Sammelrezension zu:
Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976),
Jonathan Bolton: Worlds of Dissent. Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism,
Andrzej Friszke: Anatomia buntu. Kuroń, Modzelewski i komandosi,
Andrzej Friszke: Czas KOR-u. Jacek Kuroń a geneza Solidarności,
Dariusz Gawin: Wielki zwrot. Ewolucja lewicy i odrodzenia idei społeczeństwa obywatelskiego,
Jan Skórzyński: Siła bezsilnych. Historia Komitetu Obrony Robotników.
Gab es ostmitteleuropäische „Dissidenz"? Neuere Arbeiten zur Ideen- und Lebenswelt unabhängiger Intellektueller in der Tschechoslowakei und Polen 1956-1981
„Ein Gespenst geht um in Osteuropa, ein Gespenst, das man im Westen ‚Dissidententum' nennt."[1] Mit diesen Worten begann Václav Havel sein berühmtes Essay über die „Moc bezmocných", die „Macht der Machtlosen" – ein Text, der in seiner ironischen Anspielung auf das Kommunistische Manifest selbst das Manifest einer politischen Bewegung war.[2] Dabei drückte Havels Eröffnungssatz sogleich das Paradox dieser Bewegung aus: Sie hatte keinen eigenen Namen – „Dissens" oder „Dissidenz" war eine westliche Fremdzuschreibung. Mehr noch: Havels Text war eine polemische Auseinandersetzung mit den elitären Konnotationen des Begriffs der „Dissidenz".
Havels Kritik an diesem Begriff bildet den Ausgangspunkt für Jonathan Boltons Studie zur Entstehung der Charta 77, dient dem Vf. aber auch als ein programmatisches Statement. Die historische Forschung zu Dissidenz und Opposition in Ostmitteleuropa, so Bolton, befinde sich in einer Sackgasse, und sein Buch soll helfen, sie dort herauszuführen. Seine Kernthese ist, dass es bei tschechoslowakischer Dissidenz nicht in erster Linie um philosophische Debatten über Menschenrechte und Widerstand im Totalitarismus ging; die Alltagsgeschichte tschechoslowakischer Intellektueller der 1970er Jahre bildet bei ihm vielmehr den Ansatzpunkt, von dem aus ihr Engagement verständlich und erklärbar wird.
Mit diesem programmatischen Anspruch wirft Worlds of Dissent grundlegende Fragen auf: Wenn sich das Engagement und politische Denken der Chartisten einzig aus ihrer lokalen Lebenswelt erklären lassen, wie sinnvoll ist es dann noch, für den gesamten „Ostblock" von „Dissidenz" zu sprechen? Hat Bolton Recht, wenn er schreibt, dass Debatten zwischen ostmitteleuropäischen Intellektuellen im Wesentlichen über westliche Übersetzer hergestellt wurden? Was bleibt also von der Dissidenz als transnationalem Phänomen, wenn sie einzig aus ihren lokalen Entstehungsbedingungen heraus zu verstehen ist?[3]
Diese Fragen bilden die inhaltliche Klammer der folgenden Besprechung. Darin möchte ich zunächst Boltons Buch diskutieren. Danach wende ich mich einer Reihe von Neuerscheinungen zur Geschichte von Dissidenz in Polen zu. Abschließend möchte ich dann Boltons Ansatz mit den Erkenntnissen der Bücher zu Dissidenz in Polen vergleichen.
Welten des Dissenses
Die historische Forschung zu Dissidenz ist in einer Sackgasse angelangt – dies ist die Ausgangsthese von Boltons Buch. Schuld daran seien drei Narrative, in denen die Geschichte von Dissidenz erzählt werde: das Helsinki-Narrativ, das Narrativ der „parallelen Polis" und das „Narrativ gewöhnlicher Menschen" („ordinary-people narrative", S. 33-38). Während das Helsinki-Narrativ die Entstehung von Dissidenz auf die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte zurückführt, interpretiert das Narrativ der „parallelen Polis" die Chartisten als Exponenten eines Zivilgesellschaftsgedankens. Das Problem des ersten Narrativs sei, so Bolton, dass es letztlich nicht erklären könne, worin die mobilisierende Kraft internationaler Menschenrechtsbestimmungen bestand, ging es doch im Denken vieler Chartisten kaum um Rechte oder Menschenwürde, sondern um Fragen von Entfremdung, Authentizität oder Wahrheit. Das Problem des zweiten Narrativs bestehe darin, dass es Wunschvorstellungen westlicher Intellektueller von demokratischer Partizipation und Bürgerengagement auf Dissidenz projiziere.
