Literatur und Kultur von unten zu betrachten, das ist Anliegen und zugleich Methode dieses Buches zur Entstehung eines künstlerischen Undergrounds und seiner Vorgänger in verschiedenen Metropolen Ostmitteleuropas. Die Betrachtung der Stadt als Handlungsort, Thema, Motiv und Topos wird mit der Entwicklung der Ästhetik des Undergrounds als literarischer, künstlerischer und subkultureller Bewegung verbunden. Die Beiträge dieser Aufsatzsammlung gruppieren sich thematisch locker um die Themen Underground (in verschiedenen Definitionen), Stadtdarstellung und die Konstituierung der Postmoderne. Als theoretisches Bindeglied wird das Konzept der „Vertikalität" (S. 7) eingeführt. Sie steht metaphorisch für den Wechsel zwischen ‚oben' und ‚unten', der sich in unterschiedlichen medialen Darstellungen der Stadt abbildet und der den Herausgeberinnen als Merkmal der Moderne gilt. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird die moderne Großstadt zum Schauplatz dieser „Urbanität" (ebd.), die auch einen ästhetischen Aspekt enthält und in der Kunst des Undergrounds verhandelt wird. Dieser nimmt in der Stadt zugleich die Position eines Gegenortes ein: „Underground-Kunst als paradigmatische Form einer subversiven Poetik nimmt sich in oft aggressiver Expressivität die Freiheit zu solch zwanglosem und spielerischem Umgang, behauptet aber zugleich, eine repressive Normativität verwehre eben dies gemeinhin" (S. 7). Der Blick auf das Unten, die Keller, Bunker, Kanäle der Stadt wird damit zu einer produktiven Analysekategorie, die „Vertikalität" nimmt eine zentrale Rolle in der (Neu-)Beurteilung von Texten ein. Beiträge vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zur deutschen, polnischen, tschechischen, slowakischen, ukrainischen und ungarischen Literatur greifen diese These auf und zeichnen ein facettenreiches Bild des Undergrounds in Literatur und Kultur.
Das Verständnis von Underground wird von den Herausgeberinnen nicht eindeutig festgelegt, sondern als „erkenntnisleitende[r] Fluchtpunkt" (S. 8) für literatur- und kulturwissenschaftliche Studien gesehen. So wird Underground in den Beiträgen als literarisches Motiv, als Metapher, als Akt und Handlungsweise, als Thema oder Topos verstanden. Sinnverwandte Ausdrücke wie Underground vs. Untergrund (im Beitrag von Gertraude Zand, S. 30), Underground vs. Overground (S. 139) und das Untergründige (S. 88) spiegeln diese Breite wider. Die Definitionen von Underground werden außerdem durch den Abgleich und die Absetzung von Subkultur, Avantgarde oder Popkultur in den verschiedenen Beiträgen in Bezug auf den jeweiligen Gegenstand ausgehandelt und immer wieder neu präzisiert und verschoben. Das politische Verständnis des Untergrunds, das auch die Samisdatliteratur mit in den Blick nimmt und den Untergrund als Form illegaler Existenz auffasst, ist implizit vorhanden, spielt aber keine zentrale Rolle. Theoretisch angereichert wird das Konzept durch die Zusammenführung mit Foucaults Heterotopien im Beitrag von Christine Gölz über Jáchym Topols Roman „Die Teufelswerkstatt". Underground in seinen verschiedenen Les- und Schreibarten wird dabei grundsätzlich als ästhetisches Phänomen verstanden.
Insgesamt zeigt sich in der Breite der Ansätze, die alle den „Fluchtpunkt" Underground als Ausgangspunkt für ihre eigenen Studien nehmen, dass der Band nur mit einem entsprechenden theoretischen Vorwissen in Bezug auf Raum- und Erinnerungstheorien verstanden werden kann. Dann allerdings bieten die verschiedenen Beiträge interessante Einblicke in den Zusammenhang von Stadt, Underground/Untergrund und (Post-)Moderne in literarischen Werken.
Die Aufsatzsammlung gliedert sich in 4 Oberthemen, durch welche noch weitere relevante Konzepte der Raumtheorie eingeführt werden. Den Auftakt bilden zwei Analysen zu „Underground-Ästhetiken im 19. Jahrhundert", so der Titel des Kapitels, mit jeweils einem Beitrag zu E.T.A. Hoffmann und Božena Němcová. Während in dem Beitrag zu E.T.A. Hoffmann seine Erzählung „Der Dichter und der Komponist" in Hinblick auf ihre Vertikalität und ihre Einschreibung in den Underground untersucht wird, betrachtet die Studie zu Božena Němcová die Lebenssituation der Schriftstellerin im Untergrund und ihr (nicht-literarisches) Schreiben als eine mögliche ästhetische Ausdrucksform. Eine „Ästhetik des Unten" wird als Gemeinsamkeit zwischen den Vorläufern des Undergrounds im 19. Jahrhundert und seinen späteren Formen festgestellt. Allerdings fehlt hier noch die Großstadt, die im 20. und 21. Jahrhundert den Underground als Motiv und Topos ebenfalls prägt.
Die anderen drei Teile legen daher auch den Analysefokus auf die Stadt, was sich in den Zwischentiteln zeigt: Teil 2 „Im Untergrund des Urbanen" bezieht sich auf die Topographien der Keller, Labyrinthe und Bunker, die in den Beiträgen untersucht werden. Neben Aufsätzen zu literarischen Werken von Wolfgang Hilbig, Péter Nádas und Ágnes Nemes Nagy findet sich dort ein kulturwissenschaftlicher Aufsatz von Torsten Erdbrügger zur „Zeichenhaftigkeit von Bunkern".
