Nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal forciert durch die antisemitische Kampagne 1968 in Polen verließen viele Jüd_innen das Land. Ein wichtiges Aufnahmeland war Schweden. Izabela A. Dahl analysiert in ihrer historisch-kulturwissenschaftlichen Studie die politischen und kulturellen Verhältnisse der Jahre 1945–1946 und 1968–1972 im Herkunfts- wie auch im Aufnahmeland. Im Zentrum der Arbeit stehen die Identitätskonstruktionen der polnischen jüdischen Zwangsmigrant_innen im Schweden der Nachkriegszeit und die Frage, inwiefern die jeweiligen historischen Umstände die Konstruktion von Identität beeinflussen und verändern. Dabei untersucht die Autorin, wie der historische Kontext, der zur Migration der polnischen Jüd_innen geführt hat, in der Forschung, in den Medien und in den Institutionen verhandelt wird. Die Studie basiert auf umfangreichen Archiv- und Presserecherchen sowie Interviews mit Zwangsmigrierten und gibt neue Einblicke in polnisch-jüdische, schwedisch-jüdische und schwedisch-polnische Beziehungen nach 1945.
Izabela Dahl (2013)
Ausschluss und Zugehörigkeit. Polnische jüdische Zwangsmigration in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg
- Published: 14.05.2014
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Recommended by Redakcja Pol-Int
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Ausschluss und Zugehörigkeit. Polnische jüdische Zwangsmigration in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg
Reviewed by Dipl. Katharina Blumberg-Stankiewicz
- Published: 06.05.2015
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Reviewed by
Dipl. Katharina Blumberg-Stankiewicz
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Edited by
Dr. Christoph Schutte
Izabela A. Dahl fokussiert Prozesse von Ausschluss und Zugehörigkeit und hebt zugleich hervor, dass es um die „Herausforderung einer Identitätsstudie" über polnische jüdische Zwangsmigrant/inn/en in Schweden gehe. Dieses mehrfache Erkenntnisinteresse, das neben Ausschluss und Zugehörigkeit den Begriff der Identität hervorhebt, erscheint aus der Rezensionsperspektive der vergleichenden sozial- und kulturanthropologischen Migrationsforschung zunächst unnötig: Ein klarer Fokus auf Ausschluss und Zugehörigkeit würde ausreichen, um Zugehörigkeitsorientierungen oder -verortungen der Migrant/inn/en in ihrer Komplexität adäquat zu beschreiben. Im Verlauf der Arbeit wird jedoch deutlich, dass insbesondere die Frage nach Verbindungen zum Herkunftsland Polen sowie nach Identifkationsmodi mit einem (Schwedisch-, Jüdisch- und) Polnisch-Sein einen relevanten Anteil am Erkenntnisinteresse ausmacht. Anders formuliert: Gerade durch die reflektierte Auseinandersetzung mit dem „Polnischen" innerhalb der „polnischen jüdischen Zwangsmigration" gelingt es D., einen Analyseweg zu beschreiten, der ein Forschungsdesiderat aufzeigt und zu dessen Beseitigung beiträgt.
D. widmet das erste Kapitel der methodischen Vorgehensweise und fokussiert dabei auf den umstrittenen Begriff der Identität. Deutlich wird der überzeugte Anschluss an nicht-essentialisierende, die Veränderlichkeit betonende, konstruktivistische Ansätze von Identität. Die gewählte methodische Vorgehensweise ist insofern anspruchsvoll, als dass sie eine Vielfalt empirischen Materials auf der Ebene von „Wirkungsgeschichte", die sich in mehrere Diskursebenen untergliedert, sowie auf „personal-kultureller Ebene" zu bearbeiten beabsichtigt (vgl. die Übersicht auf S. 44 f.). Den eigenständig durchgeführten Interviews weist D. folgerichtig eine „doppelte Rolle" zu (S. 47): Einerseits bilden sie einen inhaltlichen Teilbereich des Gesamtdiskurses ab, andererseits liefern sie Orientierungslinien bei der Analyse des heterogenen schriftlichen Materials.