Diese beiden „heroischen" Narrative, in denen Dissidenten als mutige Träger allgemeiner Ideen vorkommen, schließen sie aus dem Narrativ „gewöhnlicher Menschen" aus. Bolton meint damit eine Alltags- und Sozialgeschichte des Staatssozialismus, die sich bewusst von dem Begriffspaar „Widerstand vs. Repression" löst, um ein Spektrum sozialer Verhaltensweisen auszuleuchten. Die Dissidenten kommen in dieser Geschichte kaum vor – sie waren schließlich keine „gewöhnlichen Menschen", sondern Helden des Widerstands. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch Dissidenten einen Alltag hatten, und nur aus diesem Alltag heraus kann man, so Boltons zentrales Anliegen, ihr Engagement verstehen.
Bolton identifiziert ein weiteres Problem: den Erfolg der Dissidenten. Völlig unerwartet gaben die kommunistischen Parteien 1989 die Macht an sie ab. Nachträglich erscheint Dissidenz damit als eine „proto-politische Partei", die das vage Ziel verfolgte, den Kommunismus zu stürzen. Dies sieht Bolton als grundlegendes Missverständnis. Wer glaube, die Dissidenten hätten auf das Ziel „1989" hingearbeitet, übersehe einen zentralen Aspekt ihrer Lebenswelt: die Angst und Unsicherheit, die sich aus der Auseinandersetzung mit einem scheinbar unveränderlichen Regime ergab. Bolton versteht Dissidenz daher nicht als politisches Programm mit einem klaren Ziel, sondern als „a form of culture, a set of common stories, a style of political behavior, or a collection of practices that had meaning in and of themselves" (S. 45).
Nach diesen grundlegenden Überlegungen zeichnet Bolton auf der Grundlage von Selbstzeugnissen in sechs Kapiteln nach, wie die Charta 77 aus der „Schattenwelt" Prager Intellektueller entstand. Die tschechoslowakische „Urkatastrophe" der 1970er Jahre war der Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten von 1968, die Erfahrung gemeinsamen Widerstands und der darauf folgenden totalen Niederlage. In Folge des Einmarsches entstand eine soziale Welt, die aufgrund selektiver Repressionen vor allem als inkongruent empfunden wurde: Menschen wurden verhört, aber nur selten verhaftet; sie verloren ihre Arbeit, behielten aber ihre bisweilen sehr bürgerlichen Wohnungen. Die Schriften der späteren Dissidenten handelten daher eher von Absurdität als von Terror, beschrieben eher eine Farce als eine Tragödie, hatten mehr von Franz Kafka als von George Orwell.
Vor diesem Hintergrund zeigt Bolton, dass die Diskussionsgruppen und Untergrundverlage, die in dieser Zeit entstanden, nicht Ausdruck einer politischen Strategie waren; in ihnen drückte sich vielmehr ein kultureller Selbstbehauptungswillen aus, der Versuch, tschechische Kultur im Alltag der „Normalisierung" zu bewahren, aber auch der Wunsch intellektueller „Selbsternährung" in einer zunehmend als absurd und steril empfundenen Wirklichkeit. Ein erster Schritt zu einer Politisierung kam mit Havels offenem Brief an Gustáv Husák, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, von 1975: Die Vernichtung von Kultur und die Repression von Intellektuellen, schrieb Havel darin, sei eine Katastrophe für die ganze Gesellschaft; ihre Bewahrung im Samisdat wurde damit zu einem politischen Akt.
Vor diesem Hintergrund wendet sich Bolton der Entstehung der Charta 77 zu, dem Dokument, mit dem sich „alles änderte" (S. 152). Zwei Aspekte seiner Darstellung sind dabei besonders hervorzuheben: Erstens zeigt er, dass der Prozess gegen Mitglieder der alternativen Musikszene – u.a. Mitglieder der Plastic People of the Universe – nicht nur äußerer Anlass für die Umsetzung einer Menschenrechtsstrategie war, sondern auch deren wesentlicher Bestandteil. Die Idee zu protestieren lag zeitlich vor der Idee, sich dabei auf die UN-Menschenrechtspakte und die Helsinki-Schlussakte zu beziehen. Erst in der Begegnung mit der alternativen Musikszene entwickelte Havel jene Konzepte, die dann prägend für seine Tätigkeit als Dissident waren. Mit ihrer Ablehnung eines kulturellen Establishments und ihrer Verweigerung explizit politischer Stellungnahmen erschienen Havel die Musiker als Exponenten einer metaphysischen Sehnsucht nach „Wahrheit" und „Authentizität" – jener Sehnsucht, die für Havel dann die Quelle der „Macht der Machtlosen" war. Zweitens unterstreicht Bolton, wie sehr Jan Patočka als einer der ersten Sprecher der Charta die Wahrnehmung und Selbstsicht der Chartisten prägte. Auch hier ging es weniger um das Einklagen formaler Rechte als vielmehr darum, die Menschen in der Tschechoslowakei auf einen metaphysischen Horizont ihres Handelns aufmerksam zu machen und sie so zu einem Streben nach Wahrheit und Authentizität zu bewegen.
