Die Anthologie versammelt vierzehn Texte, die einen Überblick über Positionen des polnischen Katastrophismus der Zwischenkriegszeit geben. Diese weltanschaulich höchst heterogene Strömung umfasste sowohl dystopische Zukunftsvisionen in Literatur und Kunst als auch kulturpessimistische und zeitkritische Interventionen in der Publizistik. Letztere dokumentiert der vorliegende Band. In seiner Einführung skizziert der Herausgeber Andrzej Kołakowski (1942-2015) die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Phänomens und unternimmt eine typologische Kategorisierung verschiedener ideologischer und epistemologischer Grundlinien des Katastrophismus.
Die Artikel stammen von Autoren unterschiedlicher Profession und intellektuell-weltanschaulicher Prägung. Das Spektrum reicht von Naturwissenschaftlern (Napoleon Cybulski, Ryszard Świętochowski) und Theologen (Andrzej Krzesiński, Józef Pastuszka), über Sozial- und Geisteswissenschaftler (Stefan Czarnowski, Marian Massonius, Marian Zdziechowski, Florian Znaniecki) bis hin zu politischen Publizisten (Jerzy Braun, Zygmunt Wasilewski, Jan Stachniuk). Dazu kommt der Schriftsteller Stanisław Ignacy Witkiewicz, der hier mit zwei kulturdiagnostischen Traktaten vertreten ist. Die Erstpublikation aller Texte fällt in die Zwischenkriegszeit, mit Ausnahme eines Ausschnitts aus Witkiewiczs 1936 verfasster Abhandlung „Niemyte dusze" (Ungewaschene Seelen), die 1938/39 nur in Teilen in einer Literaturzeitschrift erschienen.
Kołakowski führt in seiner Einleitung den Katastrophismus auf zwei Linien zurück: Zum einen ist dies die romantische „Historiosophie", eine auf die Kohärenz der Sinngebung abzielende Variante der Geschichtsphilosophie, wie sie der polnische Hegelianer August Cieszkowski geprägt hatte. Zum anderen sind dies die in der historischen Imagination der Menschheit seit Urzeiten präsenten mythischen Formeln von Werden und Vergehen. Das Phänomen des Katastrophismus begreift Kołakowski als Folge einer Säkularisierung und Autonomisierung des historiosophischen Denkens in der Moderne (S. VI). Die Katastrophe droht nun nicht mehr von außen – als Sintflut oder Apokalypse –, sondern ist der menschlichen Welt immanent: als Resultat von gesellschaftlichen Spannungen oder Konflikten zwischen Völkern und Nationen. Typologisch unterscheidet Kołakowski für die Positionen der Zwischenkriegszeit zwischen einem „in den Naturgesetzen gründenden", einem „eschatologischen" und einem „kulturalistischen" Katastrophismus.
Der Katastrophismus operiert nicht in erster Linie diskursiv-argumentativ – sein Tätigkeitsfeld ist das soziale Imaginäre. Zur Abstützung seiner Argumentationsfiguren bedient er sich kursierender Ängste und in Jahrhunderten gereifter historischer Stereotype. Sein Genre ist nicht der wissenschaftliche Artikel, sondern der freischwebende kulturkritische Essay. Kołakowski hat natürlich Recht, wenn er auf die entscheidende Rolle der Erfahrung der bolschewistischen Bedrohung für die polnischen Katastrophisten der Zwischenkriegszeit hinweist. Kein Zufall, dass die Angst vor dem Bolschewismus vor allem in den Texten Zdziechowskis und seines Wilnaer Professorenkollegen Marian Massonius so vehement zum Ausdruck kommt – beide stammten aus polnischen Gutsbesitzerfamilien in Weißrussland.
Der Katastrophismus bekam durch die historische Erfahrung der Polen und durch die jüngsten Ereignisse – den Oktoberumsturz und den folgenden Bürgerkrieg sowie den polnisch-russischen Krieg 1919-1921 – eine besondere Dringlichkeit. Im europäischen Zusammenhang betrachtet, waren die Ideen der polnischen Intellektuellen allerdings kaum originell. Man verfolgte wachsam die europäische kulturkritische und zeitdiagnostische Publizistik und zitierte ausführlich aus den Schriften von Gonzague de Reynold, Guglielmo Ferrero, Jacques Maritain, Hermann Keyserling, Henri Bergson – um nur einige der Stichwortgeber zu nennen, von denen manche heute längst – verdient – vergessen sind. Es ist das Zusammenkommen von zu kulturellem Gedächtnis geronnener Katastrophenerfahrung und sensibler Zeitdiagnostik mit dem akuten Krisenbewusstsein der Epoche, das die Besonderheit der polnischen Situation ausmachte.