Im zweiten Kapitel „Konstruktion von Zugehörigkeit und Ausschluss" präsentiert D. den auf der Diskussion um Methode und Identität aufbauenden theoretischen und empirischen Forschungsstand. Theoretisch mitunter zentral erscheint die Rezeption des instrumentalistischen Ansatzes von Ethnizität nach Fredrik Barth, demzufolge Ethnizität durch soziale Grenzziehungsprozesse erfolgt. D. weist allerdings auch kritisch darauf hin, dass der Instrumentalismus überstrapaziert werden könne: „Ein Problem des Instrumentalismus ist, dass Ethnizität, oder genauer gesagt ethnische Aktivierung, als Symptom für andere gesellschaftliche Phänomene oder als ‚Mittel zum Zweck', das der politischen Mobilisierung dient, gesehen wird" (S. 85).
Hinsichtlich des empirischen Forschungsstandes ist interessant, dass Erkenntnisse über die staatliche Diskriminierung im 19. Jh. gegenüber ostjüdischen Immigrant/inn/en in Schweden vorliegen (dieses Thema erforscht der Historiker Carl Henrik Carlsson an der Universität Uppsala), während für „die Zeit nach 1920 und gerade nach dem Zweiten Weltkrieg keine vergleichbare Studie" verfasst wurde (S. 80 f.). Es ist ein Gewinn, dass hier nun national spezifische Forschungsinteressen und Desiderate bearbeitet werden, und zwar in Bezug auf jüdische Migrant/inn/en sowohl in Schweden als auch in Polen. So merkt D. an, dass sie die Kategorisierung von „jüdischen Jüdinnen bzw. Juden" und „nicht-jüdischen Jüdinnen bzw. Juden" exklusiv im polnischen Forschungskontext vorgefunden habe, nicht aber in anderen Sprachen (S. 119). Die Formulierung „My Żydzi Polscy" („Wir polnischen Juden", um 1943, S. 121) des Dichters Julian Tuwim findet ihren Widerhall innerhalb der polnischen Forschungslandschaft und wird von D. auch als Formulierung bzw. in den Verweisen ihrer Interviewpartner/innen wiedererkannt.
Dieser Hintergrund verdeutlicht, wie herausfordernd und in der Forschung an ihrem Anfang stehend ein umfassender Blick auf die Zusammenhänge jüdischer, polnischer und schwedischer Identifikationen ist. D. verweist in ihrer Einleitung auf den Aktualitätsbezug dieser komplexen Mehrfach-Identifikationen: Lena Einhorn veröffentlichte ein Buch [1] über ihre Mutter Nina Einhorn, eine Überlebende des Warschauer Ghettos, die nach Schweden migrierte. Dieses Buch sorgte in Schweden nach seiner Verfilmung 2005 für öffentliche Debatten, bei denen auch die Virulenz des Antisemitismus in der schwedischen Gesellschaft der Gegenwart herausgestellt wurde.
D.s Studie macht deutlich: Antisemitismus, bezogen auf das Thema der besprochenen Studie, kann und sollte sowohl in seiner historischen Aufarbeitung als auch gegenwartsbezogen, mit dem parallelen Blick auf die Kontexte zweier Nationalstaaten, die durch Migrationen – wenn auch kaum sichtbar, aber doch komplex – miteinander verwoben sind, tiefgründig erforscht werden. Dies gilt ebenso für die weitere Erforschung zunehmender öffentlicher Thematisierungen von jüdischen Identifikationen, Traditionen und religiösem Leben.
D. wertet das vorliegende Wissen zum Antisemitismus im Nachkriegspolen kritisch aus: Anhand diskursanalytischer Erkenntnisse sowie der Narrationen ihrer Interviewpartner/innen lassen sich entsprechende Ausschlussdynamiken, die die Ausreise aus Polen begleiteten bzw. verursachten, differenziert nachvollziehen. Es ist ganz richtig, hier von Zwangsmigrationen zu sprechen, und sehr aufschlussreich, in den Schilderungen nachzuverfolgen, welche Möglichkeiten sich eröffneten und welche Erschwernisse sich zeigten, um das Migrationsziel zu erreichen (vgl. Kap. 3 und 4). Den Kontext der Ankunft in Schweden bildeten heterogene – polnische und schwedische – institutionelle und mediale Steuerungsinstanzen, mit denen die Zwangsmigrant/inn/en konfrontiert waren. Gerade die Aufnahme von Überlebenden des Holocaust in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde von Seiten der schwedischen Institutionen als Belastung gewertet. Sie war vorurteilsbeladen und nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt; zudem waren Frauen gegenüber Männern bei Einstiegspfaden in die Arbeitswelt schlechter gestellt, wie D. intersektional analysierend herausstellt.
