Ausgehend von den Musikentwicklungen in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts, die in Verbindung zur afrikanischen und europäischen Tradition stehen, stellt Jazzmusik weltweit eine der populärsten musikalischen Ausdrucksformen dar. Dieser Erfolg ist (musik-)historisch mehrfach aufgearbeitet worden und somit geläufig. Weit weniger besteht Kenntnis darüber, welche Anziehungskraft der amerikanische Jazz zu Zeiten des Ost-West-Konflikts auch auf Bevölkerungsteile in den sogenannten Ostblockstaaten besaß. Christian Schmidt-Rost hat das Ziel, die unterschiedlichen Faktoren zur Herausbildung einer Jazzszene in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Volksrepublik Polen (VRP) herauszuarbeiten und damit in Zusammenhang stehende transnationale Übertragungsprozesse offenzulegen. Seine Studie konzentriert sich auf die Zeit von 1945 bis in die frühen 1970er Jahre, auch wenn sie teilweise in die Zwischenkriegszeit zurückgreift bzw. Ausblicke bis in die 1980er Jahre enthält. Die Publikation ist der dritte Band der Reihe „Jazz under State Socialism", dem 2010 bereits die Publikation „Jazz Behind the Iron Curtain" von G. Pickhan und R. Ritter sowie der Forschungsbeitrag „Jazz in Poland. Improvised Freedom" von I. Pietraszewski (2014) vorausgegangen waren. [1]
Christian Schmidt-Rost belegt seine Darstellungen nicht nur fundiert aus der Fachliteratur, sondern auch nachvollziehbar anhand eines umfassenden Quellenfundus. Dieser besteht neben Printmedien wie Musikfachzeitschriften und autobiographischen Druckzeugnissen auch aus Bezügen zu Konzertmitschnitten. Daneben wurden zahlreiche Archivmaterialien ausgewertet, im Einzelnen Bestände des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA), der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), den Kulturministerien und Staatssicherheitsdiensten der DDR und der VRP sowie des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB), der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und des Verbandes Polnischer Studenten (ZSP).
Die Studie rückt thematisch drei Anliegen in den Mittelpunkt: die Klärung der Frage, wie der Jazz in die DDR und in die VR Polen gelangte, wie sich die Szene entsprechend organisierte und welche Schlüsse sich daraus für das Verhältnis zwischen Herrschaft und Beherrschten ziehen lassen. Insgesamt ist die Darstellung der Zusammenhänge chronologisch und folgt den stetigen Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozessen, wie sie insbesondere in der polnischen Jazzszene ab 1956 und gegen Ende der 1970er Jahre in der DDR einsetzten. Als vierter Aspekt kommt das methodische Bestreben des Autors hinzu, der versucht zu ergründen, wie „die Geschichte von Verflechtungen und Übertragungen sinnvoll konzipiert und geschrieben werden" kann (S. 243). Dies findet eindrucksvoll Eingang in den Aufbau der Studie: In einer Art „Methodentriangulation" kombiniert Schmidt-Rost Ansätze der Verflechtungsgeschichte [2] mit dem Kulturtransfermodell H. J. Lüsebrinks [3], um bestimmte Zugangsmöglichkeiten oder Handlungsweisen nachzuzeichnen, die als Voraussetzungen für eine Aneignung des amerikanischen Jazz in der DDR und der VR Polen zu betrachten sind (vgl. S. 9ff.). Bei der Frage nach dem Grad von „Selbstorganisation", der Einschätzung von „Widerständigkeit" und um bestimmte Bewegungsräume zwischen staatlichem Herrschaftsanspruch und individuellem Interesse vonseiten der Akteure im Jazz-Milieu zu konkretisieren, greift er zudem auf das alltagsgeschichtliche Konzept des „Eigen-Sinns" zurück. [4] Es findet bei der Klärung der drei folgenden Sachverhalte Anwendung: 1. Im Falle der politisch motivierten Auflösung der christlichen Jugendorganisation Związek Młodzieży Chrześcijańskiej Polska (YMCA) Ende der 1940er Jahre (in Kap. 3), die er als „Geburtshelfer der polnischen Jazzszene" betrachtet (S. 63). 2. Im Bezug auf die Durchführung so genannter „Jazz-Gottesdienste" im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit in der DDR seit Mitte der 1960er Jahre (in Kap. 7). 3. Mit der Betrachtung des Einzelschicksals von Reginald Rudorf (in Kap. 6), der „als hybrider Akteur [...] (1953-1956) innerhalb der Partei, des Rundfunks und der FDJ [...] wesentlich zur Vernetzung der Jazzfreunde in der DDR beitrug" (S. 106), gegen den, wegen öffentlicher kritischer Äußerungen zum kulturpolitischen Kurs der SED, 1956 jedoch ein politisch motivierter Strafprozess geführt wurde. Zahlreiche Persönlichkeiten der ostdeutschen, der polnischen, aber auch der amerikanischen und westdeutschen Jazzszene kommen mit weit mehr als nur Anekdoten zu Wort. Hier liegt sicherlich eine der wesentlichen Stärken der Publikation, die häufig zusammenfassend und abwägend die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt.