Vor diesem Hintergrund versteht Bolton die zwei bekanntesten Essays aus dem Umkreis der Charta 77, Havels Macht der Machtlosen und Václav Bendas Parallele Polis[4], nicht als zeitlose Reflektion über Widerstand in Diktaturen, sondern als Debattenbeiträge. Die Ungereimtheiten in Bendas Text – wie konnte seine Polis gleichzeitig parallel und inklusiv sein? – ergaben sich aus einer Krise der Charta. Gegenüber dem elitären Etikett des „Dissidenten" insistierte Havel darauf, dass sich die Charta an alle richtete, die sich für ein Leben in Wahrheit entschieden. Bolton verweist hier nicht auf Havels bekannte Figur eines Gemüsehändlers (der dadurch zum Dissidenten wird, dass er sich weigert, propagandistische Slogans in sein Schaufenster zu stellen), sondern auf eine andere Figur aus Macht der Machtlosen: einen Bierbrauer, der einfach deshalb zum Dissidenten wurde, weil er es wagte, Probleme in seiner Brauerei auszusprechen.
Insgesamt löst Bolton seine Versprechen beeindruckend ein, die Welten des Dissenses zu vermessen und daraus die Entstehung der Charta 77 zu erklären. Neben den bisher genannten Punkten bringt sein alltagsgeschichtlicher Ansatz eine Reihe weiterer zutiefst origineller Einsichten; etwa wenn er die Produktion und Lektüre des Samisdat als eigene Form kultureller Praxis beschreibt, die herkömmliche Vorstellungen der Beziehung einer Autorin zu ihrem Werk unterlief. Da es keine Druckfahnen gab, die eine Autorin durchsehen und korrigieren konnte, blieb unklar, ob der fertige Text das Original wiedergab. Hinzu kam, dass sich beim vielfachen Abtippen der Texte unweigerlich Fehler einschlichen, die dann aber nur in manchen Ausgaben handschriftlich korrigiert wurden. Auch die Tatsache, dass viele Samizdat-Ausgaben nicht gebunden und damit unveränderlich, sondern als zusammengeheftete Blätter in Umlauf kamen, erweckte den Eindruck, dass es sich um ein unfertiges Werk handelte. Bemerkenswert ist auch, dass Bolton, obwohl er sich von dem Begriffspaar „Widerstand vs. Repression" löst, sehr klar benennt, auf welch perfide Weise das Regime versuchte, Abweichler zu zermürben.
Neben dem Fehlen eines Quellen- und Literaturverzeichnisses stört an Boltons Buch einzig der unbedingte Wille, sich von den oben genannten drei Narrativen abzugrenzen. Bisweilen mutet das wie wissenschaftliches Schattenboxen an, sind die von ihm kritisierten Positionen doch unter Historikern eher selten anzutreffen. Wenngleich vorbildhaft, ist Boltons Buch doch nur einer von mehreren Beiträgen zu einer Forschungsrichtung, die die von ihm konstatierte Sackgasse schon lange verlassen hat.
Insgesamt jedoch legt Bolton mit Worlds of Dissent eine glänzend geschriebene Studie vor, die aufzeigt, auf welche Aspekte sich eine Historisierung von Dissidenz konzentrieren muss: nicht internationale Abkommen, sondern die alltäglichen Erfahrungen, spezifischen Deutungsmuster und sozialen Dynamiken, in denen sich nonkonforme Intellektuelle Menschenrechtsideen aneigneten; nicht „1989", sondern die 1970er Jahre.
Doch was bleibt von „Dissidenz" als einem Phänomen, das es eben nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in der UdSSR und Polen gab? Gesteht Bolton nicht selbst zu, dass Samisdat ein russischer Import war? Und auch wenn die Menschenrechte nicht der eigentliche Antrieb für Dissidenz waren, so standen sie doch im Zentrum der Tätigkeit der Chartisten. Der Name „Charta 77" wurde schließlich gewählt, weil 1977 die erste KSZE-Nachfolgekonferenz stattfand und Amnesty International ein internationales Jahr des politischen Gefangenen ausgerufen hatte. Mit welchen transnationalen und transkulturellen Welten waren die „Welten des Dissenses" also verflochten? Diese Fragen führen zur Dissidenz in Polen.
