Die Situation der nationalen Minderheiten Polens in der Zweiten Republik sowie speziell der ukrainischen Minderheit gehört zu den recht gut erforschten Themen. [1] Katarzyna Hibel widmet sich in ihrer Monographie einem besonderen Bereich der polnisch-ukrainischen Beziehungen im Galizien der Zwischenkriegszeit: der Sprachpolitik und speziell der Benennungs- und Namenpolitik. Die Publikation ist im Rahmen des vom österreichischen FWF geförderten Forschungsprojekts Tausend Jahre ukrainische Sprachgeschichte in Galizien [2] an der Universität Wien entstanden.
Hibels Buch hebt sich von Überblicksdarstellungen zur Minderheiten- oder Sprachpolitik gegenüber den Ukrainern im Polen der Zwischenkriegszeit vor allem durch ihre eigenständige Konzeption und eine größere Detailtiefe ab.
Hibel erforscht ausgewählte Bereiche des polnisch-ukrainischen Namenkonflikts in der ethnisch gemischten Grenzregion Galizien. Mit einer weit verstandenen postmodernen Methodologie werden verschiedene Aspekte der Sprachpolitik in den Blick genommen, die zugleich die sechs Kapitel des Hauptteils der Arbeit bilden: staatliche Verwaltung (S. 113-135), Schulwesen (S. 136-187), Ethnonyme und Glottonyme (S. 188-214), Anthroponyme (S. 215-235), Choronyme (S. 236-263), Toponyme und Mikrotoponyme (S. 264-278). [3] Hibel vergleicht in ihrem Buch die polnische und ukrainische Sicht auf diese Phänomene und folgt damit ihrem Anspruch, sich von einer mononationalen Sichtweise auf Galizien zu lösen. Konzeptuell sind für die Untersuchung Ansätze wie der Konstruktivismus, „Lebenswelt", New Historicism oder die Sprechakttheorie einschlägig.
Der Fokus der Studie liegt auf den genannten Bereichen der Sprachpolitik (s.o.), anhand deren Hibel die widerstreitenden Auffassungen polnischer und ukrainischer Akteure analysiert. Die sprachpolitischen Teilaspekte werden in jeweils einem Kapitel abgehandelt. Neben dem Vorwort und einem Epilog zu den Jahren 1939-1947 enthält das Buch ein umfangreiches Kapitel mit Vorbemerkungen (S. 3-112), in dem die Vorgeschichte des polnisch-ukrainischen Namenkonflikts in der Zweiten Republik dargestellt wird, insbesondere die Entstehung des polnischen und ukrainischen Nationalismus sowie das „Zusammenleben" beider Bevölkerungsgruppen im Habsburgerreich. Jedes der sechs Kapitel des Hauptteils beginnt mit einleitenden Bemerkungen und endet mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse zum jeweiligen Teilaspekt.
Hibel zufolge entwickelten sich im untersuchten Zeitraum der polnische und ukrainische Nationalismus parallel und befeuerten sich gegenseitig. Es sei eine Situation ständiger Konfrontation mit Vertretern des „Fremden" – der Ukrainer aus polnischer Sicht und der Polen aus ukrainischer Sicht – gewesen. Diese Konfrontation untersucht Hibel als System von Bedeutungen und Wahrnehmungen historischer Protagonisten auf beiden Seiten. Die Rolle Galiziens als nationales Piemont sowohl der Polen als auch der Ukrainer zur Zeit der Habsburgermonarchie hatte demnach entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung dieser Bedeutungs- und Wahrnehmungssysteme in der Zwischenkriegszeit. Die modernen Nationen der Ukrainer und Polen hätten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihr Apogäum erreicht. Die Konfrontation zwischen beiden Bevölkerungsgruppen stand in der Folge unter neuen Vorzeichen, nämlich denen des erfolgten Übergangs von einem politischen zu einem ethnischen Nationsverständnis („Tribalisierung", S. 81).
