Die kunsthistorische Forschung war im Hinblick auf die moderne Architektur in Schlesien bisher vor allem auf Einzelaspekte beschränkt. Dabei richtete sich das Augenmerk in deutschsprachigen Publikationen überwiegend auf Niederschlesien. [1] Diese Lücke wird von der als Habilitationsschrift vorgelegten Abhandlung Beate Störtkuhls geschlossen. Die Publikation bietet einen „Überblick über die Geschichte der Architektur in Schlesien vom Aufbruch in die Moderne um 1900 bis zum deutschen Überfall auf Polen" (S. 14). Dabei stellt die sog. Machtergreifung Hitlers 1933 auf deutscher Seite eine gewisse Zäsur dar, weil die nationalsozialistische Herrschaft eine starke Beschränkung der künstlerischen Freiheiten bedeutete. Die Autorin verfolgt einen regionalgeschichtlichen Ansatz, da sich der deutsch-polnische Antagonismus nach der Teilung Oberschlesiens 1922 gravierend auf die Architektur auswirkte und diese zu einem „Instrument der Politik und der nationalen Selbstdarstellung" (S. 17) in der gesamten Region werden ließ. Gerade diese Einbettung in den historischen Kontext und die Gegenüberstellung beider Staaten bringt zahlreiche neue Forschungserkenntnisse.
Störtkuhl präsentiert eine bemerkenswerte Studie, in der sie die facettenreiche Entwicklung der modernen Architektur in Schlesien aufzeigt. Dabei überwindet sie die Jahrzehnte lang dominierenden kunstgeographischen Raumtheorien, die der Frage nachgingen, inwieweit bei künstlerischen Prozessen der Raum auf den Menschen und umgekehrt einwirke. [2] Die Autorin stellt eine „ganzheitliche Betrachtung des Architekturgeschehens in Schlesien" und seine „Einbindung in übergeordnete Zusammenhänge" (S. 20) her. Freilich wird der Fokus auf die ehemalige preußische Provinz Schlesien gerichtet und die Entwicklung in Österreichisch-Schlesien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis auf wenige Nebenexkurse ausgeblendet. Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: „Teil I – 1900 bis 1918" behandelt in drei thematischen Bereichen die Entdeckung der heimischen Bauweise nach 1900, Industriebauten, Großstadtarchitektur und Massenkultur sowie schließlich die Rolle der Provinz. Der umfangreichere „Teil II – Zwischenkriegszeit" ist in sieben thematische Einheiten gegliedert. Den Beginn markieren „Neue Ordnungen" mit Geschäftshochhäusern und dem Siedlungsbau. Dabei erörtert die Autorin sowohl verwirklichte als auch geplante Projekte von Großsiedlungen und Trabantenstädten. Aus der aufgezeigten Planungsgeschichte lassen sich die unterschiedlichen städtebaulichen Konzepte verfolgen. Ihr Ziel war eine größtmögliche Funktionalität des urbanen Raumes nach einer Stadterweiterung. Im weiteren Teil wird die expressionistische Architektur in Niederschlesien und im deutschen Oberschlesien behandelt. Dem folgen zwei Abhandlungen über die „Repräsentationsarchitektur in der polnischen Wojewodschaft Schlesien im ersten Jahrzehnt der Zweiten Polnischen Republik" und „Neues Bauen in Breslau". Gerade die Architekturgeschichte in der polnischen Wojewodschaft Schlesien war bisher ein weißer Fleck auf der deutschsprachigen Forschungskarte. [3] Die nächsten beiden thematischen Einheiten befassen sich mit den polnischen und deutschen Teilen Oberschlesiens. Zunächst wird der bauarchitektonische Wettstreit der bei Deutschland verbliebenen „Dreistädteeinheit" Hindenburg (Zabrze), Beuthen (Bytom) und Gleiwitz (Gliwice) und deren Konkurrenz zum polnischen Kattowitz (Katowice) vorgestellt. Gerade die Kulturpolitik avancierte in den benachbarten und sich auf beiden Seiten der Grenze befindlichen Städte zum regelrechten Kampfinstrument. Die Repräsentations- und Siedlungsbebauung in der polnischen Woiwodschaft Schlesien im Stile des Neuen Bauens wird im darauffolgenden Abschnitt analysiert. Die letzte kurze thematische Einheit setzt mit der NS-Zeit in Schlesien auseinander. Im abschließenden siebenseitigen Epilog werden die Erkenntnisse zusammengefasst. Der 87 Seiten umfassende Anhang enthält Architektenbiogramme, eine Übersicht über Quellen und Literatur, ein Abbildungsnachweis sowie ein Personen- und Ortsregister.
Die rege moderne Bautätigkeit in den deutschen und polnischen Teilen Schlesiens resultierte weniger aus wirtschaftlicher Prosperität, sondern vielmehr aus der geopolitischen Lage der Region. Die Gründung der polnischen Woiwodschaft Schlesien mit der Hauptstadt Kattowitz führte vor allem in den Industriestädten nach 1922 zu einem regelrechten Bauboom. Die polnischen Behörden bedienten sich der Architektur für die Verwirklichung einer nationalen Kulturpolitik. Die Bauwerke sollten von nationalen Ausdrucksformen geprägt sein und sich ganz bewusst vom Baustil im deutschen Teil Schlesiens abgrenzen. Die als deutsch geltende Backstein-Neogotik war verpönt. Stattdessen wurden Schul- und Verwaltungsgebäude sowie die Kathedrale des 1925 neu gegründeten Bistums Kattowitz im repräsentativen neoklassizistischen Stil errichtet. Der Klassizismus erinnerte an die letzten Dekaden der staatlichen Eigenständigkeit vor den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. In den späten 1920er Jahren wurde der Neoklassizismus zugunsten des repräsentativen „Neuen Bauens" aufgebrochen. Bestes Beispiel dafür ist das Schloss des polnischen Präsidenten in der oberschlesischen Stadt Weichsel (Wisła, ehemals Österreichisch-Schlesien). Dieses teure Prestigeprojekt wurde auf Betreiben des nationalkonservativen oberschlesischen Wojewoden Michał Grażyński (zwischen 1926 und 1939 im Amt) umgesetzt. Damit sollte die Zugehörigkeit der oberschlesischen Region zu Polen manifestiert werden.
