„Polens wilder Westen" – so der Titel einer 2013 erschienenen Arbeit von Beata Halicka, in der es um die kulturelle Aneignung des polnischen Oderraums nach 1945 geht. [1] Eine organisierte Propagandakampagne sollte der Bevölkerung seinerzeit das Bild einer Rückkehr in uralte polnische Gebiete, die „polnischen Mutterländer", vermitteln. Stützen konnten sich die neuen Machthaber dabei auf Arbeiten der polnischen Westforschung der Zwischenkriegszeit, die von einer historischen Polonität der Gebiete östlich von Oder und Neiße ausging. Während die praktische Umsetzung dieses polnischen „Westgedankens" nach 1945 im Zentrum mehrerer Studien der vergangenen Jahre stand, nimmt Gernot Briesewitz nun in komplexer Weise die zugrundeliegenden Theorien und die Diskussionen in den Blick, die zwischen 1918 und 1948 von polnischen Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen geführt wurden. [2] Dabei wird schnell augenfällig, dass der von Gregor Thum und anderen konstatierte Einfluss des Westgedankens auf die territoriale Gestalt ebenso wie die Beschwörung eines tausendjährigen deutsch-polnischen Gegensatzes und polnischen Kampfes um die „piastischen Gebiete" nur einer von vielen Erzählsträngen war. Das Innovative an der vorliegenden Arbeit ist ihre Fokussierung auf die „Westforschung als Raumkonstrukteurin" (27), während frühere Arbeiten hauptsächlich Institutionen, Akteure und die politische Instrumentalisierung des polnischen Westgedankens in den Blick genommen haben. [3]
Briesewitz greift auf ein auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatte stehendes Instrumentarium zurück, das sich auf die Erkenntnisse der Nationalismusforschung, der Debatten um spatial turn, mental maps und imagined territories stützt. Nach einer theoretischen Einleitung analysiert er zunächst den deutschen Raumdiskurs im Rahmen der politischen Geographie und Geopolitik, um dann auf dessen Rezeption in Polen zu sprechen zu kommen. So vertrat der deutsche Geograph Friedrich Ratzel die Idee eines „Raumkampfes" und betonte die Bedeutung des Meeres und großer Ströme für die nationale Integration und Konsolidierung von politischen Räumen. Diese Gedanken einer „politischen Geographie" wurden von polnischen Geographinnen und Geographen wie Eugeniusz Romer weiterentwickelt und auf den polnischen Fall angewandt, wenn es in dieser Entwicklung auch „nicht in dem Maße zu einer ethnisch-rassischen Aufladung des Raumkampf-Topos wie in Deutschland" kam (116). Im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht die Konstruktion geographischer mental maps, die in Polen wie in Deutschland gleichermaßen im Dienste der Identitätsstiftung standen. Briesewitz kann zeigen, dass eine in beiden Ländern viel diskutierte Idee diejenige von der Existenz geographisch determinierter „natürlicher" Länder war – eine Idee, die zur Schaffung sich gegenseitig ausschließender geographischer Raumkonstrukte führte. Während in der deutschen Debatte Polens Existenzberechtigung in diesem Zusammenhang häufig negiert wurde, stand das deutsche Existenzrecht auf polnischer Seite allerdings nie in Frage. Diese theoretische Debatte erhielt nach dem Ersten Weltkrieg politische Brisanz, als es um die geographische Legitimation neuer Grenzen ging. Briesewitz verweist völlig zu Recht auf das ambivalente Verhältnis der deutschen und polnischen Geographien, die bei ähnlichen wissenschaftlichen Debatten zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen kamen (171).
Im zentralen Kapitel zur Westforschung als Raumkonstrukteurin zwischen 1918 und 1939 sowie zur Strukturierung nationaler mental maps analysiert Briesewitz zunächst die polnischen Debatten, die innerhalb der sich konstituierenden Westforschung mit Zentren in Posen, Thorn und Kattowitz geführt wurden. Hier kann der Autor wieder eine starke Heterogenität zeigen, die keine direkte Verbindung zur Westforschung nach dem Zweiten Weltkrieg aufweist. So gab es zwar auch damals mit Zygmunt Wojciechowski schon die Anhänger der These des „Raumkampfes" als eines ewigen deutsch-polnischen nationalen Kampfes um die Grenzen. Andererseits verwies Józef Feldman zur gleichen Zeit darauf, dass es sich in Wirklichkeit um preußisch-polnische Konflikte gehandelt habe, die von zahlreichen Phasen der Zusammenarbeit unterbrochen worden seien und erst unter Bismarck zu einem anhaltenden Konflikt geführt hätten (196 f.). Auch die Debatten um die zukünftige geographische Gestalt waren weitaus differenzierter, als der eingeschränkte Blick – ausgehend von den Debatten der Nachkriegszeit – vermuten lässt. Während Zygmunt Wojciechowski heute als stärkster Verfechter einer polnischen Westgrenze an Oder und Neiße angesehen wird, kann Briesewitz zeigen, dass vor 1939 selbst bei Wojciechowski kein solch konkreter Gebietsanspruch bezüglich der polnischen ‚Mutterländer' vertreten wurde. Es handelte sich demnach bei diesen Gebieten zwar um einen „dauerhaften geopolitischen Konfliktraum", die aber eher den Charakter eines „vergangenen Identitätsraums" bzw. eines „melancholischen Erinnerungsraums" hatten (213). Auch sah sich Wojciechowski mit seinem Konzept starker Kritik ausgesetzt, wenn auch andere geodeterministisch argumentierende Wissenschaftler wie Kazimierz Tymienicki seine Sichtweise unterstützten.