Von den „Kommandotruppen" zum KOR: Dissidenz im Polen der 1960er und 1970er Jahre
Keine der zu besprechenden Studien zur Dissidenz in Polen erhebt einen ähnlichen programmatischen Anspruch wie Worlds of Dissent; ihre generelle Stoßrichtung gleicht jedoch der Boltons. Alle rekonstruieren die Entstehung einer polnischen Oppositionsbewegung überwiegend oder sogar ausschließlich aus lokalen Dynamiken. Sie konzentrieren sich dabei alle auf jenes Warschauer Milieu von Linksintellektuellen, deren bekannteste Vertreter Leszek Kołakowski, Jacek Kuroń und Adam Michnik sind; insbesondere zeichnen sie eine Entwicklung nach, in der sich diese Intellektuellen von Anhängern eines polnischen Weges zum Sozialismus nach 1956 zu internen Kritikern der Volksrepublik und schließlich zu Gegnern des realsozialistischen Systems im Namen von Menschenrechten und gesellschaftlicher Selbstorganisation wandelten.
Mit insgesamt fast 1500 Seiten stechen Andrzej Friszkes zwei Bände als die mit Abstand umfangreichsten Bücher heraus. Sie beruhen auf jahrelangen peniblen Forschungen in den Archiven des polnischen Sicherheitsdienstes (Służba Bezpieczeństwa, SB) und sind Teil einer mehrbändigen Studie, die bis in die 1990er Jahre fortgeschrieben werden soll. Friszkes Ansatz ist dabei der eines Chronisten; seine Bücher verfolgen keine klare Fragestellung, sondern bieten detaillierte Ereignisgeschichte.
Auch Jan Skórzyński und Dariusz Gawin haben eine deskriptive Darstellungsform gewählt, gehen dabei aber pointierter und stärker analytisch vor als Friszke. Skórzyński bearbeitet im Wesentlichen den gleichen Zeitraum wie Friszke; wie der Untertitel des Buchs aber bereits anzeigt, konzentriert er sich überwiegend auf die Geschichte des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR), einer Oppositionsorganisation, die von den Vertretern des angesprochenen linken Warschauer Millieus dominiert wurde. Aufgrund seiner gerafften und systematischeren Darstellung bietet Skórzyńskis Buch weniger Details als Friszke, liest sich aber leichter und zieht auch Gruppen außerhalb Warschaus in die Darstellung mit ein. Wie auch Friszke stützt sich Skórzyński stark auf die Überlieferung des Sicherheitsdienstes.
Gawins Buch ist demgegenüber eine Ideengeschichte des Warschauer Milieus, insbesondere von Kołakowski, Kuroń und Michnik. Der wielki zwrot (große Wende), um den es Gawin geht, ist die Abkehr dieser Intellektuellen vom Marxismus und ihre Hinwendung zu politischer Demokratie, individuellen Rechten und gesellschaftlicher Selbstorganisation einerseits sowie zu Christentum und nationalen Traditionen andererseits. Im Untertitel seines Buches und in einer knapp gehaltenen Einleitung interpretiert Gawin diese Entwicklung als Wiedergeburt der Zivilgesellschaft. Diese These wird dann aber nicht systematisch entwickelt und belegt. Vielmehr bietet er eine Ideengeschichte der polnischen Linken zwischen polnischem Oktober und Entstehung des KOR.
Ein Manko aller vier Bände ist ihr überwiegend deskriptiver, kaum problemorientierter Zugang. Die leitenden Fragen Boltons – Wie wird man eigentlich Dissident? Wieso entscheidet man sich, trotz aller Risiken, Widerstand zu leisten? – werden eher implizit beantwortet. Wer jedoch quellengesättigte Darstellungen der Entstehung von Dissidenz in Polen sucht, wird in diesen drei sich wechselseitig ergänzenden Studien fündig. Das große Verdienst Friszkes liegt insbesondere darin, enorme Materialmengen gesichtet und in einem Narrativ zusammengetragen zu haben. Wenn es um die Ereignisgeschichte der polnischen Opposition geht, wird sich jede zukünftige Darstellung am Erkenntnisstand von Friszkes Büchern messen lassen müssen. Fraglich bleibt dabei aber, wer (außer Rezensenten) die zwei Bände wirklich von vorne bis hinten durchlesen wird. Zu groß ist bisweilen die Detailfülle, die Friszke präsentiert, zu diffus die Fragestellung, die dieses Material geordnet und eingeschränkt hätte. Friszkes Arbeiten bieten daher vor allem einen „Steinbruch" von enormem Wert, der die Grundlage für eine stärker analytisch vorgehende Geschichtsschreibung bilden kann.
