Mit Antisemitismus in Polen 1968. Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft hat Hans-Christian Dahlmann die erste deutschsprachige Monografie zur „antizionistischen“ Kampagne von 1968 vorgelegt. Im Unterschied zu vorherigen polnischsprachigen Forschungsarbeiten analysiert der Autor dabei nicht nur die Rolle der Parteiführung, sondern auch das Mitwirken der mittleren und unteren Parteiebenen. Er kommt zu dem durchaus überraschenden Ergebnis, dass diese entscheidend und relativ autonom die antisemitische Kampagne vorangetrieben haben. Als Folge der Ereignisse von 1968 musste mehr als die Hälfte der noch 30.000 in Polen lebenden Juden das Land verlassen.
Machtkampf in Polen
In der gängigen Forschungsliteratur wird die antisemitische Kampagne auf das Zusammenspiel zweier unterschiedlich gelagerter Konflikte zurückgeführt. Einerseits diente der Antisemitismus dazu, die aufkeimende Oppositionsbewegung zu schwächen. Ein Teil der studentischen Oppositionellen, die sich im Frühjahr 1968 gegen die restriktive Kulturpolitik und die staatlichen Repressionen zur Wehr setzten, war jüdischer Herkunft. Die Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei nahm dies zum Anlass, die Oppositionsbewegung als von „Zionisten“ unterwandert und im Dienste „fremder“ Interessen agierend zu diskreditieren. Andererseits war die antisemitische Kampagne Produkt eines innerparteilichen Machtkampfes. Der 1964 zum Innenminister ernannte Mieczysław Moczar lancierte die Kampagne mit dem Ziel, rivalisierende Parteifunktionäre aus ihren Positionen zu drängen und mit eigenen Gefolgsleuten neu zu besetzen. Ihm gelang es dadurch, seine Machtbasis innerhalb der Partei erheblich auszubauen.
Ein neuer Blick auf die Rolle der Parteibasis
Hans-Christian Dahlmann bestreitet die Gültigkeit dieser Deutungsansätze nicht. Er stellt jedoch infrage, ob die antisemitische Kampagne damit hinreichend erklärt ist und zweifelt an der These, dass der Antisemitismus lediglich von oben, also von der Parteiführung, vorgegeben wurde. Er entgegnet dieser Annahme die bereitwillige Unterstützung der Kampagne seitens der Parteibasis. Um dieses aufzuzeigen, beleuchtet der Autor die Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft und untersucht die Handlungsspielräume der einzelnen Akteure. Er fragt dabei auch immer nach den Auswirkungen auf die Opfer der Kampagne und deren Wahrnehmung der Geschehnisse.
Die Monografie, die das Ergebnis eines Dissertationsprojekts darstellt, ist darum grob anhand zwei Deutungsachsen gegliedert: Einer jüdischen und einer nicht-jüdischen.
Jüdische und nicht-jüdische Perspektiven auf den März 1968
Dahlmann vollzieht dabei eine wichtige Begriffsbestimmung. Anstatt wie in der Forschungsliteratur üblich von „polnischen Juden“ zu sprechen, verwendet er den Begriff der „jüdischen Polen“. Damit trägt er dem Selbstverständnis der behandelten Akteure Rechnung, die sich teilweise vollständig von ihrer jüdischen Herkunft entfernt und sich vorrangig als Polen verstanden hatten. (S. 24)
Für die jüdischen Polen bedeutete das Jahr 1968 einen tiefen Einschnitt. Die antisemitische Kampagne, die im Grunde bereits 1967 begann und im März '68 ihren Höhepunkt fand, wirkte sich in verschiedener Weise negativ auf ihre Lebensrealität aus. Nicht nur verloren viele von ihnen ihre Anstellungen und Parteifunktionen, auch wurden sie Opfer persönlicher Anfeindungen. In Form von Schmähbriefen, Beleidigungen und Drohungen drang die Kampagne bis in den Alltag der jüdischen Polen vor (S. 275 f.). Bei den Opfern riefen die antisemitischen Anfeindungen nicht selten Erinnerungen an die Verfolgung unter der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg hervor. Immerhin lag der Holocaust gerade einmal zwei Jahrzehnte zurück. (Detaillierter dazu vgl. das Unterkapitel „Die Wiederkehr der Erinnerungen an den Holocaust“)
