Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine Dissertation, die an der Universität Basel eingereicht wurde. Annina Cavelti Kee untersucht darin die Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts am Beispiel der irischen und der polnischen Gesellschaft (in Preußisch-Polen) im Sinne einer histoire croisée nach Michael Werner und Bénédicte Zimmermann. Neben diesem Ansatz greift die Verfasserin auf John Hutchinsons Konzept des kulturellen Nationalismus zurück, welches vor allem das Wirken und den Einfluss kultureller Vereine und Funktionsträger untersucht. Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, inwieweit die katholische Kirche als Stütze der sogenannten kulturellen Nationalisten auftrat und die Nationsbildung in beiden Gesellschaften beeinflusste (S. 2). Die Autorin folgt der Unterscheidung von Hutchinson in „kulturelle" und „politische Nationalisten", wobei ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gruppierungen darin bestehe, dass sich Erstere auf die Erhaltung (Preußisch-Polen) bzw. Ausbreitung (Irland) von Sprache und Kultur konzentrierten und dabei Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Forderungen ablehnten – anders als die politischen Nationalisten, die eine führende politische Rolle anstrebten und vor Gewalt nicht zurückschreckten. Gerade diese Ablehnung der Gewalt machte es für die katholische Kirche einfacher, die Agenda der „kulturellen Nationalisten" (mit) zu tragen.
Im einführenden Kapitel (S. 15-48) reflektiert die Verfasserin den aktuellen Stand der Nationalismusforschung, wobei sie sich u.a. auf Eric J. Hobsbawm, Ernest Gellner, Dieter Langewiesche oder Benedict Anderson bezieht. An dieser Stelle hätten sich noch Reflektionen zum Konzept der „nationalizing states" nach Rogers Brubaker als fruchtbar erweisen können, zumal dieser staatliche Bemühungen um die Nationalisierung von Politik, Gesellschaft und Kultur in den Mittelpunkt stellt. [1] Während Cavelti Kee eine nahezu umfassende Übersicht zu Nation und Nationalismus gelingt, bleiben ihre anschließenden Ausführungen zur Religion (S. 48-55) hingegen vage.
Im anschließenden dritten Kapitel (S. 57-162) behandelt die Autorin ausschließlich die Entwicklungen in Irland, wobei sie auf bisher vorhandene Literatur sowie auf publizierte wie nicht veröffentlichte Archivquellen zurückgreift. Das anschließende vierte Kapitel (S. 163-226) widmet sich wiederum ausschließlich Preußisch-Polen, bevor sich die Autorin in einem fünften Kapitel mit der Bedeutung des kulturellen Nationalismus auseinandersetzt (S. 227-258), die Untersuchungsgegenstände zusammenführt und vergleichend die Ergebnisse zusammenträgt. Abgerundet wird die Studie mit einem kurzgefassten Schlusskapitel samt Ausblick (S. 259-268). Kürzere Fazits zwischen den einzelnen Kapiteln durchbrechen diesen Ausbau.
Cavelti Kees Herangehensweise ist nicht unproblematisch: Ein Problem ergibt sich bei den zu vergleichenden Untersuchungsräumen, die unterschiedlich intensiv bearbeitet werden, was sich bereits im oben beschriebenen Umfang der einzelnen Kapitel widerspiegelt. Während der Teil über die Entwicklung in Irland über weite Strecken überzeugt, fällt der polnische Part merklich ab. Ein gravierendes Problem sind die fehlenden Polnischkenntnisse der Autorin, die sie selbst auch einräumt (S. 13). Daher werden kaum zeitgenössische (polnischsprachige) Quellen und nur einige wenige deutschsprachige ausgewertet, gleiches gilt für die einschlägige polnischsprachige Literatur. So konnten z.B. die zentralen Studien von Szczepan Wierzchosławski nicht einbezogen werden. [2] Auch die englischsprachige Literatur zur Entwicklung der polnischen Nation (und zur Verknüpfung mit dem Katholizismus) weist Lücken auf, so fehlt etwa die Studie von Brian Porter-Szűcs. [3] Die „kulturellen Nationalisten" werden über weite Strecken als nebulöse Gruppe dargestellt, ohne dass auf den Personenkreis, aus dem sie sich rekrutierten, eingegangen wird; so kommt auch der polnische Adel in der Studie nicht vor. Dieses Ungleichgewicht zwischen Preußisch-Polen und Irland wird zudem in den zusammenführenden Kapiteln deutlich, die ausschließlich das irische Beispiel beleuchten – so etwa bei den Ausführungen zur „Beziehung zwischen kulturellem und politischem Nationalismus" (S. 251-253) im vergleichenden Kapitel.
Die irische Fallstudie gelingt der Autorin – wie oben erwähnt – deutlich besser, auch wenn Cavelti Kee hier nur wenig Archivmaterial nutzt. Es wird deutlich, dass sich die „kulturellen Nationalisten" der Infrastruktur der Kirche bedienten (S. 142), um ihre Forderungen nach dem Erhalt „irischer" Sportarten und der irischen Sprache unter die Bevölkerung zu bringen. Auch verschiedene „kulturelle Nationalisten", die sich teilweise als Funktionsträger der katholischen Kirche entpuppen, werden in diesem Kapitel profilierter dargestellt als im polnischen Teil. Des Weiteren zeigt die Verfasserin überzeugend, dass die kirchliche Hierarchie vor allem Aktivisten unterstützte, die gemäßigten Bewegungen entstammten, während sie radikalisierte (und damit auch politisierende) Akteure mit Skepsis bedachte (S. 238 f., 264).