Die Arbeiten von Gawin und Skórzyński bieten demgegenüber überaus informative, gut geschriebene und lesbare Darstellungen, die sich aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen trefflich ergänzen. Erwähnenswert ist hier vielleicht auch, dass Gawin nicht nur Soziologe und Ideenhistoriker, sondern auch ein public intellectual mit prononciert konservativen Ansichten ist. Daher fällt besonders positiv auf, wie wohltuend unpolemisch und ausgewogen er die intellektuelle Entwicklung polnischer Linker und ihre zentrale historische Rolle herausarbeitet. Die Maßstäbe, die Friszke und Skórzyński für die Ereignisgeschichte setzen, stellt Gawin für die programmatische Entwicklung polnischer Dissidenz auf.
Agnes Arndts mit 290 Seiten vergleichsweise schlankes Buch liest sich fast wie eine kondensierte Fassung der drei anderen. Klar strukturiert, wohltuend konzise und theoretisch reflektiert behandelt sie das Warschauer Milieu späterer Dissidenten in vier Kapiteln. Im ersten Kapitel geht es um Sozialisierung, Milieubindung sowie geschlecherhistorische Aspekte. Dabei stellt sie insbesondere den hohen Wert dar, den Bildung in den entsprechenden Kreisen gehabt hat, und skizziert die privilegierte soziale Stellung, die ihre Mitglieder als sozialistische Funktionseliten innehatten. Gleichzeitig zeigt sie aber auch Grenzen der bildungsbürgerlichen Integration auf, die sich besonders aus fortdauernden Assimilationsschwellen für Mitglieder einer inteligencja ergaben, die überwiegend einen jüdischen Hintergrund hatte.
Im zweiten Kapitel fragt Arndt, worin das spezifisch Linke der Kommunismuskritik der Warschauer Dissidenten bestand, insbesondere angesichts der späteren Hinwendung zu Menschenrechten, Christentum und Nation. Dabei zeigt sie, dass der linke politische Hintergrund der Dissidenten bei ihrem Gebrauch dieser drei Begriffe durchschimmerte: Menschenrechte sollten politische Partizipation, Solidarität und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ermöglichen; das Christentum wurde als transzendente Quelle linker Wertvorstellungen wie Solidarität und Toleranz verstanden; und polnische Tradition wurde als Fundus einer libertären Kultur des Widerstands und der Solidarität mit Unterdrückten rezipiert. Im dritten Kapitel stellt Arndt transnationale Verflechtungen dar. Hier zeigt sie einerseits die bedeutende Rolle auf, die Emigrationsmilieus für die polnischen Dissidenten spielten; zum anderen diskutiert sie die oft von Missverständnissen und Konflikten geprägte Kommunikation mit der westlichen Linken. Im vierten Kapitel fasst Arndt ihre Beobachtungen zusammen und ordnet sie vergleichend ein.
Neben dieser klaren Strukturierung ist ein weiterer Vorzug, dass Arndt (als einzige Autorin neben Bolton) Mut zu klarer Thesenbildung beweist. Wieso, fragt sie, kam ausgerechnet dieser Gruppe linker Warschauer Intellektueller eine Schlüsselrolle im Systemwandel zu? Ihre These ist, dass es sich bei dem Warschauer Milieu um eine realsozialistische Variante bildungsbürgerlicher Schichten, um „Rote Bürger", gehandelt habe. In der Milieubindung und dem Lebensstil dieser Schicht habe sich ein Protestpotenzial entwickelt, auf das die spätere Opposition zurückgreifen konnte.
Diese These ist durchaus bedenkenswert, unterläuft sie doch gängige Erklärungsmuster. Um sie zu verifizieren, legt Arndt erstaunliche Parallelen zwischen der Stellung des Warschauer Milieus in den 1950er und 1960er Jahren und Charakteristika eines westlichen Bildungsbürgertums offen: die Wertschätzung akademischer Bildung, eine privilegierte soziale Stellung, Einbindung in den Staat. Dass darin jedoch die Fortführung bildungsbürgerlicher Traditionen gesehen werden kann, erscheint eher unplausibel. Die Eltern der Dissidenten waren in der Zwischenkriegszeit überwiegend kommunistische Aktivisten gewesen oder hatten dem linken Flügel der sozialistischen Partei angehört; viele waren Juden. Ihr Alltag war daher eher von antisemitischer Diskriminierung und später politischer Verfolgung als von einem bildungsbürgerlichen Lebensstil geprägt. Diese gemeinsame Vergangenheit sowie vor allem die Erfahrung, Überlebende des Holocausts zu sein, dürfte für ihren Zusammenhalt nach 1945 wichtiger gewesen sein als bildungsbürgerliche Traditionen.