D. stellt zwei Hochphasen der Zwangsmigration und damit auch zwei zeitliche Kontexte nebeneinander, nämlich die frühe Nachkriegszeit 1945/46 und die Zeit des Kalten Krieges 1968-1972. Mit diesem Analysefokus ist es möglich, Kontinuitäten von Ausschluss- und Zugehörigkeitspraxen aufzudecken. Es wird so zudem deutlich, welche Rolle die bilateralen Beziehungen zwischen Polen und Schweden beim Verlauf der Migrationen spielten. Schweden – hier weist D. auf lohnende Anschlussforschungen hin – verhielt sich im Kalten Krieg blockneutral und verfügte damit anscheinend über spezifische Möglichkeiten, humanitäre Hilfe zu leisten. Folgt man den institutionellen Wegen von Ausreise und Einreise sowie den Prozessen der Aufnahme in der schwedischen Gesellschaft – auch den institutionellen Ausdrücken von Zugehörigkeit beziehungsweise Nicht-Zugehörigkeit von Seiten der polnischen Gesellschaft –, wird sichtbar, wie antisemitische Äußerungen in den Nachkriegsgesellschaften im Alltag auftraten und sich perpetuierten.
Die Studie zeigt insgesamt sehr eindrucksvoll, wie unverzichtbar es ist, die Herkunftsorte von Zwangsmigrant/inn/en genauso in den Blick zu nehmen wie ihre Ankunftsorte sowie die durch fortlaufende Migrationen bedingten sozialräumlichen Verknüpfungen. Auch auf methodologischer Ebene sind Spezifiken, die auf ebendiese Verknüpfungen zurückgeführt werden können, von hoher Relevanz. So haben die Narrationen der Überlebenden, die von der Łakociński-Stiftung in Schweden zeitnah gesammelt wurden, die Frage der ethnisch lesbaren Zusammensetzung der Interviewenden vernachlässigt (vgl. S. 309 ff.). D. selbst schildert richtungsweisend selbstreflexiv, wie Zuschreibungen zu ihrer Herkunft in Interviewsituationen eine Rolle gespielt haben (vgl. S. 358).
Im Ergebnis wird nachvollziehbar, weshalb jüdische Migration im kollektiven Gedächtnis nicht erinnert wird: Die „Akteur_innen dieser Migration (befinden) sich außerhalb des territorialen und mentalen Raums, in dem ihre Stimmen gehört werden" (S. 13). D. differenziert und betont diesen Befund der Abwesenheit von Erinnerungen an konkrete Migrationserfahrungen im kollektiven Gedächtnis abschließend anhand ihres „(un)möglichen Vergleichs" beider zeitlicher Kontexte (5. Kap.): Die Integration der Zwangsmigrant/inn/en in Schweden erscheint lediglich instabil oder schwach als „polnisch-jüdisch-schwedisches Triangelverhältnis" (S. 363) – die Narrationen der Zwangsmigrant/inn/en bildeten eine viel größere „Diversität der Identitätskonstruktionen" ab (S. 363). Die Feststellung, dass Zusammengehörigkeitsgefühle unter polnischen jüdischen Zwangsmigrant/inn/en vorhanden seien, wird differenziert durch die Erkenntnis, dass eine Selbstidentifikation als (polnisch-schwedische/r) Jüdin bzw. Jude nicht ausreiche, um dauerhafte soziale Netzwerke zu knüpfen.