Die These, dass die Kampagne maßgeblich von der Parteibasis vorangetrieben wurde, legt der Autor überzeugend dar. Für ihn bestand die Kampagne aus verschiedenen Elementen: Der Hetze und der Propaganda in der Presse, dem Antisemitismus auf öffentlichen sowie Parteiversammlungen, den daraus resultierenden Parteiausschlüssen und Entlassungen; sowie den konkreten Angriffen auf Einzelpersonen. (S. 376)
Opportunismus und Widerstand
Zunächst konstatiert Dahlmann, dass die Kampagne durchaus aus den Kreisen um Mieczysław Moczar herum initiiert wurde und die Hetze in den Zeitungen hier ihren Ursprung fand. Andere Ebenen standen aber nicht unter Kontrolle der Parteiführung. Mehr noch, diese versuchte sogar noch im März 1968 die Ausmaße der Kampagne einzudämmen und die Entwicklungen zu entschleunigen. Doch diese hatten sich bereits verselbständigt. Wie Dahlmann nachweist, war es nun nicht mehr die Parteiführung sondern vor allem die unteren Parteiebenen, die den Antisemitismus bereitwillig aufnahmen und dazu nutzten, höher gestellte Funktionäre oder Arbeitskollegen zu diskreditieren. Durch die zahlreichen Entlassungen älterer ranghoher Funktionäre erhöhten sich die Aufstiegschancen der jüngeren Parteikader. Darum lag nach Meinung des Autors nicht nur ein Partei-, sondern auch ein Generationskonflikt vor. (S. 137)
Dabei darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass sich längst nicht alle Betriebe und Parteifunktionäre an der Kampagne beteiligten. Dies ist eine wichtige Feststellung, zeigt sie doch die verschiedenen Handlungsspielräume auf, die den Akteuren zur Verfügung standen. Anhand von zwei Fallbeispielen, dem Warschauer Kernforschungsinstitut und dem Institut für Experimentalphysik, legt der Autor dar, dass die Umsetzung und Durchführung der antisemitischen Kampagne der Verantwortung einzelner Institutionen oblag. Bei ersterem Fallbeispiel veranlassten die Mitarbeiter selbst die Entlassung zahlreicher Kollegen, bei letzterem wehrte sich die Institutsleitung erfolgreich gegen jegliche diskriminierende Politik. Die Hochschullehrer des Instituts für Experimentalphysik solidarisierten sich sogar noch mit ihren Studenten und Kollegen jüdischer Herkunft und versuchten diese zu schützen. (S. 256)
Ergänzung der polnischsprachigen Forschung
Um seine Thesen zu belegen, kann Dahlmann auf einen breiten Quellenfundus zurückgreifen. Neben verschiedenen Archivmaterialien und Memoiren verwendet er auch zahlreiche von ihm geführte Zeitzeugeninterviews mit jüdischen Polen. Vor allem aber zeichnet sich die Arbeit durch die akribische Auswertung neuester polnischsprachiger Forschungsliteratur aus. Hier zeigt sich jedoch auch ein Mangel der Arbeit. Denn der polnische Antisemitismus von 1968 ist bereits ausgiebig erforscht. Neben dem umfangreichen Standardwerk von Jerzy Eisler (Polski Rok 1968) liegen beispielsweise noch Arbeiten von Dariusz Stola, Piotr Osęka und Anat Plocker vor. Sie alle haben sich intensiv mit der antisemitischen Kampagne befasst und dabei auch die Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft beleuchtet. In weiten Teilen rekonstruiert Dahlmann lediglich die Ergebnisse der anderen Forschungsarbeiten, ohne ein neuartiges Erkenntnisinteresse erkennen zu lassen. Dahlmanns Verdienst ist es, die Rolle der unteren Parteiebenen in der antisemitischen Kampagne herausgearbeitet zu haben und in diesem Punkt unterscheidet er sich von den anderen Arbeiten. Eine stärkere Zuspitzung auf diese These wäre jedoch wünschenswert gewesen, denn weite Teile des Buchs behandeln andere Aspekte der Kampagne ohne eine hinreichende thematische Zusammenführung zu bieten.
Das Buch Antisemitismus in Polen 1968 ist dennoch eine gelungene Überblicksdarstellung und überzeugt durch eine sorgfältige Quellenarbeit und eine interessante Forschungsthese.