Es ist auch wenig plausibel, von kulturellen Distinktionsmechanismen zu sprechen, die „durch die Wahl entsprechender Kindergärten, Schulen und Universitäten […] über Generationen hinweg wirken" konnten (S. 219). Richtig ist, dass die späteren Dissidenten in den 1950er und 1960er Jahren Zugang zu privilegierten Bildungsinstitutionen hatten. Diese herausgehobene Stellung begann jedoch erst mit der Gründung der Volksrepublik, und sie endete abrupt 1968. Die Mitglieder des Warschauer Milieus gingen in den 1970er Jahren in die Emigration oder wurden eben zu Dissidenten – zu politisch Ausgestoßenen, die einen Lebensstil grundlegender Opposition zu einem nun als „totalitär" bezeichneten Staat pflegten. Die erworbene Bildung war sicher ein kulturelles Kapital, ohne das es polnische Dissidenz nicht gegeben hätte; ein Beleg für die Existenz einer bildungsbürgerlichen Schicht ist es nicht.
Dass die Mitglieder des Warschauer Milieus sich durch ihren Lebensstil bewusst von der Arbeiterklasse abgegrenzt hätten, scheint angesichts ihres politischen Hintergrunds und ihrer Parteizugehörigkeit fragwürdig. Sicher waren diese Kreise elitär; bis Ende der 1960er Jahre waren sie aber auch Marxisten, Anhänger einer Ideologie, in deren Zentrum die Arbeiterklasse stand. Als sich die polnischen Dissidenten nach 1976 mit Arbeitern solidarisierten, überwanden sie nicht – wie Arndt suggeriert – einen bildungsbürgerlichen Traditionsbestand; sie griffen auf einen sozialistischen Traditionsbestand zurück.
So mutig und in Teilen auch durchaus interessant Arndts These von den „Roten Bürgern" auch ist, droht sie doch, den Dissidenten einen Begriff überzustülpen, der ihrer Lebens- und Gedankenwelt fremd war. In ihrer Zusammenfassung schreibt Arndt, dass sich in der Gründung der Bürgerkomitees (komitety obywatelskie) Ende der 1980er Jahre zeige, dass „auch im Staatssozialismus jene Bedeutungsschichten des Bürgerbegriffs [überdauerten], die auf eine mit Bürgerrechten ausgestattete Bürgerschaft abzielen, während jene Wortschichten, die eine ständisch exklusive Sozialformation […] kennzeichneten, jedenfalls semantisch an Bedeutung verloren" (S. 222). Nun hat der polnische Begriff „obywatel" aber nicht die Doppelbedeutung des deutschen Begriffs „Bürger". Die „obywatele" sind die gleichberechtigen Mitglieder eines politischen Gemeinwesens; für den Bürger als Mitglied einer „ständisch exklusiven Sozialformation" gibt es im Polnischen keinen Begriff – am nächsten kommt ihm „mieszczanin". Niemand wäre in Polen jedoch auf die Idee gekommen, „komitety mieszczańskie" zu gründen. Vielleicht erklärt sich der Bedeutungszuwachs des Begriffs „obywatel" mit dem Bedeutungszuwachs der Menschen- und Bürgerrechte (prawa człowieka i obywatela); ein bildungsbürgerlicher Traditionsbestand drückt sich darin nicht aus.
Trotz allem Zweifel an der These von den „roten Bürgern" sei nochmals betont, dass Arndt ein sehr lesenswertes Buch vorlegt, in dem sie jenen systematischen Blick auf die sozialen Hintergründe und Wertvorstellungen von Dissidenz einnimmt, den die anderen Autoren ihren Leser/inne/n überlassen.
Gab es Dissidenz?
Was bleibt nun von Dissidenz als transnationalem Phänomen? Handelte es sich hierbei um national unterschiedliche Protestformen, die nur im Blick westlicher Beobachter als ein zusammenhängendes Phänomen erschienen? Vergleicht man Worlds of Dissent mit den Erkenntnissen der Bücher zu Polen, dann zeigen sich zunächst erhebliche Unterschiede. Im Vergleich zur Charta 77 fällt z.B. auf, dass in Polen schon früher explizit politische Positionen gegen das System bezogen wurden. Bereits Anfang der 1970er Jahre entwickelte Kuroń Ideen einer grundlegenden Umgestaltung des politischen Systems durch soziale Bewegungen; gegen Ende des Jahrzehnts hatte sich polnische Dissidenz schon von einer reinen Verteidigung von Menschenrechten zu einer klarer politischen Opposition gewandelt (Friszke, Czas, S. 428). Ein weiterer großer Unterschied zur tschechoslowakischen Situation war, dass mit der Emigrationszeitschrift Kultura sowie den Klubs der Katholischen Intelligenz Periodika und Diskussionsforen bereit standen, in denen sich unabhängiges politisches Denken in gewissen Bahnen entwickeln konnte. Durch den entstehenden Dialog zwischen linken und (links-)katholischen Intellektuellen sowie die Rolle der römisch-katholischen Kirche in Polen hatte die dortige Dissidentenbewegung einen viel expliziter christlichen Zungenschlag als in der ČSSR.