Die Vf. kommt zu diesem Ergebnis durch das Aufdecken von Intersektionen von Ethnizität, Antisemitismus, Klasse und Geschlecht. Sie liefert so gute Gründe dafür, bestehende postkoloniale Forschungsansätze entschieden auf den Kontext Nachkriegseuropas anzuwenden und zu erweitern. Jedenfalls schließt die Studie näher an der postkolonialen als an der, wie D. vorschlägt, profeministischen Forschung an (vgl. S. 91).
Das transnationale, breit gefächerte und detailstarke Kontextwissen der Vf. sowie die wertvollen lebensgeschichtlichen Narrationen der Zwangsmigrant/inn/en lassen Folgepublikationen wünschen. Interessant wäre herauszustellen, wie Zusammengehörigkeitsgefühle der Zwangsmigrant/inn/en ausgelebt werden – wo und wie bei den erfahrenen, mitunter extremen Ausschlussdynamiken Werte der Zugehörigkeit gefunden, aufgebaut, stilisiert und ggf. öffentlich (mit)geteilt werden. Die Konstruktion einer Identität und damit auch ihrer Stabilität steht als Teil der Erkenntnisfolie, sofern sie kritisch und selbstreflexiv begleitet wird, in einem gut vertretbaren und erkenntnisgenerierenden Licht.
[1] Lena Einhorn: Ninas Reise. Wie meine Mutter dem Warschauer Ghetto entkam, München 2006.
Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) H. 1.
Ausschluss und Zugehörigkeit. Polnische jüdische Zwangsmigration in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg
Reviewed by M.A. Doreen Reinhold
- Published: 26.05.2014
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Reviewed by
M.A. Doreen Reinhold
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Edited by
Dr. Markus Nesselrodt
Izabela Dahl untersucht in ihrer Dissertation die Identitätskonstruktionen polnischer Jüdinnen und Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter Zwang nach Schweden emigrierten. Mit ihrem transdisziplinären Forschungsansatz zeigt die Autorin Mechanismen sozialer Zugehörigkeiten und Ausschlussprozesse auf. Sie zeigt,wie die wirkungsgeschichtlichen Kontexte Polens und Schwedens die Identitätsformationsprozesse beeinflussten. Mit ihrer Monographie schließt die Autorin eine Lücke sowohl in der polnischen als auch in der schwedischen Geschichtsschreibung sowie der Identitäts- und Migrationsforschung.
Migrationserfahrung
Schweden war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der wichtigsten Aufnahmeländer für polnische Juden, die in zwei großen Migrationswellen 1945-46 und 1968-72, gezwungen durch Antisemitismus, ihr Heimatland verließen. Ihr Schicksal fand bisher keinen Eingang ins polnische oder schwedische kollektive Gedächtnis und blieb auch von der Forschung lange Zeit unbeachtet. Dahl zeigt dieses Desiderat auf und reflektiert im ersten Teil ihres Buches umfassend verschiedene theoretische und methodologische Anknüpfungspunkte, um sich dem Themenkomplex zu nähern. Anders als der Titel des Buches andeutet, untersucht sie jedoch keine Migrationsbewegungen innerhalb Schwedens, sondern die Identitäten von Juden nach ihrer Migration von Polen nach Schweden. Hierfür entwickelt die Autorin einen innovativen, transdisziplinär angelegten Forschungsansatz, der Methoden der Geschichtsforschung und der kritischen Diskursanalyse mit Ansätzen der Geschlechterstudien kombiniert. Sie unterteilt ihre Studie in eine Dispositivanalyse und eine Analyse der narrativen Identitäten der Migranten durch qualitative Interviews, die methodisch in den Ansatz der Oral History eingebunden sind.
