„Gestern wird sein, was morgen gewesen ist." Mit diesem auf dem ersten Blick verwirrenden Satz fängt die Erzählung Das Treffen in Telgte von Günter Grass aus dem Jahr 1979 an. Die These, die hinter dieser Behauptung steckt, nämlich, dass Einstellungen zur Geschichte veränderbar sind, ist die Voraussetzung für das wachsende Interesse am Thema des hier zu besprechenden Buches. Es geht darin vor allem darum, wer, wie und zu welchen Zwecken Geschichtspolitik betreibt und dadurch die öffentliche Meinung beeinflussen will. Es versteht sich von selbst, dass die Ereignisse seit 1989 zu neuem Nachdenken über die Geschichte vor allem in Ost- und Mitteleuropa geführt haben.
Der Band fängt mit einer Einleitung des Mitherausgebers Stefan Troebst an, der näher auf den Begriff der Geschichtspolitik eingeht. Er erläutert seine Genese, spricht von einigen Kontroversen und resümiert die Literatur zum Thema. Darauf folgen zwanzig Aufsätze von internationalen Wissenschaftlern in vier Abschnitten mit den Titeln: Akteure der Geschichtspolitik, Konkurrenz der Opfer, Meistererzählungen und Inszenierungen (wobei der Schwerpunkt auf Museen liegt). Den Band schließt ein Resümee des Mitherausgebers Etienne François ab. Einige Themen kommen in mehr als einem Abschnitt vor. Das ist keine Kritik, sondern zeugt davon, dass es sich um ein kohärentes Buch handelt, nicht um eine lose Sammlung von Aufsätzen. Eine Frage, die immer wieder auftaucht, ist die nach der Rolle der Berufshistoriker, die nicht mehr über ein Deutungsmonopol verfügen, seitdem sich zum Beispiel Politiker und Juristen immer häufiger mit der Geschichte befassen. In seinem Aufsatz Die Gegenwart der Historiker der Gegenwart kommt François Hartog zu dem Schluss, dass Historiker sich nicht auf die Zeitgeschichte beschränken, gleichzeitig aber die Bedeutung des Zeitgenössischen berücksichtigen sollten. In seinem wie auch in anderen Aufsätzen wird darauf hingewiesen, dass selbst das Wort Geschichte seine Aura verloren habe. Wenn es um die neuere Geschichte geht, rücken die Begriffe Erinnerung und Gedächtnis immer mehr in den Vordergrund. Ein Beispiel für den wachsenden Einfluss anderer Akteure als der Berufshistoriker bietet Bo Stråths Aufsatz über Geschichtspolitik in den nordischen Ländern. In Schweden habe bis in die 1990er Jahre die Auffassung geherrscht, dass das Land während des Zweiten Weltkrieges keine Alternative gehabt habe, als seine Neutralität durch Konzessionen an Deutschland zu untermauern. Seitdem aber haben fiktionale Literatur, die anhaltende Arbeit von Journalisten und Fernsehdebatten dieses offizielle Paradigma erschüttert.
In seinem Resümee stellt François fest, dass die Hälfte der Aufsätze sich mit einzelnen Ländern befasse. Daraus schließt er bestimmt mit Recht, dass die Nation immer noch als primäre Erinnerungsgemeinschaft fungiert. Für die Leser dieses Bandes ist es allerdings wichtig, dass sie ungeachtet der Erwähnung von nur drei Ländern im Untertitel Einblicke in die Entwicklungen in mehreren Ländern erhalten, über die sie wahrscheinlich nur begrenzte Kenntnisse verfügen, weil sie weniger oft im Scheinwerferlicht stehen. Manuel Loffs Aufsatz über Portugal ist ein gutes Beispiel, weil er ein besonders krasses Beispiel des Missbrauchs von Geschichtspolitik offenlegt. Er zeigt, wie die Ereignisse von 1989/1990 von rechten Kräften benutzt werden, um die Nelkenrevolution von 1974 in Misskredit zu bringen. So behaupten sie etwa, dass der Sturz des prokommunistischen Premierministers Gonçalves 1975 durchaus mit dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa zu vergleichen sei. Das Ziel dabei sei es, die Aufmerksamkeit weg von der Salazar-Diktatur zu lenken.
Zwei andere Aufsätze behandeln den potenziellen Missbrauch von Gedächtnispolitik. Michal Kopeček zeigt sich dem 2007 per Gesetz eingerichteten Institut für das Studium totalitärer Regime in Tschechien sehr skeptisch gegenüber. Er sieht es als politisch motiviertes Projekt mit dem Ziel, ein einheitliches nationales Gedächtnis zu befördern. Eine spezielle Version des französischen Kolonialismus wollte auch die konservative Mehrheit in der französischen Nationalversammlung durchsetzen; so sollten im Schulunterricht etwa dessen positive Aspekte betont werden. Matthias Middell gibt einen klaren Überblick über diese Debatte, die damit endete, dass Präsident Chirac Anfang 2006 die Rolle der Politiker als Möchtegernhistoriker in Frage stellte ̶ ein Beispiel von Zurückhaltung, das in anderen Ländern, wie die Entwicklung in Tschechien zeigt, oft nicht befolgt wird.