Gleichzeitig lassen sich zwischen den beiden Ausprägungen von Dissidenz auch erhebliche Ähnlichkeiten feststellen. Auch bei den polnischen Intellektuellen verzerrt der Blick auf „1989" mehr als er erhellt. Es frappieren vielmehr die beständigen biografischen Brüche und politischen Niederlagen, die insbesondere Kurońs Lebensweg charakterisierten: die enttäuschten Hoffnungen auf einen polnischen Weg zum Sozialismus nach 1956, die erste Gefängnishaft nach dem offenen Brief 1964, die Unterdrückung der Studentenproteste von 1968 unter antisemitischen Vorzeichen und die zweite Haftzeit sowie schließlich die 1970er Jahre, die Kuroń arbeitslos und unter ständiger Beobachtung des SB verbrachte. Parallel zu Boltons Beobachtungen zum Samisdat als kultureller Praxis arbeitet Skórzyński den totalen Verlust an Privatsphäre in einem „abgehörten Leben" heraus (Skórzyński, S. 311-334). Entgegen polnischen Selbstbildern zeigt sich weiter, dass Kuroń anfangs deutlich ängstlicher war als die Prager Intellektuellen; erst 1976 wagte er den Schritt, Samisdat zu produzieren.
Eine weitere Parallele zur Situation in der Tschechoslowakei ist die Tatsache, dass 1968 ein Schlüsseljahr war. Trotz aller Kritik an den politischen Zuständen im Polen Władysław Gomułkas sahen die Warschauer Studenten um Michnik die Volksrepublik als ihren Staat an. Die Repressionen von 1968 waren daher, wie Gawin richtig schreibt, ein Trauma; sie zerstörten jenes Gefühl von Sicherheit, das sie als Kinder des Warschauer Establishments hatten. Indem das Regime den jüdischen Hintergrund der Studenten und ihrer Eltern zum Aufhänger einer öffentlichen Diffamierungskampagne machte, diskreditierte es sich in ihren Augen vollständig. Die Repressionen von 1968 zerstörten eine Lebenswelt.
Auch die polnischen Diskussionen der frühen 1970er Jahre waren also – trotz Kurońs Plänen der Organisation breiter sozialer Bewegungen – eher eine Zeit intellektueller Selbstbehauptung als Ausdruck einer politischen Strategie. Kuroń selbst sprach rückblickend von einer „Konspiration mit dem Ziel, gemeinsam nichts zu tun" (Skórzyński, S. 32). Die Rolle, die Havels offener Brief von 1975 für die Prager Intellektuellen spielte, wurde in Polen von Leszek Kołakowskis Tezy o nadzieji i beznadziejności (Thesen über Hoffnung und Hoffnungslosigkeit) (1971) und Sprawa polska (Die polnische Frage) (1973) übernommen (Gawin, S. 310-323). Dabei fällt außerdem eine Übereinstimmung in Analyse und Begrifflichkeit auf. Ähnlich wie später Havel argumentierte auch Kołakowski, dass die Macht des Systems auf seiner Fähigkeit beruhte, Menschen zur Teilhabe an einem Diskurs zu zwingen, der von offensichtlichen Lügen durchsetzt war. Kołakowskis „Leben in Würde" nahm Havels „Leben in Wahrheit" vorweg; letzterer Begriff fand sich im Übrigen, unter Bezugnahme auf Kołakowski und Aleksandr Solženicyn, schon vor der Veröffentlichung der Macht der Machtlosen in Michniks Essay Kościół – lewica – dialog[5].