Aufbau des Buches
Im erstgenannten Abschnitt analysiert sie auf Basis umfangreicher Archiv- und Presseuntersuchungen die politischen und kulturellen Verhältnisse im Polen der Jahre 1945-1946 und 1968-1972 und stellt diese den Verhältnissen in Schweden gegenüber. Sie zeigt dabei, wie die Instrumentalisierung von Antisemitismus durch die jeweiligen polnischen Regierungen die jüdischen Migranten bei der Konstruktion ihrer Identitäten beeinflusst hat. Ferner konstatiert Dahl eine Selbstzensur der schwedischen Presse sowohl des liberalen wie des kommunistischen Spektrums hinsichtlich der Berichterstattung über die jüdischen Migrationswellen aus Polen. Schließlich charakterisiert sie die soziale Praxis der Aufnahme der polnischen Juden in Schweden als einen institutionellen Lernprozess. Die Holocaustüberlebenden 1945/46 wurden zunächst als temporäre Gäste, aber auch als Belastung der schwedischen Institutionen wahrgenommen. Für die polnischen Juden, die zwischen 1968 und 1972 nach Schweden zwangsmigrierten, wurde hingegen bis 1972 ein staatlich unterstütztes Quotierungs- und Aufnahmesystem etabliert. Dahl zeigt in ihrer Studie auf, wie diese verschiedenen Umstände der Migration zur Herausbildung unterschiedlicher Gruppenidentitäten der beiden Migrationsgruppen führten. Diese Identitäten waren so verschieden voneinander wie von den schwedischen Juden und der polnischen und schwedischen Mehrheitsgesellschaft. Ein Ergebnis, das sie mit dem zweiten Teil ihrer Analyse untermauert.
Oral History
Hier untersucht Dahl die narrativen Identitäten der Migranten mit Rückgriff auf die Methoden der Oral History. Sie beginnt diesen Abschnitt ihrer Untersuchung mit der Auswertung der Protokolle der sogenannten Łakociński-Sammlung. Diese besteht aus 514 Interviews mit polnischen Überlebenden verschiedener Konzentrationslager. Den größten Teil machen dabei Interviews mit Überlebenden des Frauenlagers Ravensbrück aus, die kurz nach Befreiung des Lagers durchgeführt wurden. Dahl kommt zu dem Schluss, dass die Protokolle und die Zusammensetzung des ausführenden Komitees wichtige Rahmenbedingungen für die Formation der kollektiven Erinnerungen an die Kriegserfahrungen der interviewten Polen und Polinnen darstellten, die der ersten beschriebenen Migrationswelle zuzuordnen sind. Leider bleibt das konkrete Vorgehen der Autorin bei der Auswertung der Protokolle intransparent: Wurde hierbei, wie im späteren Abschnitt, eine intersektionale Analyse durchgeführt, und wenn ja, mit welchen Kategorien? Wenn nicht, wie begründet Dahl das unterschiedliche Vorgehen in der Auswertung der Protokolle und der von ihr durchgeführten retrospektiven Interviews? Hier wären eine explizitere Beschreibung des methodischen Vorgehens und eine umfassendere Begründung für die Einbeziehung der Protokolle in das Quellenkorpus wünschenswert gewesen. Positiv hervorzuheben ist jedoch Dahls kritische Reflektion der Machtverhältnisse des Fragestellers gegenüber den Interviewten sowohl bei den Protokollen der Łakociński-Sammlung als auch bei den von ihr selbst geführten Interviews.
Für die weitere Analyse der narrativen Identitäten der jüdisch-polnischen Zwangsmigranten führte Dahl mit jeweils 10 Migrantinnen für jede der beiden Migrationswellen teilstrukturierte, narrative Interviews, in denen nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Interviewpartnerinnen retrospektiv über ihre Migrationserfahrungen erzählten. Die Auswertung des transkribierten Materials von vier dieser Interviews erfolgt durch eine intersektionale Analyse mit den Kategorien Nationalität und Religiosität, Geschlecht und Klasse, Alter und Lokalität. Dahl dekonstruiert auf diese Weise das Dreieck der jüdisch-polnisch-schwedischen Identitäten und zeigt die Identitätskonstruktionen der Zwangsmigrierten als ein komplexes Geflecht verschiedenster Einflussfaktoren. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Herausarbeitung „typischer“ Konstruktionen, die sich in den einzelnen Interviews wiederholen. Dahl greift hierbei vor allem Aspekte ihrer Dispositivanalyse auf und zeigt anhand der Interviews noch einmal, wie stark die Umstände der Migration die Identitäten der Frauen beeinflusst haben und wie die unterschiedlichen Erfahrungen der beiden Migrationswellen zu unterschiedlichen Identitätskonstruktionen geführt haben. In diesem Abschnitt gelingt es Dahl darüber hinaus, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich der von ihr gewählten Analysekategorien herauszuarbeiten und den geschlechtsspezifischen Erfahrungen der polnischen Jüdinnen eine Stimme zu verleihen.