Ausgehend von Lüsebrinks Kulturtransfermodell, das einen Auswahlprozess in einer Ausgangsgesellschaft (hier: USA), einem Vermittlungsprozess durch „hybride Akteure" (hier: zwischen den USA, West- und Ostmitteleuropa bzw. auch den betreffenden Ländern untereinander) und einem Rezeptionsprozess in der Aufnahmegesellschaft (hier: die SBZ/DDR und Polen) definiert, gliedert sich die Studie in drei Teile. Im ersten Abschnitt beleuchtet der Autor Möglichkeiten des „Zugangs" zur amerikanischen Jazzmusik 1945-1948 in der SBZ und Polen und analysiert die Funktion von Übertragungsmedien. Neben Radiostationen wie American Forces Network (AFN), Voice of America (VoA) oder Radio Luxemburg, deren Jazzendungen in der SBZ und Polen empfangen werden konnten, nimmt Schmidt-Rost vor allem auf bereits gesammelte und dauerhaft zugängliche Massenmedien wie Schallplatte oder westliche Printmedien wie Jazz-Zeitschriften Bezug. In sogenannten „Agenten des Transfers", z. B. in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, die Jazz spielten, deutschen oder polnischen Musiker, Orchesterleitern mit Affinität zur Jazzmusik oder sogenannten „Swings, d. h. Enthusiasten, die sich in der Zwischenkriegszeit mit Jazz und Swing befassten" (S. 61) und nach 1945 in der SBZ wie auch in Polen bereits auf einen angesammelten Erfahrungsschatz zurückgreifen konnten, sieht er einen wesentlichen Faktor für einen Austauschprozess von Wissen und Praktiken. Mit Verschärfung des Ost-West-Konfliktes und in Analogie zur Umsetzung des marxistisch-leninistischen Kulturprogramms des Sozialistischen Realismus 1948/49 änderten sich die Zugangsmöglichkeiten jedoch, wodurch etwa das Sammeln neuer Schallplatten oder Jazz-Zeitschriften aus dem Westen, wenn überhaupt, nur noch auf „Schleichwegen" möglich war (S. 37ff.).
Der Mittelteil der Studie beleuchtet die Strategien, die entwickelt wurden, um sich auch weiterhin mit Jazzmusik auseinandersetzen zu können. Sowohl das Abhören und Nachspielen von Jazz in Radiosendungen, das gemeinsame Hören von Schallplatten bei privaten Zusammenkünften, das Sammeln von Materialien und Informationen, etwa durch Mitschriften oder Mitschnitte westlicher Jazz-Sendungen, oder auch Schallplattenvorträge mit Musikbeispielen und musikhistorischen Kommentierungen durch Kenner ermöglichten den Austausch von Wissen und Praktiken. Da jegliche Formen der Selbstorganisation dem staatsozialistischen Erziehungsanspruch widersprachen und zu Einschränkungen und Verboten führten, zog sich die Jazzszene zwischen 1949 und 1954 in beiden Staaten aus der Öffentlichkeit zurück. Trotzdem suchten Einzelpersonen weiter nach Nischen und versuchten, die eigenen Ambitionen in den Strukturen sozialistischer Jugendorganisationen wie FDJ oder ZSP zu verwirklichen.
Mit der Tauwetterphase infolge des Todes Stalins 1953 öffneten sich ab etwa 1954 vermehrt Freiräume. Während allerdings in der DDR 1956/57 wieder restriktive Maßnahmen gegen die Jazzszene ergriffen wurden, erhielt die polnische Jazzszene infolge der kulturpolitischen Öffnung 1956 weitgehende Freiheiten, die auch einen Austausch mit der westeuropäischen und amerikanischen Jazzszene erlaubten. Die zweimalige Durchführung des gesamtpolnischen Jazz-Festivals in Zoppot (1956, 1957), die Gründung der Zeitschrift JAZZ oder die Konstituierung einer Föderation der polnischen Jazzklubs 1956 stehen am Anfang einer dynamischen Weiterentwicklung der Szene, die mit wachsender Akzeptanz auch immer mehr staatliche Unterstützung erfuhr. Auf der anderen Seite unterstützte das US-State Department im Rahmen der amerikanischen Kulturdiplomatie wiederum Aufenthalte von Jazz-Musikern in Europa. Auf diesem Wege besuchte Dave Brubeck beispielsweise Mitte der 1960er Jahre auch Polen.