Das nächste Kapitel nimmt die Zeit des „neopiastischen" Polens 1939-1948 in den Blick. Briesewitz zeichnet die sich unter dem Eindruck des Krieges wandelnden Vorstellungen innerhalb der Westforschung nach. Die hier vorgestellten Diskussionen hin zu einer Anerkennung der notwendigen „Westverschiebung" Polens sind zwar weitgehend bekannt, ebenso die Rolle des Meeres für die Begründung der neuen Seegrenzen.[4] Trotzdem bringt der Autor hier Ansätze zusammen, die in der Forschung häufig nebeneinander stehen. Er kann dabei eindrücklich die Konstruktion eines „idealen Raumes" als Grundlage des neuen Staates zeigen, den Briesewitz als „überzeitliche Einheit" bezeichnet (312 ff.).
Nur Kleinigkeiten lassen sich an dieser gut redigierten Arbeit aussetzen. Sprachlich ist der Sinn der vielen, neue Sinnabschnitte einleitenden Fragen nicht ganz nachvollziehbar. Hier hätten Unterüberschriften die Strukturierung erleichtert. Unklar bleibt die exzessive Verwendung von Fußnoten auch dort, wo wiederholt aus einer Quelle zitiert wird. An der einen oder anderen Stelle distanziert sich der Autor zu Recht von den Aussagen zeitgenössischer Wissenschaftler, ohne jedoch deren Aussagen fundiert richtigzustellen (235, 359). Schließlich hätte an der einen oder anderen Stelle auch ein Verweis auf aktuelle Debatten der border studies nicht geschadet, um die Relevanz des Buches jenseits der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte deutlicher zu machen.
Briesewitz' innovative Arbeit trägt auch zur Rehabilitierung der Leistung polnischer Historikerinnen und Historiker sowie Geographinnen und Geographen bei, die eben nicht alle vereint für ein „piastisches Polen an Oder und Neiße" eintraten, sondern Teil eines transnationalen Diskurses über geographische Raumvorstellungen waren. Polnische Wissenschaftler wie Eugeniusz Romer waren fest in europäische Linien der Geographie eingebunden und standen in einem besonders engen Zusammenhang gerade zu zeitgenössischen deutschen Geographen wie Friedrich Ratzel. Dem Autor gelingt es, ganz in der Tradition der Arbeiten von Jan M. Piskorski, Jörg Hackmann und Rudolf Jaworski, die Interdependenz zwischen deutscher Ostforschung und polnischer Westforschung zu zeigen.[5] Wünschenswert wären vor diesem Hintergrund weitere komparative Forschungen zu Raumvorstellungen, die auch die bisher kaum untersuchten Interdependenzen und Spannungen zur polnischen Sowjetwissenschaft (Institut für Osteuropastudien in Wilna) sowie die Diskussionen in der polnischen Emigration in den Blick nehmen würden.[6]
[1] Beata Halicka, Polens wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945-1948 (Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2013).
[2] Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau 1945 (Berlin: Siedler, 2003); Peter Oliver Loew, Danzig und seine Vergangenheit 1793 – 1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen (Osnabrück: fibre, 2003); Jan Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag,2010).
[3] Vgl. die hervorragende Biographie von Markus Krzoska, Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900-1955) als Historiker und Publizist (Osnabrück: fibre, 2003); Robert Brier, Der polnische „Westgedanke" nach dem Zweiten Weltkrieg (1944-1955), in: Digitale Osteuropa-Bibliothek, Geschichte 3 (2003), http://www.vifaost.de/digbib/brier-west; Zbigniew Mazur, Antenaci. O politycznym rodowodzie Instytutu Zachodniego (Poznań: Instytut Zachodni, 2002).
[4] Vgl. die Rolle des Meereskultes in Stettin: Jan Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag,2010), 156-169.
[5] Jan M. Piskorski/Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski, Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich (Osnabrück: fibre, 2002)
[6] Vgl. die Überblicksdarstellung bei Marek Kornat, Polska szkoła sowietologiczna, 1930-1939 (Kraków: ARCANA 2003).