Tendenziell stehen die antagonistischen und antimodernen Positionen des Katastrophismus, dessen ideengeschichtliche Affiliationen sich bis in das gegenrevolutionäre und antiaufklärerische Denken des beginnenden 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen, der politischen Rechten nahe. Es ist kein Zufall, dass sich unter den Autoren der Anthologie Exponenten des nationalistischen Lagers finden, wie z.B. Jerzy Braun oder sogar Jan Stachniuk, dessen neopaganen Ethnonationalismus Kołakowski mit dem treffenden Attribut „volkistowski" beschreibt (S. XXXIII). Immer wieder finden sich auch Anflüge von Antisemitismus.
Überraschen muss, dass selbst Florian Znaniecki – Anfang der 1920er Jahre schon ein international renommierter Soziologe – mit seinen Überlegungen zur „menschlichen Energie" und „kulturellen Produktion" (S. 215) aus der Schrift Der Untergang der westlichen Zivilisation den Modus der Untergangsprophetie bespielte, in dem die Menschheit stets nur einen Schritt vom Rückfall in den Zustand der „Bestialität" entfernt ist. Auch bei ihm ist der Bolschewismus die zentrale Bedrohung der Gegenwart. Denn in ihm kommen die Elemente von Materialismus, Gegen-Kultur und Ochlokratie zusammen, die Znaniecki als wichtigste zersetzende Faktoren für die zeitgenössischen Gesellschaften ausmacht.
Die hier versammelten Zeitdiagnosen sind immer dann besonders interessant, wenn sie auf damals kursierendes, heute aber in den Hintergrund getretenes Weltwissen rekurrieren oder wenn sie die Analyse juristischer oder sozialer Sachlagen mit den poetischen Visionen der polnischen romantischen Dichter verquicken. Interessantes Material liefert der Band auch für Untersuchungen zu den Konzepten von „Kultur" und „Zivilisation", die hier argumentativ meist nicht sehr kohärent, aber immer sehr effektvoll mit psychosozialen Prozessen und organizistischen Vorstellungsmodellen in Verbindung gebracht werden.
Wir haben es hier mit einem Denken zu tun, das sich selbst unter dem Druck drohender Gefahren sieht und deshalb keine Zeit zur ruhigen, abwägenden Erörterung hat. Das Ziel ist Mobilisierung – daher die Neigung zu Gegen- und Kampfbegriffen oder solchen, die als Instrument der Exklusion verwendet werden können: Barbarei, Rasse, Nation, Bolschewismus, Juden. Einzig der Beitrag des Soziologen Stefan Czarnowski interessiert sich für konkrete soziale Problemlagen und untersucht, welche Faktoren dem Faschismus seine Anhänger verschaffen – eine klarsichtige Analyse der Verhältnisse in Italien und Deutschland, die sich als Warnung an die polnische Öffentlichkeit richtete. Als einen noch konsequenter argumentierenden Gegenentwurf hätte man vielleicht auch einen Aufsatz des Soziologen Aleksander Hertz aufnehmen können, der schon Anfang der 1930er Jahre sehr luzide über die Mechanismen des katastrophistischen Diskurses aufklärte. [1]
Die Anordnung der Beiträge nach der vom Herausgeber vorgeschlagenen Dreier-Typologie „naturgeschichtlich – eschatologisch – kulturalistisch" ist nicht unproblematisch. Die Zwischenkriegszeit war eine dichte Epoche voller jäher innen- und außenpolitischer Wendungen, auf die die Texte des Bandes mehr oder weniger explizit reagierten. Es ist ein großer Unterschied, ob der Blick nach Russland auf eine vom Bürgerkrieg verheerte Gesellschaft im Ausnahmezustand fällt oder auf ein konsolidiertes kommunistisches System. Eine chronologische Anordnung der Beiträge wäre wohl angemessener gewesen. Aufgrund der stark topischen Struktur des katastrophistischen Diskurses ist der Sachindex am Ende des Bandes ein wertvolles Hilfsmittel. Den einzelnen Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein kurzes Biogramm und eine bibliografische Notiz, die über die Erstpublikation informiert. Auf eine Kommentierung der Texte wurde weitgehend verzichtet. Ein Namenindex fehlt, was schade ist, denn er hätte einen schnellen Überblick über die zahlreichen deutschen, französischen, italienischen und auch russischen Inspirationen des polnischen Katastrophismus erlaubt.
In literaturgeschichtlichen Darstellungen zur Zwischenkriegszeit hat der Katastrophismus seinen festen Platz; in den letzten Jahren ist das Phänomen verstärkt auch aus philosophie- und ideengeschichtlicher Perspektive untersucht worden. Seine Aktualität liegt angesichts der Konjunktur einer Rhetorik von Feindschaft und Ausnahmezustand in der öffentlichen Debatte in Polen auf der Hand. Es ist erfreulich, dass nun einige der wichtigsten Interventionen der katastrophistischen Publizistik der Zwischenkriegszeit greifbar gemacht wurden.