Über die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen ist es in Deutschland und Polen nach den politischen Umbrüchen von 1989/1990 immer wieder zu innergesellschaftlichen Kontroversen gekommen, die sich oftmals zu massiven Unstimmigkeiten im Verhältnis der Nachbarn ausweiteten. Die Massenmedien haben in der Erinnerung an und in den erinnerungspolitischen Kontroversen um die Vertreibung der Deutschen eine zentrale Rolle gespielt, die bislang nur wenig wissenschaftliche Beachtung fand. Maren Röger untersucht anhand von deutschen und polnischen TV-Dokumentationen, Spielfilmen und Presseerzeugnissen unterschiedlicher Genres, welche Massenmedien auf welche Art und Weise die nationalen Erinnerungskulturen prägten und in welcher Form sie zu den deutsch-polnischen Kontroversen über Flucht und Vertreibung beitrugen. Während die in der Volksrepublik Polen vor 1989 verordneten Erzählmuster über die Zwangsmigration eine deutliche Wandlung in den 1990er Jahren erfuhren, lässt sich für zahlreiche deutsche Medien ein relativ unkritischer Umgang mit kolportierten Opferzahlen und denjenigen Bildererzählungen der Vertreibung zeigen, die ihren Entstehungskontext in den Durchhalteparolen der NS-Propaganda haben.
Anna Jakubowska (2012)
Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957-2004): Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes
- Published: 13.05.2014
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Recommended by Prof. Tim Buchen
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Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957-2004): Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes
Reviewed by PD Dr. Stephan Scholz
- Published: 21.05.2014
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Reviewed by
PD Dr. Stephan Scholz
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Edited by
Prof. Tim Buchen
Der Bund der Vertriebenen (BdV) ist zweifellos einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteure in der deutsch-polnischen Beziehungs- und Wahrnehmungsgeschichte des vergangenen halben Jahrhunderts. Die Dissertation von Anna Jakubowska, mit der sie 2009 an der Ludwig-Maximilian-Universität promoviert wurde, dürfte daher in Deutschland und Polen gleichermaßen von Interesse sein.
Jakubowska wendet sich einem Themenbereich zu, der bis heute noch wenig erforscht ist. Mathias Stickler, der vor zehn Jahren selbst eine wichtige Studie zu den deutschen Vertriebenenverbänden vorgelegt hat, spricht von einer weitgehenden „wissenschaftlichen Nichtbeachtung“ [1]. Speziell dem BdV wurden bislang nur sehr wenige Untersuchungen gewidmet [2]. Erstmals nimmt Jakubowska dabei den gesamten Zeitraum seiner Wirksamkeit seit 1957 in den Blick. Sie konzentriert sich dabei auf die Selbstdarstellung des Verbandes in der Öffentlichkeit und seine mediale Fremddarstellung in der Presse sowohl in der Bundesrepublik als auch in Polen. Die zweite deutsche Perspektive der DDR bleibt dagegen ausgeklammert, was zumindest kurz hätte begründet werden müssen.
Als Quellen dienen ausschließlich veröffentlichte Zeitschriften und Zeitungen. Für das Selbstbild des BdV wird allein der Deutsche Ostdienst herangezogen, eine Art internes Zentralorgan des BdV. Für die westdeutsche Öffentlichkeit wurden mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Wochenzeitung Die Zeit sowie dem Magazin Der Spiegel drei wichtige Leitmedien ausgewertet. Auf der polnischen Seite sind sogar vier Periodika bearbeitet worden, die ein gewisses Spektrum der bis 1990 zwangsläufig begrenzten veröffentlichten Meinung abdecken (Trybuna Ludu, Polityka, Rzeczpospolita, Tygodnik Powszechny). Oppositionelle Veröffentlichungen des „zweiten Umlaufs“ wurden leider nicht berücksichtigt.
Auch wenn es „nur“ um die öffentliche Darstellung des BdV geht, ist es doch bedauerlich, dass Jakubowska auf die Auswertung von Archivmaterial verzichtet hat. Der BdV-Bestand im Bundesarchiv ist zwar noch nicht vollständig, aber doch in stetig wachsendem Maße zugänglich. Ausgeblendet bleiben so leider die internen Überlegungen, Strategien und Mechanismen zur medialen Vermittlung des eigenen Selbstbildes sowie der Reaktionen auf die öffentliche Meinung gegenüber dem BdV. Wesentliche Hintergründe auch für die Verflechtung von öffentlichen Selbst- und Fremddarstellungen bleiben so weiter im Verborgenen.