Vor dem Hintergrund der genannten Entwicklung versuchte in der Zweiten Republik sowohl die polnische als auch die ukrainische Seite, sprachpolitische Geländegewinne zu erzielen. Aus polnischer Sicht konnte dies spätestens nach dem Friedensvertrag von Riga (1921) in zentralen Bereichen der Sprachpolitik auf dem Wege der Gesetzgebung erfolgen. Hinzu kam der öffentliche Diskurs von Politikern und Intellektuellen unterschiedlicher ideologischer Richtungen. Die ukrainische Seite hingegen war hinsichtlich Galiziens nach der nur episodenhaften Staatlichkeit der Westukrainischen Volksrepublik (Ende 1918 bis Mai 1919) ganz auf die Gestaltung des Diskurses als Mittel der Einflussnahme im polnischen Staat angewiesen.
Welche politischen Maßnahmen ergriffen und welche Argumentationen verwendet wurden, um den eigenen Anspruch auf Galizien zu untermauern, zeigt Hibel anhand von Verwaltung, Schulwesen und verschiedenen Benennungen und Namen. Die damit in Zusammenhang stehenden Vorgänge bezeichnet sie als „Krieg mit Landkarten" und „Krieg mit Worten". Unter erstgenanntem versteht sie „den Versuch einer semantischen Umdefinierung bisheriger Gebiete, die man sich im Geiste einer neuen rationalen Ordnung ‚angeeignet' hatte" (S. 81), mit dem Ziel, diese eindeutig der eigenen ethnischen Gruppe unterzuordnen. Den „Krieg mit Worten" konstituieren für Hibel „Benennungssysteme, die das Bild des Ukrainers und des Polen als Feind und Bruder betreffen [...], den Boden, auf dem sich dieser Konflikt abspielte [...], den Konflikt selbst [...] sowie Derivate dieser Vorstellungen [...]" (S. 108 f.).
In ihrer Darstellung dieser mit Landkarten und Worten geführten „Kriege" in den einzelnen Kapiteln des Hauptteils beschränkt sich Hibel nicht strikt auf die Zweite Polnische Republik. Immer wieder bezieht sie die habsburgische Vorgeschichte, die Zeit des Ersten Weltkriegs und die Phase der kurzlebigen Westukrainischen Volksrepublik mit ein. Damit zeigt sie die historischen Bezüge der jeweiligen Argumentationen auf und ordnet die politischen Maßnahmen des polnischen Staates ein. In den Teilbereichen der Studie legt sie dar, welche Bedeutung die jeweiligen Aspekte für den „Krieg mit Landkarten und Worten" als Ganzes hatten. Dabei verdeutlicht sie, welche Benennungssysteme beide Seiten des Konflikts verwendeten und inwiefern damit Umdefinitionen gegenüber dem bisherigen Diskurs sowie Abweichungen vom Benennungssystem der „Gegenseite" verbunden waren. Wichtige Elemente für die Analyse dieser Prozesse sind die kommunikativen Funktionen von Sprache sowie die Differenzierung von Sprechakten. Hibel zufolge zeichnete sich der polnisch-ukrainische Diskurs in den 1920er und 1930er Jahren vor allem durch seinen metasprachlichen und emotiven Charakter aus, während die konative und die denotative Sprachfunktion im Hintergrund standen. Aufgrund des weitgehenden Fehlens eines unmittelbaren publizistischen Dialogs zwischen Polen und Ukrainern sieht Hibel die Kommunikation zwischen beiden nationalen Gruppen im Sinne der genannten Theorien als misslungen an (S. 191 f.).
Zu den Vorzügen der besprochenen Publikation gehört ihr interdisziplinärer Zugang, der historische, soziologische und sprachwissenschaftliche Konzepte auf fruchtbare Weise vereint. Diese werden jeweils auf ihre wichtigsten Vertreter zurückgeführt. In ihrem Verständnis vom Konstruktivismus der Nationsbildung bezieht sich Hibel auf Benedict Anderson, während der Ansatz des Kampfes mit Hilfe von Landkarten und Worten auf Zygmunt Bauman zurückzuführen ist. Aus der Sprachwissenschaft wendet Hibel das Kommunikationsmodell Roman Jakobsons sowie die Sprechakttheorie nach Austin und Searle an. Diese und andere Konzepte werden in der Untersuchung auf die verschiedenen Bereiche des polnisch-ukrainischen Benennungsdiskurses und der Sprachpolitik angewandt und ermöglichen damit eine neue Sichtweise auf die Problematik.