Damit sind wir bei möglichen Verbindungen zwischen den Dissidentenbewegungen angelangt. Zunächst fällt hier auf, dass Arndt, Bolton und Gawin keine derartigen Wechselwirkungen feststellen; Dissidenz war daher nicht in dem Sinn ein transnationales Phänomen, dass Menschen in unterschiedlichen Ländern ein Programm gemeinsam entwickelt oder sogar koordiniert umgesetzt hätten. In diesem Kontext zeigt sich aber nun der Wert von Friszkes und Skórzyńskis penibler Durchsicht der Akten des Sicherheitsdienstes. Denn trotz aller Probleme fangen diese Quellen doch die „Begleitmusik" der Diskussionen der 1970er Jahre ein – jene Themen, die alle beschäftigten und diskutierten, aber vielleicht gerade deshalb nicht in Texten extra erwähnt wurden. Zumindest im polnischen Fall gehörte hierzu der enorme Eindruck, den die sowjetische Menschenrechtsbewegung auf die Polen machte; während die Schlussakte von Helsinki zunächst negativ wahrgenommen wurde, elektrisierte die Nachricht vom Friedensnobelpreis für Andrej Sacharov das Warschauer Milieu (Skórzyński, S. 33, 58 f.; Friszke, Czas, S. 79, 81).
Auch die Ereignisse in der Tschechoslowakei wurden in Polen wahrgenommen. Anfang 1977 hatte man bereits seit einiger Zeit über die Gründung eines Menschenrechtskomitees oder einer polnischen Sektion von Amnesty International diskutiert; die Charta 77 wurde als Vorbild wahrgenommen (Friszke, Czas, S. 172, 176). Und auch wenn die direkten Kontakte zwischen KOR und Charta 77 im Sommer und Herbst 1978 nur punktuelle Ereignisse waren, ist doch bemerkenswert, dass die Idee für Havels Macht der Machtlosen auf eines dieser Treffen zurückgeht und der Text fast gleichzeitig im tschechoslowakischen und polnischen Samisdat erschien (Arndt, S. 226; Friszke, Czas, S. 312, 426).
Dissidenz, so scheint es, war nur punktuell eine transnationale Aktionsgemeinschaft, z.B. als das KOR einen gemeinsamen Hungerstreik mit tschechoslowakischen Dissidenten abhielt, um gegen die Verhaftung von Havel und anderen zu protestieren (Friszke, Czas, S. 427-433). Durchgängig aber war Dissidenz eine transnationale Verstehensgemeinschaft – aufgrund ähnlicher Lebenswelten, wechselseitiger Wahrnehmungen und dem Wandern von Ideen und Texten entwickelten Intellektuelle in Moskau, Warschau und Prag gemeinsame Vorstellungen vom Leben und Widerstand in „totalitären" Systemen.
Dies führt schließlich zu den Menschenrechten. Alle besprochenen Arbeiten relativieren deutlich die Rolle der KSZE-Schlussakte als Impuls für die Entstehung von Dissidenz – zuerst kam der Entschluss, Dissens zum Regime öffentlich zu machen, und dann erst der Bezug auf die Schlussakte (Skórzyński, S. 61 ff.). In Polen war die Hinwendung zu Menschenrechten eine Frucht des christlich-laikalen Dialogs der frühen 1970er Jahre (Gawin, S. 218 ff.); in der Tschechoslowakei war sie eng mit dem Streben nach einer Authentizität menschlichen Lebens verknüpft. Gleichwohl unterstreichen alle Arbeiten aber auch, wie wichtig Menschenrechte und internationale Abkommen für Dissidenz waren. Ein alltagsgeschichtlicher Blick auf Dissidenz ist somit kein Gegenentwurf zu einem transnationalen Ansatz; beide sind Teil des gleichen Projekts.
[1] Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen, Köln 1980, S. 45.
[2] Die Übertragung des Titels als „Macht der Ohnmächtigen" ist zwar literarisch ansprechend, sie geht aber m.E. an der Ursprungsbedeutung vorbei – der Kerngedanke von Havels Essay ist ja gerade, dass Menschen ohne politische Macht eben nicht ohnmächtig sind.
[3] Zu transnationalen Perspektiven auf Dissens und Opposition vergleiche die Beiträge zu Friederike Kind-Kovács, Jessie Labov (Hrsg.): Samizdat, Tamizdat, and Beyond. Transnational Media during and after Socialism, New York 2013; Robert Brier (Hrsg.): Entangled Protest. Transnational Perspectives on the History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union, Osnabrück 2013.
[4] VÁCLAV BENDA: Paralelní polis [Parallele Polis], in: VILÉM PREČAN (Hrsg.): Charta 77 – 1977-1989. Od morálni k demokratické revoluci, Scheinfeld u.a. 1990, S. 43-51.
[5] ADAM MICHNIK: Koṡciół, lewica, dialog [Die Kirche, die Linke, der Dialog], Paris 1977, S. 88; vgl. ALEKSANDR SOLŽENICYN: Offener Brief an die sowjetische Führung, Darmstadt 1980.
Diese Rezension erschien zuerst in Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) H. 3.