Das dritte Kapitel trägt den Zwischentitel „Städte als Gedächtnis". Hier wird die Funktion des Untergrunds einer Stadt in Bezug auf das kollektive und kulturelle Gedächtnis untersucht. So zeigt beispielsweise Peter Zajac, wie sich das Bild der Stadt Bratislava verändert, wenn sie nicht von der Burg, sondern, wie in Jana Beňovás Text „Café Hyena", von der Plattenbausiedlung Petržalka aus konstruiert wird. Der letzte thematische Block, „Stadt-Wenden" ist historische Marke und strukturelle Ästhetik in einem. In Beiträgen zur sog. wendigen Raumkonstruktion in den Städten nach 1989 wird die Raumwende mit der politischen Wende zusammengebracht.
Aus polonistischer Perspektive sind zwei Beiträge besonders lesenswert: Der Text von Birgit Krehl zu Marek Krajewskis Breslau-Krimis und der Aufsatz von Alfrun Kliems über Stasiuks postsozialistisches Warschau. Krehl analysiert die narrativen Verfahren zur Darstellung des „deutschen" Breslaus in Absetzung zum „polnischen" Wrocław in den populären Kriminalromanen Krajewskis und kommt zu dem Schluss, dass in den Romanen ein „magisch-währendes Breslau" erzeugt wird. Die Stadtkonstruktion im Roman forme also keinen Erinnerungsort (im Sinne Pierre Noras lieu de mémoire) und sei damit nicht wichtig für eine nationale Identitätskonstruktion. Stattdessen bilde sie eine Retro-Kulisse für die Handlung.
Alfrun Kliems diskutiert Andrzej Stasiuks Warschau-Roman „Neun" („Dziewięć") und führt vor, wie der als Galizien-Schriftsteller bekannt gewordene Stasiuk dennoch als Underground-Autor verstanden werden kann. Sie zeigt auf, dass Stasiuk sich selbst als Underground-Autor inszeniert und sich in die „performative Poesie des Undergrounds" einschreibt (S. 241). Im Roman wird Warschau als Stadt zwischen Ober- und Unterstadt sowie Zentrum und Peripherie dargestellt. Die Kategorie des Undergrounds wird vorwiegend metaphorisch zur Analyse der Romanstruktur verwendet. Die Vertikalität löst sich immer stärker zugunsten einer Horizontalität auf, die schließlich im Gegensatz von Stadt und Land mündet (vgl. S. 256).
Richtungsweisend für eine Auseinandersetzung von Ost und West in Bezug auf Stadtsemantiken ist der Beitrag von Tatjana Hoffmann über Serhij Žadans „postproletarischen Punk" (S. 198). Sie sieht den Autor als einen Vertreter der Ostukraine, die aus verschiedenen Perspektiven einem „Othering" unterliegt. Dieses funktioniert parallel zu der Dichotomie West- und Osteuropa und führt dazu, dass die Ostukraine als Gegenstück zu einer positiv konnotierten Westukraine aufgefasst wird (vgl. S. 200). Hoffmann beschreibt Žadan als Schriftsteller, der sich in seinem Schaffen in Literatur und Musik einer (inter-)nationalen Anpassung verweigert und dessen Texte von der „Freilegung hierarchiefreier semantischer Anschlüsse" (S. 225) leben.
Allen Beiträgen gemeinsam ist das Ausloten eines neuen‚ „untergründigen" Terrains, was nicht immer unproblematisch ist. Problemfelder sind, neben dem mehrdeutigen Verständnis von Underground selbst, die damit einhergehende Definition von Moderne und ihrer Phänomene wie der Großstadt. Hier zeichnen sich also noch einige Unklarheiten ab, die in den Beiträgen, auch aufgrund der thematischen Breite, nicht geklärt werden können. Das Autorenverzeichnis, das nur bis zum Buchstaben M führt, müsste vervollständigt werden.
Insgesamt bringt die Aufsatzsammlung neue theoretische Ansätze mit teilweise eher unbekannten Werken, Autor/-innen und Städten zusammen und öffnet dadurch den Blick auf neue Möglichkeiten und Funktionen der Raum- und Erinnerungstheorie.
Der Sammelband schließt an die schon entstandenen Arbeiten der Leipziger Forschungsgruppe „Spielplätze der Verweigerung. Topographien und Inszenierungen von Gegenöffentlichkeit" an und wird durch andere Projekte weitergeführt. Zuletzt ist die Monographie „Der Underground, die Wende und die Stadt. Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa" (2015) von Alfrun Kliems erschienen, die die theoretischen Fragen zum Underground weiterführt.
Auf seinen nur gut 250 Seiten bietet der Band bietet eine große Fülle von Themen, Ideen und Ansätzen. Eine deutliche Verbindung zwischen den Beiträgen, die Übersicht und Ordnung bieten würde, fehlt jedoch und lässt das Gesamtbild eher skizzenhaft erscheinen. Die Zwischenüberschriften helfen ein wenig bei der Orientierung, allerdings sind sie keine trennscharfen Kategorien; viele Beiträge könnten auch in einem anderen Kapitel stehen. Die folgenden Bände, die aus der Beschäftigung mit dem Underground entstanden sind, versprechen jedoch, diese theoretische Lücke zu schließen. Das vorliegende Werk vermittelt bereits jetzt interessante Einblicke in die Tiefen des Raumes, die weitere Entdeckungen möglich machen.