Perspektive fundiert zu sprechen, kommt man an diesem Buch nicht vorbei.
[1] Bislang war die politikwissenschaftliche Polenforschung entweder auf mehr oder minder knappe Einführungsartikel oder Publikationen ohne umfassenden Anspruch angewiesen. Vgl. Klaus Ziemer / Claudia-Yvette Matthes, Das politische System Polens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 3. aktualis. u. erw. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010); Andrzej Chwalba, Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989 bis 2005(Wiesbaden: Harrasowitz, 2010); Jacek Raciborsk /Jerzy Wiatr: Demokratie in Polen: Elemente des politischen Systems (Opladen: Barbara Budrich, 2005).