Diese Verflechtung wird im Laufe der Untersuchung immer wieder deutlich, gerade weil Jakubowska sich um eine systematische Trennung bemüht. Die chronologisch aufgebaute Arbeit unterscheidet zunächst verschiedene zeitliche Phasen, wobei die Jahre 1970 und 1990 als die entscheidenden Wendepunkte unstrittig sein dürften. Innerhalb dieser Phasen werden dann in jedem Teilkapitel nacheinander die BdV-Selbstdarstellung sowie die bundesdeutsche und die polnische Fremddarstellung abgearbeitet. Das führt notwendigerweise zu Redundanzen auf der inhaltlichen Ebene. Zudem fällt es der Autorin schwer, diese Unterscheidung auch durchzuhalten, weil beide Ebenen insbesondere im bundesdeutschen Kontext eng miteinander verwoben sind und häufig aufeinander reagieren. Etwas zu oft driftet der Blick von der eigentlichen Fragestellung nach der Selbst- u. Fremddarstellung auch auf die realgeschichtliche Ebene ab, etwa auf das Verhältnis des BdV zur Politik oder auf seine programmatische Entwicklung.
Die Selbstdarstellung des BdV erscheint dabei bis 1990 und selbst noch darüber hinaus erstaunlich konsistent. Über den gesamten Zeitraum inszenierte sich der Verband einerseits als die einzige und umfassende Vertretung aller deutschen Vertriebenen und andererseits als ein politischer Interessenverband, der gesamtnationale Interessen vertritt. Dies bestand bis 1990 in dem Streben nach einer deutschen Einheit in den Grenzen von 1937. Nach dem ersten Rückschlag in dieser Frage 1970 setzte eine bis in die Mitte der 1990er Jahre dauernde „Reflexionsphase“ (S. 100) ein, in der neben dem Grenzdiskurs auch der Opferdiskurs stärker verfolgt wurde. Dieser wurde nach der endgültigen Niederlage in der Grenzfrage 1990 und insbesondere nach der Wahl Erika Steinbachs zur Präsidentin 1998 das dominante Feld der Selbstdarstellung, das seinen materialisierten Ausdruck im Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen fand. Jakubowska zeigt dabei anschaulich, dass der BdV schon früh als Opferverband in mehrfacher Hinsicht auftrat: Opfer nicht nur der Vertreibung, sondern auch der vermeintlichen politischen und erinnerungskulturellen Diskriminierung und Ausgrenzung. Ohne dass die Autorin selbst auf die umstrittene These von der „zweiten Vertreibung“ eingeht, die Manfred Kittel aufgestellt hat, zeigt sich in ihrer Arbeit, dass Kittel damit weitgehend einer Selbstdarstellung des BdV folgt. [3]
Die bundesdeutsche Fremddarstellung des BdV weist ebenfalls starke Kontinuitäten auf. Folgte sie in den ersten Jahren weitgehend der Selbstdarstellung des Verbandes, wurde ihm ab Mitte der 1960er Jahre immer weniger politisches Gewicht zugesprochen. Nach 1970 fand er nur noch wenig öffentliche Beachtung. Als sie in den 1980er Jahren wegen der neuen öffentlichen Anerkennung durch die Kohl-Regierung wieder etwas anstieg, veränderte dies das Urteil über den kaum noch vorhandenen politischen Einfluss und gesellschaftlichen Rückhalt nur geringfügig. Erst mit dem Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen der neuen Präsidentin Erika Steinbach erhielt der BdV ab 1999 eine nie gekannte mediale Aufmerksamkeit. Nach dem Scheitern in der Grenzfrage wurde der BdV nun als ein gewichtiger geschichtspolitischer Akteur wahrgenommen, der dem deutschen Identitätsdiskurs wesentliche Impulse gab.
Dies wurde auch in der polnischen Presse so gesehen, allerdings wesentlich negativer beurteilt. Die Skepsis gegenüber dem BdV war hier aufgrund einer bis 1990 verfolgten Instrumentalisierung des Verbandes für eine Propaganda der Angst gegenüber westdeutschen Revanchisten stark ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund wurde der Einfluss des BdV auch in der freien polnischen Presse nach 1990 nicht selten überschätzt. Teilweise bestätigten die politischen Forderungen und das erinnerungskulturelle Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen alte Ängste.
Der Blick sowohl auf die polnische als auch auf die westdeutsche Perspektive auf den BdV erweitert die oftmals national begrenzten Sichtweisen. Diese Erweiterung findet allerdings ihre Grenzen darin, dass diese beiden Perspektiven unverbunden bleiben und auch keinem Vergleich unterzogen werden. Insgesamt bietet das Buch aber trotz der Fokussierung auf die Selbst- und Fremddarstellungen einen guten Überblick über die Entwicklungsgeschichte des BdV und seiner öffentlichen Wahrnehmung in beiden Ländern.
[1] Vgl. Stickler, Matthias: Forschungen zur Geschichte der Vertriebenenverbände. Hinweise auf ein wenig beachtetes Arbeitsfeld der jüngeren Zeitgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 469-493, hier S. 470. Vgl. Ders.: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972, Düsseldorf 2004.
[2] Leider nicht ins Deutsche übersetzt: Ociepka, Beata: Związek Wypędzonych w systemie politycznym RFN i jego wpływ na stosunki polsko-niemieckie 1982–1992, Wrocław 1997.
[3] Vgl. Kittel, Manfred: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982), München 2007.