Die drei soeben besprochenen kenntnisreichen Aufsätze sollen einen Einblick in einen bestimmten Aspekt des Buches geben. Obwohl François die andauernde Bedeutung von Nationalstaaten betont, stellt er auch fest, dass es in Bezug auf die Geschichtspolitik immer schwieriger wird, sich auf ein Land zu beschränken. Er weist darauf hin, dass gewisse Themen – das eklatanteste Beispiel ist der Holocaust – mehrere Länder herausfordern und dass die Geschichte eines Landes oft untrennbar von denen seiner Nachbarländer ist. Der Aufsatz von Wolfram von Scheliha über den polnisch-russischen Geschichtsdiskurs erläutert eine oft sehr heikle bilaterale geschichtspolitische Beziehung. Er schließt mit der Hoffnung, dass eine Periode des Dialogs und Verständnisses bevorstehe, wobei anzumerken ist, dass sich von Scheliha auf verschiedene Entwicklungen aus dem Jahr 2012 bezieht: So löste der damalige russische Präsident Medvedev die „Kommission zum Kampf gegen Versuche der Geschichtsfälschung zum Schaden Russlands" auf, eine russisch-polnisch-deutsche Historikerkonferenz zum Thema des Zweiten Weltkriegs fand statt, und zum Ende des Jahres nahm das „Russisch-Polnische Zentrum des Dialogs und Verständnisses" seine Arbeit auf.
Aus heutiger Sicht ist allerdings festzustellen, dass sich die Lage verändert hat, seitdem die PiS 2015 in Polen an die Macht gekommen ist. Einen zentrales Thema ist hier der Flugzeugabsturz 2010 bei Smolensk, bei dem der polnische Präsident Lech Kaczyński, seine Ehefrau und viele andere polnische Würdenträger ums Leben kamen. Der Streit um die Ursache des Absturzes, ob es sich um einen wetterbedingten Unfall oder um ein, wie viele in PiS-Kreisen behaupten, von russischer Seite verübtes Attentat handelte, hat zu vielen Spannungen geführt. Unter solch schwierigen politischen Umständen ist vielleicht die Zivilgesellschaft gefragt. In ihrem Beitrag Strategien der Erinnerung in Polen – die zivilgesellschaftliche Alternative befasst sich Anna Wolff-Powęska vor allem mit den deutsch-polnischen Beziehungen, die auf politischer Ebene oft genau so problematisch wie die zu Russland waren. Als Beispiel für eine mögliche Annäherung auf zivilgesellschaftlicher Ebene verweist sie auf die Rolle der gemeinsamen Geschichte von Stettin/Szczecin und anderen Städten im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess.
Es ist auch kaum überraschend, dass angesichts der politischen Entwicklung seit 1989 die Geschichtspolitik einzelner Länder eine europäische Dimension angenommen hat. Verschiedene Aufsätze in dem Band befassen sich mit diesem Prozess. In seinem Aufsatz über die EU als „Gedächtnis und Gewissen" Europas unterstreicht Stefan Troebst im Hinblick auf die Geschichtspolitik markante Unterschiede zwischen Ost und West. Während westeuropäische Länder stets die Singularität des Holocaust betonten, lenkten die neuen EU-Länder die Aufmerksamkeit des Europäischen Parlaments auf den Hitler-Stalin-Pakt. Im April 2009 verabschiedete das Parlament eine Erklärung zum Totalitarismus, die angesichts ihrer Relativierung des Holocaust kritisiert wurde. In diesem Zusammenhang zitiert Troebst die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl, die auf den Wunsch der postsozialistischen Gesellschaften hinweist, sich einseitig als unschuldige Opfer zu betrachten.
Am Ende seines Aufsatzes betrachtet Troebst das sich damals noch in der Planungsphase befindende Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel als Prüfstein für die Möglichkeit eines gesamteuropäischen Geschichtsbewusstseins. 2017 wurde das Museum eröffnet. Ein Aufsatz im letzten Teil zeichnet die Ereignisse, die dazu führten, nach. Georg Kreis führt viele Probleme dieses Prozesses an, zum Beispiel die Ablehnung eines Europamuseums in Aachen durch einen Volksentscheid der Bürger. Er selbst äußert sich kritisch zum Brüsseler Projekt. Es ist freilich zu früh, zum noch neuen Museum Stellung zu nehmen; bis jetzt scheinen die Reaktionen auf der Website TripAdvisor eher positiv zu sein. Gleichzeitig ist kein Museum in der Lage, alle Fragen, die in diesem Band besprochen werden, zu lösen.
Schon wegen der vielen versammelten Streitfragen handelt es sich hier um ein sehr wichtiges Buch. Als Rezensent habe ich nur eine allgemeine Kritik daran: das Fehlen eines Namens- und Sachregisters, das angesichts seiner Länge besonders hilfreich gewesen wäre. Nur vereinzelt gibt es Stellen, an denen es etwas auszusetzen gebe. In ihrem Aufsatz über Bilderbenutzungen in Ausstellungen und Büchern hat Monika Flacke sicherlich Recht, wenn sie behauptet, dass Bilder auf ihre Angemessenheit hin kritisch hinterfragt werden sollten. Die Bilder, die sie selbst in ihrem Aufsatz anführt – ein Foto des Lagertors von Auschwitz und ein DDR-Plakat für die Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald – sind aber zu unterschiedlich, um als Beispiele für den begrenzten Wahrheitsgehalt von Bildern benutzt zu werden. Das Auschwitz-Bild mag, wie sie sagt, ,„ein Konstrukt der Zeit"' (S. 518) sein; es handelt sich dabei allerdings um ein vollkommen anderes Genre als das Plakat, das zu klaren politischen Zwecken entworfen wurde. Ansonsten aber ist allgemein festzuhalten, dass die Aufsätze von großem Fachwissen zeugen. Sie scheuen vor Kritik nicht zurück, was angesichts der kontroversen Aspekte des Themas durchaus begrüßenswert ist. Es ist auch positiv hervorzuheben, dass viele Aufsätze zu nationalen Themen von Wissenschaftlern aus einem anderen Land verfasst worden sind, soweit sich das aus den Namen schließen lässt. Wenn die Geschichtspolitik selbst transnationaler wird, ist es wichtig, dass auch die Forschung darüber in dieser Hinsicht transnationaler wird.