Kritik
Kritisch ist jedoch anzumerken, dass Dahl ihre Entscheidung, nur vier Interviews auszuwerten und die Kriterien, nach denen diese Interviews ausgewählt wurden, nur unzureichend darlegt und begründet. „Die übrigen Interviews waren für den Entwicklungsprozess der Studie ausschlaggebend und dienen den Fallanalysen, auch ohne direkt zitiert zu werden, einem Abgleich einzelner Analyseergebnisse. Sie bilden die Grundlage der Ergebnisdiskussionen der narrativen Identitäten und der theoretisch methodologischen Überlegungen dieser Studie“ (S. 323). Diese Beschreibung Dahls bleibt leider zu unkonkret, um dem Leser ihr methodisches Vorgehen transparent zu machen. Die Auswahl wirkt willkürlich und in der Auswertung unvollständig, vor allem mit Hinblick auf Dahls Anspruch, „typische“ Konstruktionen in den narrativen Identitäten der Migrantinnen beider Migrationswellen herausarbeiten zu wollen. Dafür erscheint eine methodisch fundierte Analyse von nur vier Interviews als Datenbasis als zu wenig umfangreich.
Problematisch ist hierbei auch der unterschiedliche Untersuchungsgegenstand im Vergleich mit den anderen Teilen der Untersuchung. In ihrer Dispositivanalyse betrachtet Dahl alle jüdisch-polnischen Migranten und Migrantinnen beider Migrationswellen. In den Protokollen der Łakociński-Sammlung befinden sich hauptsächlich Interviews mit weiblichen Überlebenden aus Ravensbrück, jedoch auch mit Überlebenden anderer Lager, mit Männern wie Frauen, mit Juden und Nichtjuden. Da die Interviews direkt nach dem Kriegsende geführt wurden, sind alle interviewten Zeitzeugen der ersten Migrationswelle zuzuordnen. Im letzten Abschnitt schließlich betrachtet Dahl wieder beide Migrationswellen, interviewt hier jedoch nur weibliche Migrantinnen. Die Auswahl der Untersuchungsgruppe ist in allen drei Teilen für sich legitim, bei einer Zusammenführung der Ergebnisse wäre eine Problematisierung und Begründung der unterschiedlichen Gruppen jedoch wünschenswert gewesen. Ebenfalls kritisch zu bemerken ist Dahls Verwendung von Genderspezifizierungen. Die Autorin nutzt sowohl für generelle Bezeichnungen von Personengruppen als auch für die Beschreibung von weiblichen Personen die gleiche Form mit einem Unterstrich, wie Jüd_innen oder Pol_innen. Dies führt dazu, dass nicht immer klar wird, wann Dahl sich explizit auf Frauen bezieht und wann sie von polnischen Zwangsmigranten im Allgemeinen spricht.
Fazit
Trotz dieser Kritikpunkte gelingt es Dahl, mit ihrer Studie ein bisher wenig beleuchtetes Forschungsfeld zu erschließen. Ihre Arbeit gibt einen umfassenden Einblick in die Migrationsgeschichte polnischer Juden nach Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg und zeigt reflektiert und differenziert die verschiedenen Faktoren der Identitätskonstruktionen der Zwangsmigranten auf. Durch den transdisziplinären Ansatz ist das Buch sowohl für die schwedische Zeitgeschichte, aber auch für die jüdischen Studien und die Migrationsforschung relevant. Darüber hinaus weist Dahl an vielen Stellen ihres Buches auf mögliche Anknüpfungspunkte für weitere Studien hin und bietet so über ihre eigene Forschung hinaus Möglichkeiten an, den von ihr bearbeiteten Themenkomplex auch für andere Ansätze und Disziplinen fruchtbar zu machen.