Hervorzuheben ist darüber hinaus der Umfang der Quellen, auf die sich die Autorin stützt. Hierzu gehören neben publizistischen Äußerungen einschlägiger Akteure auch Redebeiträge polnischer und ukrainischer Abgeordneter aus Sejm-Debatten. Auf diese Weise entsteht ein lebendiges Bild des Diskurses um die polnisch-ukrainischen Benennungskonflikte. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass auch die sprachwissenschaftliche Debatte der Zwischenkriegszeit einbezogen wird. So werden etwa im Abschnitt zu den Glottonymen aus Sicht der damaligen Linguistik die Benennungen für die ukrainische Sprache diskutiert, die zwischen poln. „ukraiński", „ruski", „małoruski" und „rusiński" schwankten (S. 197-199).
Problematisch an der Studie ist die Art und Weise, in der darin eine Sonderrolle Galiziens für die Entwicklung und Konfrontation von polnischem und ukrainischem Nationalismus konstatiert wird. Einerseits suggeriert die Autorin, zumindest indirekt, eine Gleichzeitigkeit beider Nationalismen (S. 74), obgleich die polnische nationale Identität im Gegensatz zur ukrainischen ja bereits gefestigt war, als der „Krieg mit Landkarten und Worten" in Galizien einsetzte, konnte sie doch bereits im 19. Jahrhundert an die Erste Rzeczpospolita und die „Adelsnation" anknüpfen. Andererseits verkennt der allein auf Galizien gerichtete Blick die Bedeutung anderer Abgrenzungsdiskurse für die nationalen Bedeutungs- und Wahrnehmungssysteme auf polnischer und ukrainischer Seite. So hätte eine kursorische, vergleichende Einbeziehung des polnisch-deutschen Konflikts um Oberschlesien und der „innerukrainischen" Debatte um die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur russischen Nation manche Erkenntnisse sicherlich schärfen können.
Eine weitere Schwäche der Untersuchung ist die ungleiche Gewichtung der im Hauptteil behandelten Aspekte. Überzeugend ist die Studie weitgehend in den onomastischen Fragen (Benennungen und Namen) gewidmeten Kapiteln. So zeigt Hibel anhand der Volks- und Sprachbezeichnungen nachvollziehbar auf, warum es der ukrainischen Minderheit aus verschiedenen, vor allem politischen Gründen nicht gelang, die präferierten Selbstbenennungen „naród ukraiński" bzw. „narodowość ukraińska" sowie, für die Sprache, „język ukraiński" im polnischen öffentlichen Diskursdurchzusetzen. Für die Personennamen wird deutlich, dass sich die galizischen Ukrainer in einem Spannungsfeld von prinzipiell zwei Möglichkeiten der Wiedergabe ihrer Vor- und Familiennamen bewegten, wobei der Wunsch nach Erhalt der ukrainischen Variante zwar ein „politisches Credo" (S. 235) darstellte, das sich jedoch mit der Definitionshoheit der polnischen Behörden konfrontiert sah. Mit Blick auf die Namen von Landschaften und Regionen legt Hibel dar, wie der Begriff „Ukraina" in der polnischen Publizistik der 1920er Jahre überwiegend auf die ehemaligen südöstlichen Wojewodschaften der Adelsrepublik (Kijów/Kyjiv, Bracław/Braclav, Czernihów/Černihiv) oder auf die ukrainische Sowjetrepublik bezogen wurde, ab den 1930er Jahren aber eine Ausdehnung auf Galizien erfuhr. Hingegen wurden konkurrierende (aber nicht völlig synonyme) Bezeichnungen wie „Małopolska Wschodnia", „Ruś Czerwona" oder „Ziemia Czerwińska" allmählich marginalisiert (S. 254-259). Das Kapitel zu den Toponymen (Ortsnamen, mit einer Schwerpunktlegung auf Straßennamen), das den Hauptteil der Untersuchung abschließt, ist mit 15 Seiten sehr kurz geraten und befasst sich lediglich mit dem Beispiel Lemberg etwas