Die Frage nach dem „Zugriff" auf Jazzmusik und damit zusammenhängenden Kommunikationsprozessen prägt den dritten Teil der Studie. Er basiert auf einer gewinnbringenden Differenzierung des Lüsebrink'schen Kulturtransfermodells (Schmidt-Rost definiert darin lobenswerterweise „transnationale Kommunikationsräume"). Ausgehend vom Newport Jazzfestival in den USA, das in der Art seiner Umsetzung als Vorbild galt, sieht er in der seit 1958 in Warschau durchgeführten Jazz Jamboree und in dem ab 1971 stattfindenden Dixieland-Festival in Dresden entscheidende Foren, die auf der Grundlage eines international übergreifenden Austauschs und weiterführender Kontakte und Initiativen die Szene weiter vernetzte, professionalisierte und auch kommerzialisierte. Vor allem bei der Jazz Jamboree, dem größten und wichtigsten Jazzfestival im Ostblock, traten zahlreiche westeuropäische und amerikanische Musiker auf und beteiligten sich am Rande an Jam-Sessions in den umliegenden Klubs. Deutlich wird auch, dass in einer solchen Atmosphäre und mit nachdrücklicher Unterstützung der polnischen Organisatoren die Gründung der blockübergreifenden Europäischen Jazzföderation vorangebracht und die englische Ausgabe der ebenfalls erfolgreich in Polen herausgegebenen Zeitschrift „Jazz Forum" zu deren Organ erhoben wurde.
Die Stringenz, mit der Christian Schmidt-Rost seine sorgsam abgewogenen methodischen Grundlagen umsetzt und sie im Rahmen einer plausiblen Zusammenstellung ausgewählter Themenbereiche und Beispiele zu einem schlüssigen Konzept fügt, ist durchaus bemerkenswert. Er schlüsselt die Gliederungspunkte in transparenter Weise auf, wiederholt und fasst bestimmte Aspekte zusammen, um in einen nächsten Abschnitt überzuleiten und legt damit eine lesenswerte, nachzuvollziehende und zweifellos informative Studie vor, die weiter Licht in das Dunkel der (musik-)kulturellen Beziehungen „zwischen Ost und West" zu Zeiten des Kalten Krieges bringt. Aus einer musikwissenschaftlichen Perspektive wären nähergehende Erläuterungen zu einigen musikalischen Sachverhalten noch durchaus wünschenswert, denn in dem Moment, in dem Schmidt-Rost auf das „Abhören und Nachspielen" (S. 82ff.) eingeht, fehlt zum Beispiel eine Beurteilung des musikalischen Transfer- und Adaptionsprozesses. Im Hinblick auf die musikalischen Konsequenzen, die sich aus der (Eigen-) Interpretation von „Jazz" durch Musiker in der DDR und Polen ergaben, wäre es in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, wie sich das meist autodidaktische Abhören und Transkribieren von Spieltechniken und Melodieverläufen aus dem Radio oder von Schallplatten beispielsweise auf die Intonation und den Umgang mit melodischen Verzierungen auswirkte. Und auch mit Bezug auf das Repertoire der angesprochenen Festivals wäre eine tabellarische Zusammenstellung von beteiligten Musikern, Bands und Werken für den Überblick sicher noch hilfreich gewesen. Da Schmidt-Rost jedoch aus der Perspektive des Historikers auf Umgangsformen mit Jazzmusik blickt, kann ihm und seiner Studie ein solcher Vorwurf allerdings nur schwer angelastet werden.
[1] Gertrud Pickhan/Rüdiger Ritter (Hg.): Jazz Behind the Iron Curtain, Reihe: Jazz under State Socialism, Bd. 1, Frankfurt a. M. [u.a.] 2010; Igor Pietraszewski: Jazz in Poland: Improvised Freedom, Reihe: Jazz under State Socialism, Bd. 2, Frankfurt a. M. [u.a.] 2014.
[2] Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten - Europa in einer Postkolonialen Welt, in: ders. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 9-49; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire Croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 2002, Nr. 28, S. 607-636.
[3] Hans-Jürgen Lüsebrink: Kulturtransfer – Neue Forschungsansätze zu einem interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften, in: Helga Mitterbauer, Katharina Scherke (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart, Göttingen 2007, S. 23-42.
[4] Alf Lüdtke (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991; Thomas Lindenberger: SED-Herrschaft als soziale Praxis. Herrschaft und Eigen-Sinn, in: Jens Giesecke (Hg.): Staatsicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 23-47.