Auch auf deutscher Seite wurde die Architektur von nationalen Ausdrucksformen bestimmt.
Gleichzeitig wirkte die Randlage des preußischen Schlesiens (und dessen Wahrnehmung im Deutschen Reich als rückständige Provinz) stimulierend auf den architektonischen Aufbruch. Motive mit ländlicher Baukunst im sog. Heimatstil wurden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgegriffen. Die daran anknüpfende Heimatschutzbewegung setzte sich gegen die Folgen der Industrialisierung ein und orientierte sich an der vorindustriellen und bäuerlichen Kultur. Vorbild war in Schlesien die ländliche Kultur der Riesengebirgsregion. Ein wesentlicher Ausdruck davon waren Künstlerdörfer. Schlesische Landhäuser mit typischen Steildächern wurden nicht nur in neuen Vororten errichtet. Der Heimatstil prägte ebenso neue Arbeitersiedlungen, die unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstanden. Dazu gehören beispielsweise die Arbeitersiedlung der Textilfabrik im niederschlesischen Landeshut (Kamienna Góra) und die oberschlesische Bergarbeitersiedlung Gieschewald (Giszowiec, heute ein Stadtteil von Kattowitz), die von Hans Poelzigs Heimatstil deutlich beeinflusst wurden. Ein weiteres Beispiel im oberschlesischen Industrierevier lässt sich mit der Kolonie Rokittnitz (Rokitnica) bei Zabrze anführen. Die erstrebte Zielsetzung des Heimatstils verfehlte seine Wirkung nicht. Das „hohe, über dem Haus sich schützend herabsenkende Dach" galt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als „Kennzeichen deutscher Bauart" (S. 46). Daher legte man dem gegenüber in der polnischen Woiwodschaft Schlesien in den 1920er Jahren ausdrücklich Wert auf Flachdachkonstruktionen.
Zu den bekanntesten in Schlesien tätigen Vertretern der Heimatstil-Richtung zählt der bereits erwähnte Berliner Hans Poelzig, der in seinen früheren Jahren vom Historismus geprägt war und in Schlesien auf regionale Bautraditionen zurückgriff. Ein ausdrucksstarkes Beispiel ist der 1905 erfolgte Rathausumbau im niederschlesischen Löwenberg (Lwówek Śląski), bei dem sich der Architekt von oberschlesischen Schrotholzkirchen inspirieren ließ. Bedeutung erlangte Poelzig als Vorreiter der modernen Industriebau- und Geschäftshaus-Architektur. Sein 1913 ausgeführtes Geschäftshaus an der Junkernstraße in Breslau (Wrocław) diente als Vorbild für „die gekurvte Linienführung" und kam „der großkonturigen Wahrnehmung der Bauten aus neuen, schnellen Verkehrsmitteln" (S. 112) entgegen. Diese Bauweise wurde zum Kennzeichen moderner Großstadtarchitektur in Schlesien. Sie wurde ebenso von Max Berg geprägt, dessen bekanntestes schlesisches Werk die 1913 fertiggestellte Jahrhunderthalle ist, welche seit 2006 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Berg ließ sich von der Hochhausarchitektur in den USA inspirieren und präsentierte bereits 1919 erste Überlegungen zum Bau von Geschäftshochhäusern in Schlesien. Als Kompensation für die als demütigend empfundenen Resultate der sog. Friedensverhandlungen von Versailles ließ sich die deutsche Architekturwelt von einem „Hochhausfieber" (S. 137) anstecken. Max Bergs Entwürfe für die städtische Neugestaltung Breslaus machten auch nicht vor dem historischen Breslauer Ring Halt. Wie gotische Kathedralen das mittelalterliche Stadtbild bestimmten, so sollten Geschäftshochhäuser als „Tempel der menschlichen Arbeit in der Geschäftsstadt" (S.139) die moderne Stadt prägen. Diese radikale Umgestaltung wurde jedoch nicht verwirklicht.
Dieses für die schlesische Kunstgeschichte unentbehrliche Werk verdeutlicht eindrucksvoll das Wechselspiel von Peripherie und Grenzregion als Determinanten der künstlerischen Prozesse in der schlesischen Region. Für zukünftige Forschungen wäre es jedoch interessant, einen vergleichenden Blick in den ehemals österreichischen Teil Schlesiens zu werfen und der Fragestellung nachzugehen, ob man im jungen tschechoslowakischen Staat zu ähnlichen Stilmitteln der Kultur- und Identitätspolitik griff.
[1] In diesem Bereich verfasste Beate Störtkuhl zahlreiche Artikel, vgl. auch Publikationen von Jerzy Ilkosz (auch in deutscher Sprache) zu Hans Poelzig, Max Berg und zur Moderne in Breslau.
[2] Vgl. etwa Murawska-Muthesius, Katarzyna (Hg.): Borders in Art. Revisiting Kunstgeographie. Proceedings of the 4th Joint Conference of Polish and English Art Historians, University of East Anglia, Norwich. Warszawa 2000.
[3] Von den polnischen Forschern haben sich auf diesem Gebiet Ewa Chojecka, Dorota Głazek, Irma Kozina und Barbara Szczypka-Gwiazda besonders hervorgetan.