In der Studie fehlen mancherorts Belege (z.B. S. 220, 241), etwa in den Anmerkungen (Fn. 241, 246), teilweise ist an einigen wenigen Stellen auch nicht nachvollziehbar, ob es sich um Cavelti Kees eigene Gedanken und Schlussfolgerungen handelt (S. 138, 219, 241); darüber hinaus sind manche Aussagen missverständlich formuliert bzw. es fehlen dem Verständnis helfende Ausführungen (S. 69, 143, 166, 193, 225, 238). Gerade zum Ende hin häufen sich orthografische Fehler, die den Lesefluss trüben. Zudem tauchen in der Studie für die polnische Historiografie eher unübliche Bezeichnungen auf; etwa, wenn Polen-Litauen als „Königreich" bezeichnet wird, was faktisch zwar nicht falsch ist, die Eigenheiten des Staates sich mit dem verbreiteten Terminus „Adelsrepublik" hingegen treffender darstellen lassen. Unklar ist auch, was die Verfasserin mit der „bisherige[n] polnische[n] Verfassung" vor 1764 meint (S. 164).
Die auf S. XVII abgedruckte Karte der polnischen Teilungen gibt das Gebiet Preußisch-Polens nicht korrekt wieder, da die Grenzziehung der letzten Teilung von 1795 nach den Napoleonischen Kriegen vom Wiener Kongress verändert wurde. Die in der Studie postulierte, klare konfessionelle Unterscheidung zwischen „protestantischen Deutschen" und „katholischen Polen", die im preußischen Staat möglich gewesen sein soll, mag für die Provinz Posen, auf welche sich die Untersuchung dem titelgebenden Preußisch-Polen zum Trotz konzentriert, stimmen. Ein „Blick über den Tellerrand der Region Preußisch-Polen hinaus" zeigt jedoch, dass dieses konfessionelle Identifikationsmerkmal für andere Regionen Preußens – etwa Ostpreußen/Masuren oder auch Oberschlesien – nicht so eindeutig war. Gerade Oberschlesien kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Überlegungen zum „kulturellen Nationalismus" und dem identifikationsstiftenden Merkmal der Konfession nur in Ansätzen den Entwicklungen in der Provinz Posen entsprechen, da hier sowohl „Deutsche" als auch „Slawophone" katholisch waren. Dennoch kam es im Zuge der staatlich getragenen „Nationalisierung" zu (kulturellen) Konflikten, die sich u.a. um die Nutzung des Polnischen im Religionsunterricht drehten – wo wieder Brubakers „nationalizing states" relevant werden. Die Ausführungen Cavelti Kees, dass viele Iren ihre Englischkenntnisse ausbauten, während die Kenntnisse des Irischen abnahmen, um sich so eine „‚Fahrkarte' in eine bessere Welt" zu ermöglichen (S. 105), lassen sich beinahe eins zu eins auf den oberschlesischen Fall übertragen. [4]
Nach der Lektüre der Studie bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Der Ansatz, Polen und Irland im 19. Jahrhundert zu vergleichen und sich dabei einerseits auf das Konzept des „kulturellen Nationalismus" einzulassen, andererseits die besondere Rolle der katholischen Kirche zu beleuchten, ist in Verbindung mit der Methode der histoire croisée ein interessanter Ansatz. Die Autorin geht in ihren Reflektionen aus meiner Sicht zu Recht auf die problematische Unterscheidung zwischen „kulturellem" und „politischem" Nationalismus ein und stellt Hutchinsons Theorie damit in Frage. Die oben gezeigten Probleme – die unterschiedlich intensive Bearbeitung der Vergleichsentitäten, die Oberflächlichkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem preußisch-polnischen Part – schmälern die Umsetzung dieses interessanten Ansatzes jedoch merklich und führen dazu, dass die Argumentation nicht immer nachvollziehbar ist.
[1] Brubaker, Rogers: Nationalism reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, Cambridge 2004.
[2] Wierzchosławski, Szczepan: Elity polskiego ruchu narodowego w Poznańskiem i w Prusach Zachodnich w latach 1850-1914, Toruń 1992; ders.: Ignacy Łyskowski (1820-1886). Polityk i publicysta, pierwszy prezes Towarzystwa Naukowego w Toruniu, Toruń 2000; ders. (Hg.): Modernizacja – polskość – trwanie: społeczne, kulturowe i polityczne aspekty aktywności Polaków na przełomie XIX i XX wieku, Toruń 2015.
[3] Porter-Szücs, Brian: Faith and fatherland. Catholicism, modernity, and Poland, Oxford/New York 2011.
[4] Michalczyk, Andrzej: Das oberschlesische Industrierevier in der Moderne. Von der Agrar- zur Industriegesellschaft – von lokalen zu nationalen Loyalitäten?, in: ders./Budraß, Lutz/Kalinowska-Wójcik, Barbara (Hg.): Industrialisierung und Nationalisierung. Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 2013, S. 11-44.