detaillierter, wobei zwar eine Reihe von Beispielen für Umbenennungen angeführt wird, der zeitgenössische Diskurs darüber aber ausgespart bleibt, was zu bedauern ist. Vermittelt dieser Abschnitt den Eindruck, dass der Studie hier etwas die Luft ausgeht, so ist hinsichtlich der beiden ersten Kapitel des empirischen Teils (Verwaltung, Schulwesen) unverständlich, wie sie zu dem onomastisch orientierten Gesamtkonzept passen. Die beiden Kapitel liefern im Grunde nur eine Darstellung der Sprachenpolitik und der Debatte um Sprachenpolitik in den besagten Bereichen, wie sie bereits in verschiedenen anderen Publikationen zur Minderheitenpolitik Polens nachzulesen ist. [4]
Darüber hinaus wäre an manchen Stellen eine größere Explizitheit der Ausführungen wünschenswert gewesen. So werden die theoretisch-methodischen Grundlagen der Untersuchung oft nur beiläufig in den empirischen Teil eingestreut. Eine vom konkreten Untersuchungsgegenstand Galizien unabhängige theoretische Hinführung zum Thema fehlt, abgesehen von den knappen Andeutungen des Vorworts. Auch einen klassischen Schlussteil, in dem die Befunde zusammengefasst und Desiderate für die weitere Forschung aufgezeigt werden, sucht der Leser vergeblich. An manchen Stellen wäre zudem eine kurze politisch-biographische Einordnung der jeweiligen Akteure in dem dargestellten Konflikt hilfreich gewesen.
Unabhängig davon ist Hibel mit dem besprochenen Band eine lesenswerte Studie zu wichtigen Aspekten der polnisch-ukrainischen Sprachpolitik in der Zwischenkriegszeit gelungen. Ihre Ergebnisse vervollständigen die bisherigen Forschungen zur sprachlichen Minderheitenpolitik der Zweiten Republik, die sich eher auf die Gesetzgebung und das konkrete Handeln der Eliten konzentrierten. Demgegenüber treten die oben angedeuteten Kritikpunkte und das Fehlen jeglicher Abbildungen oder Fotos (die sich gerade in Bezug auf die Lemberger Mikrotoponymie angeboten hätten) zurück. Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich aus unterschiedlichen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Perspektiven mit dem polnisch-ukrainischen Verhältnis oder mit Galizien als Kulturraum beschäftigen.
[1] Zum (nicht nur auf die Zwischenkriegszeit bezogenen) Forschungsstand bezüglich der Minderheiten in Polen vgl. Deutsches Polen-Institut: Minderheiten. Jahrbuch Polen 27 (2016). Als Überblicksdarstellung zur Zwischenkriegszeit vgl. die bereits im sozialistischen Polen erschienene Monographie von Jerzy Tomaszewski: Ojczyzna nie tylko Polaków. Mniejszości narodowe w Polsce w latach 1918-1939, Warszawa 1985; siehe zur Zwischenkriegszeit auch die Vergleichsstudie von Yoav Pelled: The Challenge of Ethnic Democracy. The State and Minority Groups in Israel, Poland and Northern Ireland, London 2013. Zur ukrainischen Minderheit in Polen: Roman Drozd, Bohdan Halczak: Dzieje Ukraińców w Polsce w latach 1921-1989, Słupsk/Zielona Góra 2010.
[2] https://homepage.univie.ac.at/michael.moser/
[3] Hibel behandelt innerhalb der genannten Benennungskategorien insbesondere: Volks- und Sprachbezeichnungen; Vor- und Familiennamen (auch Fragen der Transkription und der Polonisierung ukrainischer Personennamen, Urkundenwesen); Namen von Landschaften, Regionen, Verwaltungseinheiten; Siedlungsnamen, Namen von Straßen und Plätzen.
[4] Vgl. neben den bereits erwähnten allgemeinen Darstellungen speziell zum Bildungswesen der Ukrainer in der Zweiten Polnischen Republik u.a. Marek Syrnik: Ukraińcy w Polsce 1918-1939: oświata i szkolnictwo, Wrocław 1996.